Der Enkel und sein Großvater aus dem Gefängnis

Frankie heißt der neue Roman von Michael Köhlmeier. Frank Thaler ist ein vierzehnjähriger Teenager, dessen Großvater nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Was als ungewöhnliche Situation für ihn beginnt, endet in einem Roadtrip der anderen Art. Eine Roadmovie-ähnliche Story mit Coming-of-Age-Elementen über den Ausbruch aus der Normalität.

Von Luis Pintak

Bild: Via Pixabay, CC0

Es gibt so manche Geschichte mit Kindern oder Jugendlichen, die ein eher ödes Leben führen, bis etwas Einschneidendes, oft Kriminelles passiert, das ihr Leben verändert. Eingeengt in der alltäglichen, dörflichen Gesellschaft, tötet der junge Antoine in Pierre Lemaitres Drei Tage und ein Leben den kleinen Nachbarsjungen Remy in einem Wutanfall. In Cornelia Franz‘ Ins Nordlicht blicken entflieht der junge Grönländer Pakku seinem trostlosen Leben und erschlägt dabei einen anderen in Verzweiflung, dessen Identität er schließlich annimmt. So ist auch das Leben des Protagonisten und Ich-Erzählers Frank Thaler in Frankie völlig unspektakulär.

Alltagsleben in Wien, keine besonderen Vorkommnisse

Er lebt gemeinsam mit seiner Mutter in einer eher kleinen Wohnung in Wien. Sie ist Schneiderin. Er (fast) vierzehn, hat wohl nicht ganz so viele Freund:innen. Zumindest erzählt er nicht viel über sie. Frank und seine Mutter ergänzen sich gegenseitig, schauen am Sonntagabend den Tatort auf ORF1 und ansonsten Tierfilme oder Shows. Frank kocht einmal die Woche, damit er das später einmal als Erwachsener kann. Meistens Spaghetti, versteht sich. Der Vater: zwar da, aber nicht mehr mit der Mutter zusammen. Er hat jetzt eine Freundin. Frank interessiert sich jedoch nicht wirklich für seinen Vater.

Alles wirkt wie ein stinknormales Leben einer mittelständischen Familie aus Mutter und Sohn. Selbst Wien wirkt so normal, als wäre es keine Großstadt. Man fährt eben mit der U-Bahn und geht zur Schule. Frank bezeichnet seine Mutter als Garderoberin, obwohl sie »nur« Schneiderin in der Volksoper Wien ist. Auch wenn sie manchmal für eine Sopranistin zuständig ist. Alles ist herrlich unaufgeregt. Wäre da nicht dieser eine Opa, der nun nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Im Gegensatz zu seinem Enkel ist der Opa eine Art Haudegen, wie man sie sich vorstellt, wenn sie aus dem »Knast« entlassen werden. Allerdings ist er auch nicht der Knastbruder mit elektronischer Fußfessel, der jedem Schläge androht. Jedenfalls nicht immer. Okay, doch, ein bisschen. Und der Draufgänger muss sich auch bei seinem Sozialhelfer melden.

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Michael Köhlmeier
Frankie

Hanser: München 2023
208 Seiten, 24,00€

Der Opa aus dem Gefängnis – eine Wendung?

»Mit dem Fragen ist es so eine Sache. Eigentlich müsste ich, wenn ich über ihn schreibe und ihn etwas fragen lasse, kein Fragezeichen setzen, sondern ein Rufzeichen.
›Darf ich noch von dem Gulasch haben!‹ Oder: ›Darf ich mir noch ein Bier nehmen!‹
›Hast du Kandiszucker!‹ Immer Rufzeichen. Das muss er sich abgewöhnen, denke ich. So kommt er draußen nicht weit.«
 

So beschreibt Frank die Ausdrucksweise seines Opas an einer Stelle. Frank übt sich als Ich-Erzähler in knappen Sätzen, mit schöner Umgangssprache und süddeutsch-österreichischem Einschlag gefärbt (»Derweil Mama beim Bahnhof wartete« oder »Hast du noch ein Plastiksackerl für mich?«). Er läuft durch sein alltäglich-normales Leben, doch der Mann aus dem Knast bringt seinen Alltag durcheinander: Immer wieder taucht er auf, sowohl bei ihm zu Hause als auch bei der Schule. Das Verhältnis ist von Anspannung geprägt. Exemplarisch ist besonders eine Szene in einem Handyladen, in dem der griesgrämige Opa ein mobiles Endgerät bekommen soll. Ein Handy war ihm im Gefängnis verwehrt geblieben.

»Nun hörte er auf, in Achtern zu gehen. Mitten im Laden blieb er stehen. Ich habe verabsäumt, ihn anzusehen. Das war ein Fehler. Mein Benehmen war ein Fehler. Es hat mir Freude gemacht, überlegen zu sein. Einer aus der Welt. Gegen einen von außerhalb. Ein Alien. Ich hätte in seinen Augen lesen sollen.«  

Später schlägt sein Opa Frank zusammen. An anderer Stelle rasiert ihn sein Opa wiederum, führt Frank ins Erwachsenenleben ein, wie es scheint. Man muss dazu sagen, dass Frank von seinem Opa »Frankie« genannt wird, obwohl er das eigentlich nicht mag. Sein Opa tut es trotzdem. Es ist ein ständiges Spiel mit dem eigenen Status, in dem sich stets eine Spannung zwischen den beiden unterschiedlichen Generationen zeigt. Oft endet es in hitzigen Auseinandersetzungen.

Köhlmeier lässt die Hintergründe des Opas weitgehend im Dunklen. Man erfährt nicht, warum genau er gesessen hat. Franks Mutter jedenfalls scheint mit dieser Vergangenheit abgeschlossen zu haben und erzählt eher nichts. Sie meint, Frank müsse es vom Opa erfahren. Zumindest erzählt sie, dass er Ferdinand heiße. Eigentlich interessiert sich Frank auch gar nicht dafür, warum sein Opa im Gefängnis gelandet ist, weil er sich nicht wohl dabei fühlt. Es kann ja nur Mord sein. An einer Stelle tischt ihm der Opa sogar eine recht plausible Geschichte über den von der nach Spannung und Abenteuer lechzenden Gesellschaft erträumten Raubüberfall auf. Ein wenig zu plausibel jedoch – laut Frankie hat sein Opa sich die Story ausgedacht. An anderer Stelle wiederum beantwortet er Frank die Frage nach dem »Warum« in einem längeren Monolog mit »Wir tun. Fertig.« Anders gesagt: Es ist manchmal einfach so, wie es ist.

Ständige Spannung: Aufbegehren auf die andere Art

Franks Opa ist ein Schlitzohr-Opa, der eine magische Anziehung auf den Enkel ausübt. Oder doch nicht? Das ist der große Streich, den Köhlmeier den Leser:innen in seinem Roman spielt. Man rätselt und rätselt, aber eigentlich ist da nicht viel zu lösen. Vielleicht ist es einfach so, wie es ist – oder eben nicht. Ist Frankie von seinem Opa fasziniert oder ist er es nicht? Sucht er Abenteuer oder tut er es nicht? Auf der einen Seite erscheint Frank abgestoßen von der harten Art seines Opas. Auf der anderen Seite wirkt es, als erschleiche ihn der Drang nach dem Erleben und dem, was gesellschaftlich als kriminell erachtet wird. Eigentlich will Frank dem Opa die Haustür nicht öffnen, tut es dann doch. Als der Opa nach einem nächtlichen Besuch bei Frank gehen will, fragt dieser, ob er ihn begleiten könnte. Später will Frank wieder nach Hause. Enkel und Großvater ähneln sich offenbar in ihren spontanen Entscheidungen, die sie treffen und die einem ständigen On-Off gleichen. Vielleicht war die Spontaneität auch der Grund, der den Opa ins Gefängnis brachte. Frank jedenfalls begehrt durch sein Verhalten auf: Er ist durchaus kein Langweiler. Immer wieder lässt er sich auf den Großvater ein, auch trotz oder gerade wegen den Reibereien. Frank bricht aus seinem Alltag aus.

Seine Durchschnittlichkeit und Normalität sind es wiederum, durch die Frank die Gefühle von wohl vielen Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenwerden anspricht. Die schmale Gratwanderung zwischen Alltäglichkeit und Bedrohlichkeit, zwischen Anstand und Wagnis gelingt Köhlmeier teuflisch gut – und dabei immer hübsch gemächlich. Da mag man dann doch hoffen, keinen Opa in der Familie zu haben, der auch nach Haftentlassung noch einen Hang zur Kriminalität hat. Denn: Plötzlich sitzen Enkel und Opa nachts in einem gestohlenen Wagen und machen einen Roadtrip samt Pistole im Handschuhfach. Die Handlung spitzt sich zu.

»›Sag das nicht noch einmal, Frankie! Es genügt jetzt!‹
›Arschloch!‹, schrie ich. ›Wie soll man zu einem Arschloch anders sagen als Arschloch!‹
  Da sprang er vor, packte mich an den Schultern und gab mir einen Stoß, und ich krachte mit dem Rücken gegen das Auto und meinte, das Kreuz ist mir gebrochen.«  

Michael Köhlmeier gelingt ein kurzweiliger, unterhaltsamer Roman für zwischendurch. Frankie fasziniert durch die Komplexität des Katz-und-Maus-Spiels zwischen Frank und seinem Opa. Doch ist Kriminalität nicht das einzige bedeutsame Thema des Romans. Denn gerade durch die Rolle des Enkels Frank in seinem fast ereignislosen Alltag trifft der Roman das bekannte Gefühl von Jugendlichen. Jugendliche, die sich in einem Alltag zwischen Aufbegehren und Erwachsenwerden befinden.

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