Die Magie der Kurzsichtigkeit

Dagmar Leupold gibt in Dagegen die Elefanten! einem einsamen Garderobier die große Bühne. Steckt darin etwas vom Balkon-Applaus für systemrelevante Berufe? Oder ist der kurzsichtige Sonderling vielmehr der Prototyp eines Dichters? Darüber plauderte sie beim Göttinger Literaturherbst mit Christoph Schröder.

Von Carl Ohlms

Bild: Carl Ohlms

Auf der Bühne im Alten Rathaus strahlen die Scheinwerfer derart hell, dass Dagmar Leupold zu Beginn ihrer Lesung beim Göttinger Literaturherbst scherzt, in diesem Licht brauche sie keine Brille zum Lesen. Nicht das letzte Mal, dass es an diesem Abend um das Sehen, das Übersehen und Sehschwächen geht. Herr Harald, die Hauptfigur ihres Romans Dagegen die Elefanten!, der in diesem Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, ist kurzsichtig, sieht am besten aus der Nähe. Sein poetischer Blick für das scheinbar Banale, die feinen Unterschiede und die kleinen Dinge des Alltags ist das zentrale Gestaltungsprinzip des Romans. Das Buch öffne kleine Türchen, hinter denen sich viel verberge, wie Leupolds Gesprächspartner an diesem Abend, der Kritiker und Autor Christoph Schröder, sagt.

Schröder eröffnet dann auch passenderweise das Gespräch mit dem Bertolt-Brecht-Zitat: »Die im Dunkeln sieht man nicht. « Er ist sichtlich angetan vom Roman, bezeichnet zu Beginn den Protagonisten Herrn Harald als eine der »wunderbarsten Figuren in diesem Jahr«. Als er Leupold bittet, den Inhalt zusammenzufassen, erwidert sie, ob er das nicht tun wolle. Er benutzt das Wort »Garderobier« (als solcher arbeitet Herr Harald). Leupold schmunzelt. Jetzt könne sie übernehmen, nur dieses Wort habe sie von Schröder hören wollen. Ein Garderobier also. Die Garderobe in der Oper, Balkon links, sei sein »Herrschaftsbereich«. Der Roman drehe die Bühne um, schlägt Schröder vor und Leupold pflichtet ihm bei: Das oft Übersehene, Subalterne, Randständige – all das, was eigentlich im Dunkeln liegt – steht im Mittelpunkt.

Zeitgeistiges und Zeitloses

Schröder will den Roman in aktuelle Diskurse einbinden, wirft etliche zeitaktuelle Phänomene ins Gespräch, um dem Buch seine zeitliche Signatur entlocken. Er will wissen, ob Herr Harald eine »woke« Figur sei, ob er Klassenbewusstsein habe, ob die Einsamkeit Herrn Haralds eine Abbildung der Vereinzelung in der Corona-Zeit sei, ob im Fokus auf gesellschaftliche Außenseiter so etwas wie das Klatschen vom Balkon für die systemrelevanten Berufsgruppen stecke. Leupold gibt zwar zu, dass Corona »seine Spuren hinterlassen« habe, betont aber deutlich, dass es kein Corona-Roman sei. Ihr Roman sei nicht »trendy«, wie sie sagt. Sie lässt Schröders bisweilen recht durchsichtige Versuche, den Roman mit der Gegenwart zu verknüpfen, ins Leere laufen.

Das Gespräch nimmt dort so richtig Fahrt auf, wo Leupold ihren Arbeitsprozess beschreibt. Einer komplexen Figur wie Herrn Harald »begegne« sie eher, statt sie zu erfinden und kleide sie dann in Sprache ein. Mehr noch, sie werde während des Schreibens selbst quasi zur Figur, nehme Charaktereigenschaften von ihr an und gehe mit ihren Augen – das heißt, mit Herrn Haralds poetischer Kurzsichtigkeit – durch die Welt. Eine tiefe Zuneigung und ein inniges Verständnis der Autorin zu ihrer Figur hört man durch die zwei längeren Passagen klingen, die sie mit beruhigend melodischer Stimme aus dem Roman vorliest.

Die Dinge singen

Leupold lässt sich von Schröders analytischem Nachbohren nicht dazu hinreißen, ihren Roman selbst zu interpretieren. Auf den Hinweis Schröders, Herr Harald werde in manchen Rezensionen als »skurrile« Figur bezeichnet, zuckt sie bedauernd die Achseln. Auch seine Frage, wie es zum eigenartigen Namen des Protagonisten – Herr Harald – kam, beantwortet sie knapp mit »Der hieß schon immer so«. Schröder will es genauer wissen, hakt nach, sucht eine Erklärung. Leupold setzt an: »Harald, das klingt wie… nicht das Lieblingskind der Eltern. Mit dem Namen hat man es nicht leicht im Leben«, kichernd winkt sie ab. Alles gesagt.

Göttinger Literaturherbst 2022

Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.

Leupold legt viel darauf, ihren Roman nicht zu zerreden. Als seien die Gedanken Herrn Haralds nur für die Seiten des Buches bestimmt. Der Roman ist gespickt mit Wortspielen und poetischen Kunststücken. Worte werden auseinandergenommen, gedreht und gewendet, neu zusammengesetzt, um so einen anderen Blick auf die Dinge zu eröffnen. Als Leupold für dieses sprachspielerische Vorgehen – das sie, wie sie betont, mit Herrn Harald teilt – ein Beispiel gibt, unterbricht sie sich mit dem Satz »Das wird schon platt, wenn man’s sagt«. Deutlich auszusprechen, was sie intendiert oder wie dieses oder jenes verstanden werden soll, vermeidet sie. Das ist bei Schröders Fragen nicht leicht, der geschickt darauf abzielt, von ihr eindeutige Antworten zu bekommen. Einmal sagt sie über eine Geste Herrn Haralds symptomatisch: »Das ist eine Herr-Harald-Logik, die nicht jeder versteht«, in einem Ton, wie um die Eigenart eines geliebten Menschen vor Fremden zu entschuldigen. Verteidigend, aber ohne den Anflug von Erklärung oder Rechtfertigung.

Im Laufe der Veranstaltung wird das zu Beginn etwas hölzerne Gespräch noch zu einer kurzweiligen Plauderei, obwohl Schröder nur ab und zu wirklich Erhellendes zutage holt. Es verbreitet sich trotzdem eine heitere Stimmung im nächtlichen Publikum, nicht zuletzt durch Leupolds verschmitzte Antworten und die augenzwinkernden Kommentare zu ihrem eigenen Text. So spiegelt die Lesung die Mischung aus anekdotischer Heiterkeit, schelmischem Humor und phänomenologischer Ernsthaftigkeit wider, die auch den Roman auszeichnet.

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