Wie die Wut zum Buch wurde

Mithu Sanyal, Linus Giese und Tanja Raich sprechen beim Literaturherbst darüber, dass das Matriarchat nicht in Frage kommt. Wieso der Titel der Anthologie Das Paradies ist weiblich provozieren soll und wie es überhaupt zu dem Sammelband kam, wird an diesem Abend verraten.

Von Lucie Mohme

Bild: Lucie Mohme

Die Lesung zu Das Paradies ist weiblich ist einer der Abende des Literaturherbstes, genau genommen des »Jungen Herbstes«, der feministischer nicht sein könnte. Schon das Repertoire an Gäst:innen auf der Bühne prägt diese Beobachtung, aber auch das Publikum ist mehr als sonst durch junge Gesichter besetzt. Als Autor:innen sitzen Mithu Sanyal und Linus Giese hinter der langen Tafel, die Platz für insgesamt vier Personen bietet. Als dritte im Bunde ist die Herausgeberin des Sammelbandes, Tanja Raich, vor Ort, die mit ihrem Debütroman Jesolo auf der Shortlist des österreichischen Buchpreises landete. Im Februar 2020 gab Raich die Anthologie heraus, um die es an diesem Abend geht. Zuletzt ergänzt Madita Oeming als Pornowissenschaftlerin das Bild und bringt mit gezielten Fragen den Abend rundum unterhaltsam über die Bühne, lässt aber auch Raum für bedeutsame und ernste Momente.

Der Einstieg der Veranstaltung greift die Entstehung des Titels auf, der, wie bereits in meiner Rezension zu Das Paradies ist weiblich angesprochen, eher weniger zu den Inhalten der Anthologie passt. Raich gibt offen zu, es sei aus Marketingzwecken zu der Wortwahl »Paradies« und »weiblich« gekommen. Beides seien Begriffe, die einmal mit der Bibel und zum anderen für Feminist:innen eher negativ konnotiert seien, wirft Oeming ein. Raich fügt hinzu, der Titel solle ironisch sein und durch Provokation zum Kauf anregen. Außerdem sei der Titel eine These, die im Verlauf des Buches an Halt verliere. Genau diese Wirkung hatte der Sammelband für mich als Leserin.

Es gebe unterschiedliche Gefühlsphasen für Feminist:innen, so die Herausgeberin. Raich verrät weiter, dass bei der Idee zur Anthologie ein Gefühl im Vordergrund war: Wut. Und dennoch habe sie kein durchweg hasserfülltes Buch veröffentlichen, sondern konstruktive Alternativvorschläge zum lang verfestigten Gesellschaftssystem, dem Patriarchat, geben wollen. Dass die Lösung nicht das Matriarchat als invertierte Form des Patriarchats ist, wird im Buch mehr als deutlich. Nicht jede Person ist jedoch in der Lage, seine oder ihre Wut in ein wunderbar produktives Buch wie dieses zu stecken. Es ist okay, das nicht zu können und frustriert und wütend zu sein. Sanyal, Giese und Raich zeigen: Um mit der Wut umzugehen, kann es helfen, genau diese Lektüre zur Hand zu haben.

Sanyal über Archäologie und Geschlecht

Mithu Sanyal als Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin bewegt sich in gesellschaftskritischen Bereichen des Feminismus, Rassismus und vor allem der Identitätsphilosophie sowie -politik. Besonders ihr Roman Identitti, der auf der Shortlist des Buchpreises 2021 stand und ihr Sachbuch Vulva sind bezeichnend für ihre Tätigkeit. Sanyal bereichert die Veranstaltung mit ihrer kulturwissenschaftlichen und breiten theoretischen Expertise unter anderem zum Thema Matriarchat und Feminismus. Durch ihre ehrliche Kommunikation sowie ihre ironischen bis hin zu zynischen Bemerkungen, bleibt den Besuchenden nichts anderes übrig als zu schmunzeln und mitzulachen. Wissenschaft, so beweist es Sanyal an diesem Abend, kann äußerst unterhaltsam sein, auch wenn dabei oft ein trauriger Unterton mitschwingt, der die Zuhörenden den Kopf schütteln lässt. So hebt Sanyal hervor, dass das Geschlecht bei Skelettfunden in der Archäologie oft mit den Gegenständen in ihrer unmittelbaren Jagdumgebung verbunden würden. Auch ein Artikel in der taz berichtet von einem Fall, bei dem von einem männlichen Skelett ausgegangen wurde, da Hinweise dafür in der Nähe lagen, hier ein Jagdset. Doch die Geschlechtszuordnung war falsch. Es handelte sich um eine Jägerin und keinen Jäger, zumindest aus biologischer Sicht ist dies erschließbar.

Göttinger Literaturherbst 2022

Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.

Die Hoffnung auf einen Wandel

Kontrastreich wird der Abend zusätzlich durch den persönlichen Essay von Linus Giese. Giese erlangte vor allem durch sein 2020 veröffentlichtes autobiographisches Buch Ich bin Linus Bekanntheit. Er teilt darin seine Geschichte als trans Mann. Und auch sein Essay basiert auf seinen unmittelbaren Erfahrungen. Seine authentischen, aber auch durchaus traurig treffenden Worte sind die Essenz seiner Lesung. Seinen Text zu hören, der größtenteils losgelöst von Fachbegriffen ist, bietet einen praktischen Zugang zur Debatte. Als Giese mit den Worten »Ich wünsche mir Kinderbücher, in denen Prinzessinnen aufeinander warten. Kinderbücher, in denen Prinzen über einen Regenbogen spazieren« seinen Teil abschließt, hinterlässt er ein Bild einer Lebensrealität, die sich wünschenswert anhört und sogar in Umsetzung ist. Diese Kinderlektüren sind momentan nischenhaft, aber dass es sie mittlerweile gibt, setzt Zeichen für einen Wandel.

Diese Veranstaltung hallt nach. Auch noch Stunden danach finden Aspekte des Abends ihren Weg zurück in meine Gedanken. Ich bin sicher, dass es den meisten Besucher:innen so ging. Eins bleibt auf der Bühne als Fazit stehen: Statt Matriarchat sollte eine solidarische Konsensgesellschaft ohne Hierarchien die Orientierung sein. Um dies zu erreichen, ist es wichtig, niemanden auszuschließen. Dafür muss anerkannt werden, dass alle Menschen vom Patriarchat befreit werden müssen. Alle Menschen sind betroffen und müssen vereint dem System den Kampf ansagen.

Geschrieben von
Mehr von Lucie Mohme
Von Vokuhilas, Camp und Cisplaining
Yaghoobifarah liest aus der Kolumnensammlung Habibitus: ein queerfeministischer Abschluss der Frühjahrslese über...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert