Der Riss in der Schale

Der Kosmos ist ein Ei: die Sonne wie das Eidotter im Zentrum, die Menschheit auf der Innenseite der Schale. Peter Bender gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den Begründern dieser alternativen Hohlwelt-Kosmologie. Clemens J. Setz widmet Benders bewegter Biografie nun seinen neuen Roman Monde vor der Landug, in dem er dessen Leben sprachlich wunderschön als Geschichte einer scheiternden Utopie unter dem NS-Regime erzählt.

Von Carl Ohlms

Bild: Via Pixabay, CC0

Peter Bender (1893-1944) war ein spiritueller Utopist im wahrsten Sinne des Wortes. Die Welt, in der er lebte, existierte für die meisten anderen Menschen nicht. Für den deutschen Fliegerleutnant, an dessen realer Biografie sich nun Clemens J. Setz‘ neuer Roman orientiert, war die konvexe Erdkrümmung eine Illusion: Der ganze Kosmos einschließlich seiner Bewohner existiere innerhalb einer Kugel. Die Erdoberfläche sei in Wahrheit die Innenseite der Schale; blickt man in den Himmel, schaue man Richtung Amerika. Die Gestirne kreisen um den Kugelmittelpunkt. Auch sie sind hohl. Irgendwann – so Bender – werde der Mond auf der Erde landen und ein neues Zeitalter einläuten. Möglicherweise ist die Erde selbst nur ein Mond innerhalb einer noch größeren Kugel und drohe aufzubrechen. Bender vermutet hinter den politischen, sozialen und gesellschaftlichen Krisen seiner Zeit Symptome des baldigen Aufbrechens.

Setz erzählt in seinem aufwendig recherchierten historischen Roman Monde vor der Landung die Biografie Benders, die gelenkt ist von der Mission, mit seiner alternativen Welttheorie – eben dem Hohlwelt-Modell – die Mainstream-Kosmologie aus den Angeln zu heben. Bender wollte zu einem kollektiven Umdenken bewegen, die Menschen aufwecken, sie klar sehen lassen, wie die Dinge wirklich sind, um schließlich eine neue Gesellschaft der Gleichberechtigung, des Friedens und der Menschlichkeit zu errichten. Mit ihm und seiner Frau Charlotte an der Spitze als »heiliges Priesterpaar« – Bender war nämlich auch ein charismatischer Redner und selbsternannter Priestereiner neuen Religion. Als Schriftsteller und Theoretiker entwickelte Bender aus seiner Kosmologie eine umfassende Weltanschauung, bezog sich auf Martin Luther, Nietzsche, Astrologie und die Nibelungen, schrieb über das Verhältnis der Geschlechter, die Entstehung des Lebens, den Krieg und die Erotik, die moderne Technik und die Inflation.

Zeit der Umbrüche

Wir verfolgen Benders Lebensgeschichte mit seinen Augen. Von den bescheidenen Anfängen seiner Gemeinde in Worms Anfang der 20er Jahre, ersten Vorträgen, die teilweise belächelt werden, aber ihm immerhin eine Haftstrafe wegen Gotteslästerung einbringen. Setz erzählt alternierend von Kindheit und Jugend, aber vor allem der Militärzeit Benders als Aufklärungspilot im Ersten Weltkrieg, wo er als talentierter Geschichtenerzähler die Geschichte von der hohlen Erde improvisiert, um sich und seinen Kameraden die Zeit zu vertreiben. Die nichtlineare Erzählweise durchkreuzt eine vereinfachende Pathologisierung Benders. Niemals werden seine Ideen einfach als Spinnereien einer im Krieg beschädigten Psyche diffamiert. Der Roman lebt von der großen Empathie gegenüber seiner Hauptfigur und begegnet dessen tragischer Biografie mit dem nötigen Ernst. Dadurch kommt eine absurde Komik zum Vorschein, die oft im Hals stecken bleibt. Erst indem Bender als idiosynkratische poetischer Denker in der Tradition romantischer Naturphilosophie dargestellt wird, gewinnen seine Gedankengebilde trotz aller faktischen Falschheit und verqueren Prämissen eine Großartigkeit und Faszination.

»Aber… aber wenn unser Kosmos dann irgendwann aufbricht«, sprach Bender weiter, »dann…ja, also dann durchläuft er natürlich verschiedene Stadien, und jeder Zeitpunkt, jeder Moment, jede Zusammenstellung von Atomen, die je in ihm vorhanden war, alles bricht dann heraus.«

Setz‘ Roman spielt zu einem großen Teil in der NS-Zeit. Auch hier vermeidet Setz Plattitüden. Schleichend zunächst, von den Rändern her, sickert NS-Ideologie in Benders Welt ein. Bender hat ein enorm ambivalentes Verhältnis zum NS-Regime: Einerseits profitiert er von der Affinität des Regimes zu alternativen, pseudo-wissenschaftlichen Theorien. Zum ersten Mal trifft er auf Gleichgesinnte, findet Gönner und Brüder im Geiste. Er wird als »Entdecker des neuen Weltbildes« bezeichnet. Doch bald findet er sich mit seiner jüdischen Frau Charlotte mit der drohenden Gefahr konfrontiert, wenn Braunhemden durch die Straßen marschieren und Bekannte ins KZ transportiert werden. Bender spürt eine tiefgreifende Ablehnung gegen das Regime, seinen Judenhass und Technizismus. Schließlich wird er eingesperrt. Erst im Gefängnis, dann in der Nervenklinik, zuletzt im Konzentrationslager. Benders geistige und körperliche Versehrung zeichnet Setz in verwinkelt wuchernden Bewusstseinsströmen auf.

Bombentrichter Platzregen stocktaub nur noch gepresst sprechen: Lazarett. Einen Halm aus dem Ohr ziehen, Daumen abbrennen im Helm. Anslinger vollkommen wahnsinnig friedlich schlafend: Feldlager. Eiskalter Kopf bei der Landung: Zähne flüssig Maisonne Hirschkäfer. Polens Korridor. Damenwahl Europas.

Die Erzählung wird sprunghaft, elliptisch, arbeitet mit der Montage. Dadurch gewinnt Setz – obgleich er sogar Fotos und faksimilierte Briefe einfügt – Distanz zum reinen historischen Nacherzählen. Die lange Recherchearbeit in Archiven in Deutschland und Amerika, die das Rückgrat des Romans bildet, drängt sich selten störend in den Vordergrund. Bis zum Schluss, wo das papierne Skelett der Erzählung geradewegs und absichtlich bloßgelegt wird. Die letzten 60 Seiten sind unerträglich spröde. Das vergilbte Papier der Archive wird preisgegeben und kurzerhand in kleine, unverbundene Fetzen gerissen.

Der Krieg und die Sprache

Setz stützt sich auch auf die literarischen Selbstzeugnisse des historischen Bender, zum Beispiel dessen Autobiographie. Bender ist Schriftsteller und Dichter. Im Krieg erfährt er die Überlebenswichtigkeit des Erzählens und erlebt zugleich, wie der Krieg seine Sprache aushöhlt: Worte verlieren ihren Sinn, Namen ihre Verbindlichkeit. Manche Sätze, in Ausnahmesituationen geäußert, sind später unverständlich. Die Sprache ist einerseits der einzige Halt in Krisensituationen, zugleich wird sie weich, verflüssigt sich, fließt in die geistigen Wunden hinein, um dann dort rätselhaft schöne Muster zu bilden, durch die Benders Gedanken die Formen lyrischer Bilder annehmen. Der Roman ist voller wundersamer Eindrücke, Sprachbilder, die wirken, als hätten sie Schluckauf. Setz trifft einen Ton, der die Verschrobenheit von Benders Gedankenwelt mitgeht, ohne sich dabei zu verrätseln oder unverständlich zu werden. Die Bilder leuchten ein, ohne preiszugeben, warum eigentlich.

Manchmal schien es, als stammten alle Pflanzen, die man in Städten antraf, aus einer einzigen Samentüte, deren Inhalt ein kahlköpfiger Greis mit Wanderhut und Schießgewehr aus Rache an der Schöpfung überall verstreut hatte. All dies joppenselige, dies jägerhaft verworrene Kraut, dies allgegenwärtige Hans-guck-in-die-Luft der grünen Natur

Der Krieg schließt Benders Fantasie mit seinem Überlebenstrieb kurz. Die Bilder, die die Ausnahmesituation produziert, verfestigen sich und erlangen ein Eigenleben. Seine Phantasmagorien werden zu seinem Überlebensmechanismus, zu seiner Intelligenz, um die kleineren und größeren Gefahren seines Lebens zu bestehen. Das macht ihn einerseits menschlich unerträglich. Bender ist in seiner Selbststilisierung als erleuchtetes Genie wahrlich keine sympathische Figur. Andererseits macht das seine Feigheit und sein Zögern im Angesicht des Nationalsozialismus zumindest nachvollziehbar: Er braucht die deutsche Sprache, er lebt in ihr und durch die Sprache, die in dieser Zeit ihre unheilvolle Beziehung zur NS-Ideologie offenbart. Setz zeigt die Doppelgesichtigkeit der Sprache: die Möglichkeit der Instrumentalisierung einerseits, andererseits ihre Eigendynamik, ihre innere Gewalt, die den Einzelnen schon im Griff hat, wo es sich noch frei wähnt.

Es schien, als wären einige deutsche Wörter in ihnen wahnsinnig geworden. […] Es ging gar nicht so sehr um neueste Phrasen oder um gebrüllte Reime, nein, es hatte schon lang vor ihnen, vor uns allen, vermutlich irgendwann in späthöfischer Hagenzeit begonnen und führte nach einigen Jahrhunderten Ladezeit schließlich zu all diesen Schweinereien.

Bender, der Querkopf

Bender ist eine hochkomplexe Figur, eng verbunden mit seiner spezifischen historischen Situation. In Kritiken ist andauernd zu lesen, Setz habe einen Roman über Verschwörungstheorien geschrieben; leichtfertig werden Diskursbegriffe wie »Fake News« oder »alternative Fakten« auf den Roman geworfen, Bender wird gar als Querdenker charakterisiert. Das wird aber weder Bender noch dem Roman gerecht. Sicher, es werden Topoi aus dem Feld der Verschwörungstheorien aufgegriffen – die Menschen sind »Schafe«, die »aufgeweckt« werden müssen – und sicher, Bender trägt Züge moderner Wissenschaftsskeptiker und propagiert eine pseudowissenschaftliche Spiritualität. Einmal wird er von einer Figur als »Querkopf« bezeichnet. Nur: Das ist nicht, was diesen Roman lesenswert und auch nicht, was ihn relevant macht. Setz liefert nicht etwa eine Gegenwartsbeschreibung in historischem Gewand. Es kommt Setz gerade auf das Besondere, Einmalige von Benders Biografie an: Die große Stärke des Romans ist, dass er sich nie ins Ahistorische einer vorschnellen Parabel verzieht. Setz nimmt die Geschichte todernst. Ansonsten würde Bender lediglich zu einer Schrulle des vergangenen Jahrhunderts verkommen, die uns nichts mehr zu sagen hat, was wir nicht bereits wüssten.

Indem Setz sprachlich in Benders Innenwelt eintaucht, völlig frei ist von Zynismus, Überzeichnungen und dem Gestus, es vermeintlich besser zu wissen, verleiht er der spezifischen Situation wahrhaft universelles Gewicht. Einerseits durch das Schicksal des Hauptcharakters, diesem schillernden Fantasten und selbsternannten Missionar der Wahrheit, diesem tragischen Idealisten, der die Missstände in Wissenschaft und Gesellschaft zwar erkennt, aber nicht die richtigen Mittel hat, sie zu ändern und schließlich zugrunde geht, weil er sein eigenes Bild der Dinge mit den Dingen selbst verwechselt. Andererseits auf literarischer Ebene: in der komplexen Figurenzeichnung – neben Bender sind vor allem die Frauenfiguren bemerkenswert –, der abwechslungsreichen, klugen Erzählweise, der erfrischenden Kreativität der Bildlichkeit und den Reflexionen auf die Macht der Sprache. Diese Lektüre schärft den Sinn für die Feinheiten und Möglichkeiten sprachlicher Vielfalt.

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Clemens J. Setz
Monde vor der Landung

Suhrkamp: Berlin 2023
528 Seiten, 26,00€

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