Der Versuch, einen Mann zu schreiben

In seinem neuen Roman Ein Sommer in Niendorf beschreibt Heinz Strunk den physischen und psychischen Verfall eines Juristen während eines dreimonatigen Sommerurlaubs. Die Geschichte ist gut, den naheliegenden Vergleichen mit Werken von Thomas Mann wird der Roman allerdings nicht gerecht.

Von Alexander Kempf

Bild: Via Pixabay, CC0

Ein Sommer in Niendorf heißt der neue Roman von Heinz Strunk, dem der große Durchbruch im Jahr 2004 mit dem Roman Fleisch ist mein Gemüse gelang. Von diesem Erfolg zehrt der Autor wohl immer noch, sodass auch Ein Sommer in Niendorf von den Feuilletons deutscher Zeitungen vielfach rezensiert wurde und nur wenige Tage nach Erscheinen auf Platz drei in die Spiegel-Bestseller-Liste eingestiegen ist.

Der Protagonist, ein promovierter Wirtschaftsjurist namens Roth, entschließt sich nach Jahren der harten Kanzleiarbeit, seine Familienchronik während eines dreimonatigen Sommerurlaubs an der Ostsee in einem Buch zu verarbeiten. Er hat diverse Gespräche mit seinen nunmehr verstorbenen Familienmitgliedern aufgezeichnet und freut sich zunächst darauf, täglich soundso viele Stunden zu schreiben. Figuren in Ein Sommer in Niendorf sind weiters unter anderem Breda, der alkoholabhängige Hausmeister/Spirituosenladenbesitzer/Strandkorbdreher und dessen übergewichtige Lebensgefährtin Simone, Roths Ex-Frau Stefanie, seine verschuldete Tochter Fiona und ein One-Night-Stand namens Melanie. Ziemlich schnell wird jedoch klar, dass der Urlaub an der Ostsee weniger die ersehnte Entspannung und einen produktiven Schreibprozess als viel mehr Einsamkeit und Alkoholabhängigkeit mit sich bringt.

Parallelen zu Tod in Venedig und Zauberberg

In den meisten Rezensionen und Kritiken werden Parallelen zwischen Ein Sommer in Niendorf und Der Tod in Venedig respektive Der Zauberberg von Thomas Mann oder gar Heinz Strunk und Thomas Mann selbst gezogen. Tatsächlich geht es sowohl in Ein Sommer in Niendorf als auch in Der Tod in Venedig um einen Mann, der sich einen Urlaubsaufenthalt anders vorgestellt hat, als er tatsächlich verläuft und letztlich am und mit dem Meer zugrunde geht. Tatsächlich geht es auch in Der Zauberberg um jemanden, der an einem Ort, an dem es gesund zu werden gilt (bei Mann ist es ein Sanatorium, bei Strunk ein Kurort) schließlich erkrankt. Und tatsächlich gelingt es auch beiden Autoren, ihre Figuren sehr lebendig und anschaulich zu beschreiben. Bei Strunk zum Beispiel:

Breda, Typ krummer, langer Lulatsch mit Plauze, strohiges Haar, pergamenthäutig, dünne Ärmchen und Beinchen. Unter seinem engen T-Shirt zeichnen sich ein halbes Duzend Speckrollen und zwei auf den Sauf-Spitzbauch herabhängende Titten ab.

So ist die Einsamkeit und der Verfall des Protagonisten inhaltlich durchaus ergreifend. Sogar im Roman selbst bespricht Strunk hin und wieder literarische Größen und Institutionen wie Thomas Mann oder die Gruppe 47, die im Jahr 1952 in Niendorf zusammenkam.

Kurze Sätze

Doch wenngleich Strunk genauso wie einst Mann eine durchaus interessante, ergreifende und emotionale Geschichte geschrieben hat, liegen die Vergleiche mit dem Nobelpreisträger und dessen Werken vor allem in literarischer Hinsicht ziemlich fern. Wohingegen Mann auf dem grammatikalischen Hochreck turnt, sich seine Ausdrucksstärke nicht nur in den beschriebenen Figuren/ Landschaften/Gefühlen, sondern auch wesentlich in der Rhetorik selbst widerspiegelt und seine Werke mit Romananspruch eine allumfassende Komposition darstellen, fällt bei Strunk vor allem ein aphoristischer Stil auf. Insbesondere die benannte literarische Komposition, das heißt die Chronologie, die rhetorische Umsetzung von Rückblenden, Vorausdeutungen, Wiederholungen und Kontrasten, die den Romanen Manns inhärent ist, findet sich nahezu gar nicht bei Strunk. Durch den aphoristischen Stil umfassen die Sätze regelmäßig nur wenige Wörter. Manchmal sogar nur ein einziges. Das passt zwar gelegentlich zum Inhalt. Oft aber auch nicht. Die kurzen Sätze unterbrechen den Lesefluss. Die ganze Zeit. Der Text wird dadurch langweilig. Sehr langweilig.

Dass Strunk ununterbrochen von dieser Technik der aphoristischen Prägnanz Gebrauch macht, ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil sie stellenweise durchaus angebracht ist und umso besser funktionierte, gäbe es zwischendrin Passagen langer Sätze mit vielen Kommata oder ausführlichen Beschreibungen, sodass Leser:innen die Bedeutung ebenjener Ausrufe und Einschläge umso bewusster würde. Rückblicke, tiefgründige Gedanken und vor allem die Beschreibungen der ruhigen Ostsee ließen sich mithin unweit angenehmer lesen, wenn sie nicht nach jedem dritten Wort durch einen Punkt unterbrochen würden, sondern (genauso wie die Ostsee selbst) in langen Sätzen (Wellen) dahinglitten.

macbook

Heinz Strunk
Ein Sommer in Niendorf

Rowohlt: Hamburg 2022
240 Seiten, 22,00€

Der eigene Anspruch

Insbesondere, weil die inhaltlichen Überschneidungen und diverse tatsächliche Bezüge zu Thomas Mann so eklatant sind, muss sich der Roman stellenweise auch literarisch an Werken wie Der Zauberberg oder Tod in Venedig messen lassen. Aus diesem Anspruch, den der Roman wohl an sich selbst zu haben scheint, und den diverse Kritiker:innen an ihn stellen, ergibt sich die eigentliche Enttäuschung. Es schreibt beispielsweise Edo Reents in der FAZ, die Gefahr, beim Versuch, einen zweiten Zauberberg zu schreiben, prätentiös zu wirken und sich letztlich schon beim Handwerk zu blamieren, sei eigentlich zu groß, um den Versuch überhaupt zu wagen: »Es sei denn, man ist Heinz Strunk. Er wagt es und gewinnt.« So will Strunk nicht nur den Verfall eines einst Erfolgreichen erzählen (wie es Thomas Mann sowohl in den oben genannten Werken als auch in Buddenbrooks bravourös tat), sondern er nutzt auch ebenjene bereits von Mann verwandten Bilder der See, der Einsamkeit, der Krankheit, um eine tiefe Melancholie zu erzeugen. Nur dass die greifbaren Ähnlichkeiten zu Werken Thomas Manns in Anbetracht dessen Glanzes bloß blass wirken.

Abgesehen davon, dass sich Ein Sommer in Niendorf auf lediglich 239 Seiten drängt, wohingegen Mann seinem Zauberberg circa 1.000 Seiten einräumt, sind bei Strunk darüber hinaus weder einprägsame Leitmotive, neuartige oder gar kritische Gesellschaftsbezüge (an Geschichten über überarbeitete Jurist:innen in Großkanzleien mangelt es in der deutschen Literaturlandschaft nicht) noch der Ansatz vom Zusammenspiel zwischen Sprache und Inhalt erkennbar. Es geht halt um einen Workaholic, der im Urlaub zum Alcoholic wird. Und leider ist diese (wie gesagt durchaus interessante, ergreifende und emotionale Geschichte) aufgrund ständiger Ausrufe und kurzer Hauptsätze nicht einmal flüssig zu lesen. Nur weil der Roman gewisse Figurentypen und Themen aus Tod in Venedig oder Zauberberg aufgreift und verarbeitet, kann noch lange nicht von einer zeitgemäßen Übersetzung Thomas Manns ins Jahr 2022 gesprochen werden. Böse Zungen nennten es gar einen billigen Abklatsch.

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