Eine halbe Erde Wildnis

Das erklärtermaßen utopische Half-Earth Socialism der Autoren Troy Vettese und Drew Pendergrass hält alles, was es verspricht: Hier wird eine post-kapitalistische Welt jenseits von Klimakrise und sozialen Ungerechtigkeiten vorstellbar. Einen schöneren Appell, die Kämpfe nicht aufzugeben, gibt es nicht.

Von Frederik Eicks

Bild: Via Pixabay, CC0

Der Regenwald fackelt ab und die Korallen sterben und der Nordpol schmilzt ins Meer und die Böden trocknen aus, aber die Flusstäler, die Küsten werden überschwemmt, aus der Pandemie scheint niemand gelernt zu haben, also kommt die nächste bestimmt und wo sind eigentlich die ganzen Insekten hin und dann die gebeutelten Arbeiter:innen, die jetzt per Hand hektarweise Felder bestäuben müssen und die ganzen Menschen in Afrika, deren Heimat schon jetzt unbewohnbar ist und warum liefern sich Milliardäre währenddessen ein Space-Race (oder hauen ihr Geld für einen ›Kurznachrichtendienst‹ auf den Kopf, haha) und alle finden das in Ordnung und das Plastik im Meer, Plastik in den Fischen, die sterben, die wir essen, Plastik in den Kosmetikprodukten, die wir uns ins Gesicht schmieren, Plastik in uns – angesichts all dessen fällt es (vor allem jüngeren Menschen) zunehmend schwer, nicht einfach resigniert das Handtuch zu werfen, nicht in einen lähmenden klimapolitischen Fatalismus zu verfallen.

Das gilt nicht nur hinsichtlich einer viel zu wenig ambitionierten Klimapolitik der Industrieländer, sondern auch hinsichtlich der Fülle von miteinander verbundenen, existenzbedrohenden Krisen, die es zu bewältigen gilt: Klimakatastrophe, Artensterben, soziale und globale Gerechtigkeit usw. usf. Dass es verschiedene Wege gibt, dieses Netz (nicht) zu entknoten, ist klar. Zum Beispiel lässt sich Klimaschutz bedeutend einfacher bewerkstelligen, wenn man ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und koloniale Kontinuitäten unangetastet lässt – dann wird Klimaschutz auf dem Rücken des Globalen Südens ausgetragen, während der westliche Lebensstandard weitestgehend erhalten bleibt. Wer aber all diese Krisen zusammendenkt, steht unweigerlich vor einem Krisenknäuel, dem ein strenger Zug von Unauflösbarkeit anhaftet.

Wie viele Quellen möchtet ihr zitieren? Ja.

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Drew Pandergrass/Troy Vettese
Half-Earth Socialism

Verso Books: London/New York 2022
240 Seiten, 14,99$

Auf die Schwierigkeiten, mit denen eine sozialgerecht orientierte Klimaschutzbewegung konfrontiert ist, reagieren Troy Vettese, Umwelt-Historiker, und Drew Pendergrass, Promovend der Ingenieurswissenschaften, mit ihrem Buch Half-Earth Socialism. A Plan to Save the Future from Extinction, Climate Change, and Pandemics. Die Entscheidung für einen so selbstbewussten Untertitel ist sicherlich auch aus marketingtechnischen Gründen gefallen, trifft aber dennoch den Kern der Sache – denn die Autoren verfolgen einen dezidiert utopischen Ansatz, der, wie sie selbst schreiben, im (links-)politischen Diskurs vor langer Zeit aus der Mode gekommen ist. Mit der Forderung einer Wiederbelebung utopischen Denkens stehen Vettese/Pendergrass aber nicht allein da. So fragen beispielsweise auch die reichweitenstarke Luisa Neubauer und Alexander Repenning in ihrem Buch Vom Ende der Klimakrise (Tropen 2019): »Wo sind die inspirierenden Zukunftsbilder und Erzählungen, die als Leitbild am Horizont einer gesellschaftlichen Transformation stehen?«

Auf diese Frage hin entwerfen Neubauer/Repenning zwar Skizzen dessen, was künftig noch möglich ist, konzentrieren sich aber darauf, die Drastik der Klimakrise darzulegen. Half-Earth Socialism hingegen setzt die Dringlichkeit zum klimapolitischen Handeln als gegeben voraus und schafft sich somit den nötigen Raum, die Aufforderung zu utopischem Denken noch ernster zu nehmen. Das Ergebnis dieses Unterfangens hat sich gewaschen: Die theoretische und informationelle Dichte sorgt für einen Reichtum an Ideen und Perspektiven, der geradezu lächerlich ist und auf 180 Seiten überhaupt nicht möglich sein sollte – mehrere hundert Fußnoten schaffen Abhilfe. Dieser Reichtum macht das Buch zu einer unsagbar lohnenswerten, erhellenden Lektüre.

Einfache Axiome

Vettese/Pendergrass entwickeln ihre Theorie erklärtermaßen aus möglichst einfachen Axiomen, die sich am besten in der Auseinandersetzung mit dem Namen dieser Theorie darstellen lassen. Die Autoren identifizieren, unter Rückgriff auf führende Klimaforscher:innen, das Artensterben als »arguably the most serious environmental problem«. Half-Earth Socialism ist die Lösung dieses Problems: Es handelt sich, vereinfacht, um eine Utopie, in der die Klimaerwärmung nach einer sozialistischen Revolution auf demokratische und sozial gerechte Weise auf 1,5°C beschränkt und die Artenvielfalt weitestgehend erhalten wird. Die erste Hälfte des Begriffs leitet sich von Edward O. Wilsons Konzept der ›Half-Earth‹ ab. Es basiert auf der Beobachtung, dass die Zahl der überlebenden Tier- und Pflanzenarten mit der Größe der geschützten Fläche korreliert. Heißt: Mittels einer Formel kann berechnet werden, dass 85% aller Arten gerettet werden können, wenn die Hälfte der Erdfläche zum Schutzgebiet wird – momentan sind es, großzügig betrachtet, ca. 15% der Landfläche und ca. 3% der Wasserfläche. Bei solchem ›Rewilding‹ handelt es sich gleichzeitig um die effektivste Methode, Treibhausgase dauerhaft zu binden und damit die Klimaerwärmung nicht nur zu begrenzen, sondern langfristig auch umzukehren. Aber wie kommen die Autoren dazu, für eine Maßnahme zu plädieren, die radikaler ist als alles, was Umweltorganisationen und Klimaschutzbewegungen fordern?

Vettese/Pendergrass diskutieren verschiedene andere Klimaschutzmaßnahmen: Das Geoengineering, bei dem beispielsweise Gase in die Erdatmosphäre geleitet werden, um die Sonneneinstrahlung zu reduzieren (sog. Solar Radiation Management), dient ihnen als dystopisches Einstiegsszenario, da die Folgen solch massiver Eingriffe überhaupt nicht absehbar seien. Aber auch das Verfahren der Bioenergie mit CO2-Abscheidung und
-Speicherung (kurz: BECCS), das nicht effizient genug sei, und die Atomenergie, die trotz gegenteiliger Behauptungen weder sicher noch nachhaltig sei, verwerfen sie. Bei solchen Ausführungen argumentieren sie klar und verständlich, verweisen auf unzählige Quellen und Studien, die ihren Standpunkt untermauern und zeitgleich eine gedankliche Transparenz schaffen, durch die eventuelle Schwächen oder Fehlschlüsse in ihren Überlegungen nachvollziehbar werden. Schließlich grenzen sich die beiden Autoren auch vom ursprünglichen Konzept der Half-Earth ab, das sie als kolonial charakterisieren, und kommen zu dem Schluss:

 »There is simply no way to stop the Sixth Extinction other than expanding nature preserves (under Indigenous leadership wherever possible). Still, socialists are right when they criticize conservation for burdening poor and Indigenous people. The solution is that Half-Earth must be socialist, not that socialism doesn’t need Half-Earth.«

Die zweite Hälfte des Begriffs, ›Socialism‹, soll aber nicht nur den kolonialen Aspekt und die mangelnde soziale Gerechtigkeit von Wilsons Half-Earth-Konzept korrigieren, sondern bringt auch unmissverständlich die Haltung der Autoren zum Ausdruck, dass eine Lösung aller sozialer und ökologischer Krisen nur eine antikapitalistische sein kann. Diese Haltung entspringt einer Auseinandersetzung mit der heutzutage weithin als alternativlos geltenden kapitalistisch-neoliberalen Ideologie, die laut Vettese/Pendergrass auf der einfachen Grundannahme beruhe, die Preise auf dem Markt kommunizierten Informationen und machten somit handlungsfähig, auch ohne Verständnis davon, wie die Preise zustande kommen, also ohne dass der Markt durchdrungen werden könne. Der Markt produziere demzufolge ›Wissen‹ besser als andere, beispielsweise wissenschaftliche Institutionen, weshalb Gesellschaft und Natur nach derselben Logik zu organisieren seien: »This philosophical shorthand allows neoliberals to diagnose the ills of the world and to propose a slate of prescriptions. It allows them to act

Diesem »simple and powerful axiom« setzen die Autoren ihr eigenes Axiom entgegen: Das wirtschaftliche System möge nicht völlig zu durchdringen sein, aber das wesentlich komplexere ökologische System sei es noch viel weniger. Statt also in Reaktion auf die Klimakrise zu versuchen, das ökologische System zu steuern und die Wirtschaft unangetastet zu lassen, scheint der Versuch, die Wirtschaft zu steuern und stattdessen der Natur freien Lauf zu lassen, deutlich erfolgversprechender. So simpel diese Grundannahmen in Half-Earth Socialism auch sein mögen: Sie fußen auf einer immensen theoretisch verdichtenden Arbeit, im Zuge derer die Autoren ihr Fundament mit verschiedensten Bausteinen legen: Hegel, Malthus, Jenner, Marx, Neurath, Hayek und Mises sind nur die wichtigsten der Namen, die für Vetteses und Pendergrass’ philosophisches Grundgerüst eine – mal positive, mal negative – Rolle spielen.

Entfaltung des utopischen Moments

Auf die Klärung der philosophischen Grundlagen (Kapitel 1) und Darlegung der materiellen, nämlich ökologisch drastischen Sachlage (Kapitel 2), die sofortige Maßnahmen erfordert und damit kein Vertrösten auf Technologien wie Wasserstoffantriebe oder Brutreaktoren zulässt, folgt als Herzstück von Half-Earth Socialism das dritte Kapitel namens ›Planning Half-Earth‹. Hier stürzen sich die Autoren in die Plan-Theorie und bestimmen den sowjetischen Mathematiker Leonid Kantorovich als Ausgangspunkt für ihr eigenes Planmodell, das sie in Grundzügen schildern. Was in diesem Kapitel stattfindet, ist nicht weniger als die Erörterung, wie sich die globale Wirtschaft innerhalb planetarer Grenzen bewegen kann, während gleichzeitig die halbe Erde Naturschutzgebiet ist und 10 Billionen Menschen nicht nur einen Wohn- und Lebensort haben, sondern sich auch angemessen ernähren können. Die Hoffnung: Das ist – immer noch – möglich; der ökologische und soziale Kampf dafür lohnt sich also. Die Crux, da die Tierhaltung bekanntermaßen nicht nur enorm viele Treibhausgase emittiert, sondern durch den Futteranbau auch 37% der globalen Landfläche beansprucht: »The assumption that allows this plan to work is that virtually everyone would be vegan.«

In diesem Kapitel entfaltet sich, dem geradlinigen, sachlichen Ansatz des Buchs die Treue haltend, das utopische Moment von Half-Earth Socialism. Es liegt nicht darin, sich in irrealen Gedankengebäuden zu verirren. Der Begriff des Utopischen wird aus dem Alltagsgebrauch, in dem er hauptsächlich das Unrealistische und das Unmögliche bezeichnet, herausgelöst und wieder im Raum des Möglichen verortet. Anders gesagt: Das Utopische ist dasjenige, was möglich ist. Durch eine solche, mithilfe stichhaltiger wissenschaftlicher Theorien und Modelle bewerkstelligte Verortung wird eine Welt, in der es anders wäre, möglich. Möglich wird das Denken einer solchen Welt überhaupt, indem sich durch die präzise Darstellung der Autoren Ankerpunkte bieten, von denen ausgehend die Vorstellung davon, wie diese klima- und sozialgerechte, post-kapitalistische Welt tatsächlich aussehen könnte, verblüffend konkrete Gestalt annimmt.

Utopische Tradition: Literarisches und Poetisches

Half-Earth Socialism besticht allerdings nicht nur durch den Denkraum, den es in seinem Auskundschaften eröffnet. Es bezieht sich wieder und wieder auf positive historische Beispiele wie die in den 90er-Jahren vom Zerfall der Sowjetunion erzwungene Dekarbonisierung der kubanischen Wirtschaft. Es lässt eine:n schmunzeln oder gar auflachen, weil es bisweilen so lustig ist: »One would think that a difference between humans and Archaeopteris – an extinct genus of fern-like trees – is that our species is aware of its impending doom.« Daneben wird der Text auch durch seine literarischen, mitunter poetischen Qualitäten aufgelockert. Diese drücken sich nicht unbedingt nur im vierten Kapitel aus, das als eine Art Kurzgeschichte zwar explizit an die utopisch-erzählerische Tradition Thomas Mores (Utopia, 1516), William Morris’ (News from Nowhere, 1890) oder Ursula K. Le Guins (u.a. The Dispossessed, 1974) anknüpft, stilistisch aber eher an die Dialoge Platons, der ebenfalls Teil utopischer Denktradition ist, erinnert. Stattdessen ist der gesamte Text von so etwas wie einer poetischen Dynamik und Denkweise durchwirkt. So schreiben die Autoren bezogen auf die Konsequenzen des Solar Radiation Management, das zu einer dauerhaften Bewölkung des Himmels führen würde: »Even then, many saw blue skies as an inevitable casualty of modernity, much like electrification’s extinction of starry nights a century before.«

Diese ernsthaft berührende Weise des Schreibens tritt insbesondere dort zutage, wo Vettese/Pendergrass die vielleicht zentralste Schlussfolgerung ihres Plan-Modells diskutieren: Denn schnell ist klar, dass eine erfolgreiche Bekämpfung aller sozialen und ökologischen Krisen nur unter großem Verzicht möglich ist. Dabei handele es sich um einen Verzicht, der vor allem die westlichen Industrieländer betreffe, äußere er sich doch in einer fast völligen veganen Ernährungsweise und in der Einführung strikter Energiequoten, die beispielsweise in Europa einschränkend wirken, in vielen Ländern des Globalen Südens aber dazu führen würden, dass ihnen sogar mehr Energie zur Verfügung stünde, als sie heute verbrauchen. Solch ein Verzicht bedeutet für die Autoren jedoch keinen Mangel an Wohlstand, der sich – Neuraths Konzept der Naturalwirtschaft folgend – im Half-Earth Socialism nicht mehr in Konsum und akkumuliertem Kapital ausdrückt:

»A bounty of beauty, safety, and stability will come from the thousands of species that will be protected, the gigatonnes of carbon sequestered, the promise of meaningful work and social security, for Half-Earth socialism will be a rich society too.«

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