Die Suche nach der Geschichte hinter dem Buch

Endlich wurde ein Buch von Mohamed Mbougar Sarr ins Deutsche übersetzt! Die geheimste Erinnerung der Menschen erzählt von der Suche nach der Hintergrundgeschichte eines großartigen Romanes und dreht sich dabei unter anderem um die Themen Postkolonialismus und Literaturkritik.

Von Anna Röttger

Bild: Via Pixabay, CC0

Ein faszinierendes Buch, der Autor unbekannt und die Geschichte lässt eine:n nicht mehr los. Der Haken an Das Labyrinth des Unmenschlichen: Viele Abschnitte sind aus großen literarischen Werken übernommen und wurden harmonisch zu einem Ganzen zusammengefügt. Hinzu kommt, dass der Autor der erste seiner Herkunft ist, der ein Buch dieser Qualität im Exil veröffentlicht. Lesen wir den Text als solchen oder unter Bezugnahme der Herkunft des Autors? Bewundern wir die Zusammenführung der Textbestandteile anderer Werke oder strafen wir den Text als Plagiat ab?

Um diese Fragen geht es in Die geheimste Erinnerung der Menschen. Mohamed Mbougar Sarr hat in Frankreich bereits drei Romane veröffentlicht, für seinen neuesten erhielt er den renommierten Prix Goncourt, woraufhin das Buch nun auf Deutsch in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller erschienen ist. Der 33-jährige Schriftsteller ist im Senegal geboren und absolvierte ein Literatur- und Philosophiestudium in Frankreich. Eine Vielzahl von Themen spricht er in seinem aktuellen Roman an: afrikanische Literatur(-kritik), Heimat und Migration sowie Kolonialismus und Rassismus. Als Vorlage für die fiktive Binnenhandlung über einen Plagiatsvorwurf dient ihm ein realer Skandal aus den 60er-Jahren.

Schreiben im Exil in Frankreich

Im Mittelpunkt des Romanes steht der junge Schriftsteller Diégane. Er ist im Senegal geboren und studiert in Paris, wo er auf ein Buch stößt, das ihn mitreißt. Er bespricht das Werk mit seinen Pariser Freund:innen, die eine Literaturgruppe bilden, und das Fazit ist eindeutig: »Eine einzige Seite vom ihm genügte, um uns die Gewissheit zu geben, dass wir einen Schriftsteller vor uns hatten, ein Hapax legomenon, einen dieser Sterne, die nur einmal am Himmel der Literatur stehen.« Diégane begibt sich auf die Suche nach mehr Informationen über das Werk und den Autor T. C. Elimane.

In Paris trifft er die Schriftstellerin Siga D., die ihm eines der raren Exemplare des Buches übergibt. Er findet im Pressearchiv heraus, dass das Werk kurz nach der Veröffentlichung aufgrund von entdeckten Plagiaten (fast) in Gänze vernichtet wurde und dass über den Autor kaum etwas bekannt ist. Was ihn ärgert, ist, dass die Artikel sich weniger mit dem Inhalt des Romans und mehr mit dem afrikanischen Schriftsteller beschäftigen, der dieses Meisterwerk verfasste:

Wird über Literatur, über ästhetische Werte gesprochen, oder spricht man über Personen, über ihre Hautfarbe, ihre Stimme, ihr Alter, ihr Haar, ihren Hund, das Fell ihrer Katze, ihre Wohnungseinrichtung, die Farbe ihres Sakkos?

Er besucht Siga D. in Paris und reist schließlich in sein Geburtsland, den Senegal, um seinen Kenntnisstand zu vertiefen. Dabei werden ihm verschiedene Geschichten offenbart, die sich zeitlich von 1888 bis zur Gegenwart sowie geographisch über Europa, Südamerika und Afrika erstrecken. Gleichzeitig berichtet der Roman über Diéganes Leben: seine Literaturgruppe in Paris, seine Beziehung zu Aïda sowie über seine Affären, seine Familie und die Revolution im Senegal.

Völlig verschiedene Zwillinge

Diégane erfährt auf seiner Reise von einer dramatischen Erzählung: In einem senegalesischen Dorf kommen 1888 Zwillinge zur Welt. Äußerlich passen die beiden Jungen zueinander, innerlich unterscheiden sie sich stark voneinander. Im Schulalter trennen sich ihre Lebenswege, denn der eine Junge besucht die Schule der Toubabs, die Schule der Weißen, der andere wird in die mystischen Traditionen eingeführt. Später verlieben sich beide in eine ungewöhnliche Frau namens Mossane, die sich unter dem Mangobaum des Dorfes aufhält und sich für einen der Männer entscheidet. Die Lebensfrage – die sich über den gesamten Roman erstreckt – stellt sich der andere: »Warum er?« Schließlich gebärt Mossane ihren Sohn Elimane, der durch die Beziehung der drei Personen geprägt wird.

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Mohamed Mbougar Sarr
Die geheimste Erinnerung der Menschen

Übers. von Holger Fock, Sabine Müller
Hanser: München 2022
448 Seiten, 27,00€

Der Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen ist in drei sogenannte Bücher unterteilt, die jeweils verschiedene Handlungsstränge unterschiedlicher zeitlicher Ebenen enthalten. Die Handlungen sind, die lesende Person erfährt es nach und nach, miteinander verwoben. Zum Teil wird dieselbe Handlung aus der Sicht verschiedener Figuren berichtet. Dabei treffen verschiedene Textsorten aufeinander: Erzählungen, Briefe, Artikel. Die Stränge werden durch die Frage des Protagonisten zusammengeführt, dessen Freund Musimbwa eine Antwort vorschlägt: »Wer war eigentlich Elimane? Das gelungenste und zugleich tragischste Produkt der Kolonisation.­«

Wer war T. C. Elimane?

In den Abschnitten der Erzählungen ist der Text durch eine poetische Sprache geprägt, die ausschweifende Metaphern enthält und viele Details zulässt. Manche Kapitel stellen explizit Gewalt und Sexualität in diesem Stil dar. In Bezug zu den Eigenschaften des Protagonisten wirkt der Stil dieser Schilderungen angemessen. Zum Teil bewegen diese Textstellen Außenstehende, sodass sie die Dramatik der Situation regelrecht mitfühlen können. Bei anderen Stellen empfinden sie dort jedoch Abschreckung oder Ekel.

Hinzu kommen fantasierende Abschnitte, zum Beispiel im Zuge des Sterbens von Figuren oder als Teil der übernatürlichen Kräfte, an die die Bevölkerung des senegalesischen Dorfes glaubt. Auf der Zeitleiste, die der Roman eröffnet, wird die Gegenwart unter anderem durch die Nennung der Hashtags, die beim Hochladen eines Gruppenfotos verwendet werden, verdeutlicht. Insgesamt eröffnet sich daher ein Text, der mal Krimi, mal Liebesgeschichte und mal philosophischer Essay ist.

Ein spannender Roman, in dem noch viel zu entdecken bleibt

Herausfordernd wirken die anspruchsvollen Exkurse, die sich zum Beispiel entlang von Literaturdiskursen erstrecken. Darin werden beispielsweise Auseinandersetzungen über das Spannungsfeld von literarischen Plagiaten und Inhalten, die an Literaturtraditionen anknüpfen, thematisiert. Auch ein Diskurs über Autoren als Schreibende gegenüber Autoren als Menschen wird angerissen. Diese Ausführungen und die vielen wiederkehrenden Elemente, von der Einsamkeit bis zum Mangobaum, wirken bedeutsam und regen zu abschweifenden Recherchen rund um den Roman von Sarr, Literatur im Allgemeinen und die senegalesische Kultur an. Die geheimste Erinnerung der Menschen ist ein spannender, ironischer und frecher Roman, der Lesende mit seiner Vielschichtigkeit in seinen Bann zieht und unendlich viele Entdeckungen ermöglicht.

Im Verlauf der Handlung gelangt auch Diégane schließlich an den mysteriösen Ort unter dem Mangobaum. Dort liest er abermals das fesselnde Buch Das Labyrinth des Unmenschlichen und erinnert sich möglicherweise an den Appell seines Freundes Musimbwa:

Das war ich einmal, und das hat dieses Buch nun aus mir gemacht. Jetzt bist du dran: Zeig uns, was in dir steckt.

Oder ist das ein Appell an uns Lesende?

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2 Kommentare

  1. says: Holger Fock

    Liebe Frau Röttger,

    Sie haben nicht “La plus secrète mémoire des hommes” rezensiert, sondern “Die geheimste Erinnerung der Menschen” und daraus auch zitiert. Abgesehen davon , dass die Nennung der Übersetzer als Miturheber:innen der deutschen Version des Romans ein Frage der guten Sitten und des intellektuellen Anstands ist, gehört zu Zitaten rein urheberrechtlich die Quellenangabe unter Nennung aller Miturheber, also auch der Übersetzer:innen. Da es sich um einen Blog handelt, können Sie das Versäumte noch nachholen.
    Mit freundlichen Grüßen, H. F.

    1. says: litlog

      Lieber Herr Fock,
      vielen Dank für den Hinweis! Wir haben die Namen der Übersetzer:innen ergänzt und bitten für das Versäumnis um Entschuldigung.
      Herzliche Grüße
      die Litlog-Redaktion

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