Großes Theater auf kleinem Raum

Das Mathilde Westend bietet gerade einmal 17 Zuschauer*innen Platz. Auf 15m² zeigt es mit seiner Inszenierung von Charlotte Brontës Jane Eyre allerdings, wie großes Theater gemacht wird. Trotz des begrenzten Raumes mangelt es der Produktion an nichts.

Von Anika Tasche aus München

Bild: by Julien Reveillon via unsplash, unsplash licence

15m² ist die Größe meines WG-Zimmers in München. Es passt alles rein, was man fürs Leben so benötigt, vielmehr aber auch nicht. Dass man auf 15m² auch ein ganzes Theater einrichten kann, hätte ich vor meinem Besuch bei Mathilde Westend nicht gedacht. Doch tatsächlich ist es möglich, 17 Zuschauer*innen und zwei Schauspieler*innen unterzubringen und auf kaum etwas verzichten zu müssen, was auch ein großes Haus zu bieten hat.

Das Mathilde Westend ist in einem ehemaligen Ladenlokal untergebracht. Von außen relativ unscheinbar, könnte es den einstigen Betrieb als Tante-Emma-Laden auch wieder aufnehmen, wenn denn die Jalousien hochgezogen wären. Doch gegen kurz vor halb acht versammeln sich auffällig viele Menschen vor dem unscheinbaren Eingang und warten auf den Einlass. Sie haben ihre Karten bereits früh im Voraus erworben, denn das Theater ist nahezu immer ausverkauft.

Kaum Raum, dafür viel Nähe

Wenn man den Raum betritt, ist man zuerst ein wenig überfordert. So klein hätte man es sich vielleicht dann doch nicht vorgestellt. Am heutigen Abend hat Theresa Hanich ihr Theater zu einer ›Laufsteg-Bühne‹ gemacht. Das Publikum sitzt sich quasi gegenüber. Beine ausstrecken und zurücklehnen ist hier eher ungeeignet, denn sonst stellt man schnell Theresa Hanich (Jane Eyre) oder Alexander Wagner (Mr. Rochester) ein Bein und der Theaterabend wäre womöglich früher vorbei als geplant. Als Abgang von der Bühne steht den beiden lediglich der Weg auf die Toilette oder auf die Straße frei, viel mehr Möglichkeiten haben sie nicht. Man spürt bereits beim Einlass, dass man nur selten Schauspieler*innen so nah kommt wie hier. Dies macht den Charme des Theaters aus, ist aber anfangs auch etwas ungewohnt. Jede Miene kann genauestens beobachtet, jedes Magenknurren gehört werden. Das stellt für die Schauspieler*innen sicher eine besonders große Herausforderung dar, die sie jedoch mit Bravour lösen.

Da der Raum begrenzt ist, können nicht unendlich viele Schauspieler*innen auf der ›Bühne‹ stehen. Entweder findet man eine Lösung, wie man das Personal mit nur wenigen Darsteller*innen abdeckt, oder man entscheidet sich gleich für ein Stück, das mit wenig Figuren auskommt. Bei Charlotte Brontës 650-seitigem Roman Jane Eyre mag wohl eine Mischform vorliegen. Erzählt wird die Geschichte der Titelheldin, ein Waisenkind, das in seiner Kindheit schlechte Behandlung erfährt. Schließlich findet Jane jedoch eine Anstellung als Gouvernante im Hause von Mr. Rochester. Als der Hausherr nach einer langen Reise zurückkehrt, lernt sie ihn erstmals kennen. Immer häufiger möchte er Zeit mit ihr verbringen. Ihrem jungen Glück steht jedoch etwas im Wege.

Multifunktionalität auf allen Ebenen

Auch die Inszenierung im Mathilde Westend setzt bei der Kindheit der Protagonistin an. Anders als in großen Häusern kommen keine Kinder auf die Bühne, sondern die ersten Lebensjahre von Jane vermitteln Hanich und Wagner mittels Handpuppen. Ein schöner Effekt, erinnern doch Handpuppen sowieso an das Puppentheater, was man vielleicht als Kind in seinem Kinderzimmer veranstaltet hat. Hier wird es allerdings nicht zum Kaspertheater, denn sofort findet man sich durch die mangelnde Distanz zur Bühne in die Geschichte gezogen und erkennt die missliche Lage des jungen Mädchens. Als Janes Freundin Helen verstirbt, verschwinden auch die Handpuppen von der Bühne und Theresa Hanich übernimmt die Hauptrolle. Nur zwei Mal bedarf es noch weiterer Rollen. Einmal übernimmt Hanich, das andere Mal spielt Wagner hinter einer Schattenwand, ansonsten konzentriert sich die Produktion auf die Beziehung von Jane und Mr. Rochester.

Reihe

Direkt aus Göttingen verschlug es unsere ehemalige Redakteurin für ein Volontariat in einem renommierten Literaturverlag nach München. Zwei ihrer großen Leidenschaften, Litlog und Theater, bleibt sie in unserer Reihe »Bis der Vorhang fällt« als Münchener Theaterkorrespondentin dennoch treu.

Und mit den einfachsten Mitteln schafft es das Stück, die Zuschauerinnen in seinen Bann zu ziehen. Da wird eine samtüberzogene Kiste zum Hocker, dann zum Koffer, schließlich finden sich auch noch Brautkleid und Gläser in ihr. Alle Requisiten sind irgendwo im Raum versteckt und werden nach Bedarf hervorgeholt. Daneben sei noch angemerkt, dass die Schauspielerinnen an diesem Abend nicht nur auf der Bühne stehen, sondern auch alles managen, wofür es andernorts zusätzliches Personal gibt. Mit seinem Smartphone steuert Wagner die Musik. Er baut den Beamer auf und ab, wenn Filmsequenzen gezeigt werden, und auch für diverses atmosphärisches Licht sorgen die Zwei. Trotz dieses Multitasking Jobs spielen sie ihre Rollen mehr als überzeugend und lassen sich von nichts aus der Fassung bringen.

Eine knackige Dramatisierung

Es ist durchaus spannend, wie die beiden den doch arg begrenzten Raum bespielen. Doch zurück zum Wesentlichen: Für die Inszenierungen wurden einige Aspekte abgeändert. So erfährt Jane nicht von der Haushälterin, dass ihre Schülerin Adele nicht die Tochter von Mr. Rochester ist, sondern direkt vom Vater, was die Hierarchie im Hause von Beginn schwächer erscheinen lässt. Hinzu kommt eine Affäre von Mr. Rochester mit der attraktiven Miss Blanche. Diese und weitere Änderungen unterstützen jedoch die Darstellbarkeit. Immer wieder sprechen die Darsteller*innen aus dem Off auch einzelne Partien. Das hat den Vorteil, dass das Stück keine Längen aufweist, wie es sonst oftmals der Fall ist, wenn sich Schauspielhäuser derart umfangreicher Romane annehmen. Ebenso werden einzelne Lebensabschnitte durch Videos gezeigt. (Kaum vorstellbar, dass die Leinwand auch noch in den Raum passt, doch auch dies bekommen Hanich und Wagner hin.) Es lässt sich darüber streiten, ob es als gelungen gewertet werden kann, dass die beiden Filme äußerst modern wirken. Einer von ihnen spielt sogar in einem Club. Allerdings muss man dies dann wohl wirklich mit den beschränkten Möglichkeiten von Mathilde Westend entschuldigen.

Und noch einen Clou hat sich das Ensemble ausgedacht: Anstatt Miss Blanche durch eine Doppelbesetzung darzustellen, wurde das Publikum integriert. Mein großer Auftritt begann, als Mr. Rochester neben mir Platz nahm, um zu flirten. Was tut man nicht alles für eine Schnapspraline? Das Mathilde Westend zeigt also nicht nur, was auf begrenzten Raum alles möglich ist und wie kreativ man eine ungewöhnliche Bühne bespielen kann, sondern auch, dass es durchaus möglich ist, großen Klassikern in einer kurzweiligen Inszenierung gerecht zu werden. Ein spannendes und überaus gelungenes Konzept. Die Münchener Theaterwelt scheint einiges zu bieten zu haben. Gut, dass der Vorhang erst fällt, wenn ich mehr gesehen habe.

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