Gute Nacht und ab ins Rabbit Hole

Theresia Enzensberger beleuchtet in ihrem Essay Schlafen ein menschliches Grundbedürfnis. Sie selbst leidet unter Schlaflosigkeit und ist damit nicht allein. Wie Schlaf funktioniert, welche Rolle neoliberale Ideologie spielt und was es mit den Zwischenwelten des Schlafs auf sich hat, wird hier deutlich.

Von Lisa Marie Müller

Bild: Via Pixabay, CC0

In jeder Empfehlung für ein gesundes Leben, in jedem Ratgeber gegen Stress und bei diversen Krankheiten hilft: Matcha! Nein Spaß, es geht immer auch um: Schlaf. Um erholsamen Schlaf möglichst durchgehender Art. In Theresia Enzenbergers Essay Schlafen wird darauf verzichtet, die gesundheitlichen Vorteile von (regelmäßigem und ausreichendem) Schlaf aufzuzählen. Sie widmet sich lieber den Zwischenstadien des Schlafs, kulturellen Bezügen, einer schaurigen traumartigen Erzählung und verpackt nebenbei Wissen zu Schlafstadien so genial, dass man auf kunstvolle Art etwas darüber lernt.

(Schlaf-)Phasen

Enzensberger war laut Selbstaussage lange »eine gute Schläferin«. Leider ist sie mittlerweile von Schlaflosigkeit betroffen. Bei ihr kommt die Insomnie phasenweise. Sie kann wochenlang gut schlafen und dann plötzlich nicht mehr. Dann kickt schnell auch die Angst, nie mehr schlafen zu können und der Albtraum des nächtlichen Wachseins nimmt seinen Lauf. Das Gruselige: Je mehr man sich mit Schlaflosigkeit beschäftigt, desto verfahrener wird es oft. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man noch nie (übermüdet) in ein Rabbit Hole zu Schlaflosigkeit/Schlafhygiene abgetaucht ist. Ist Schlafen kein Problem, so ist Enzensbergers Meinung: Beschäftigt euch nicht zu viel damit, hinterfragt es nicht. Falls man es doch tut, gibt es zumindest viele literarische Vorbilder von Kafka bis Susan Sontag und nicht zuletzt Enzensberger selbst.

Schlaf, so lernt man zu Beginn des Essays, besteht aus mehreren Zyklen, die ein Mensch ungefähr vier bis sechs mal pro Nacht durchläuft. Jedes der vier Kapitel ist benannt nach einer Schlafphase des Schlafzyklus. Das Besondere und durch und durch gelungen ist die Aufteilung und inhaltliche Anpassung des Essays an diese Schlafphasen: Die Kapitel sind in ihrem Anteil am ganzen Buch so lang wie eine Schlafphase. Das ist schon toll. Aber es geht noch weiter: Je nachdem, wie tief die Phase ist, so tiefgreifend widmet sie sich auch einem Thema: »Als Erstes kommt die Einschlafphase, bei der es, wie in diesem Kapitel, noch um ein Außen geht.« Als Leser:in stellt man sich darauf ein, was kommt, ist bereit für den Fall (ins Rabbit Hole). Im darauffolgenden Kapitel »Leichter Schlaf« wird das Gehirn stark beansprucht, es »ist der essayistische Teil des Buches, der am weitesten in die Gefilde von Politik und Theorie vordringt.« Es ist der größte Teil des Buches mit circa 45 Prozent. Anschließend folgt das Kapitel »Tiefschlaf«, in dem Enzensberger auf Schlafbezüge in Literatur und Kunst eingeht. Im letzten Kapitel »Traumschlaf« bekommen wir eine albtraumhafte Kurzgeschichte serviert, die einen starken Sog entfaltet und viel Mitgefühl für die Protagonisten erzeugt. Was Enzensberger besonders interessiert, sind die Zwischenwelten des Schlafs, also die Übergänge und Grenzwelten der Zurechnungsfähigkeit. Die haben es ihr so sehr angetan, dass sie ein ganzes Buch über ein schlafwandelndes Mädchen geschrieben hat, dem heimlich verschreibungspflichtige Psychopharmaka und Schlafmittel gegeben werden. Der dystopische Schauerroman Auf See sei an dieser Stelle auch wärmstens empfohlen.

Albtraum ›Gesellschaft‹?

In Enzensbergers gut recherchierter Analyse zu Schlaf und Neoliberalismus wird deutlich: Es geht um das Normieren von Schlaf. Als Nachtschlaf, als bestimmte Stundenanzahl usw. Im Gegensatz zu Essverhalten beispielsweise, wo weitaus mehr Normabweichungen nicht nur toleriert, sondern sogar berücksichtigt werden bei Einladungen zum Essen: »Nur der Schlaf soll heute genau sechs bis acht Stunden dauern, im eigenen oder im gemeinsamen Bett eines Paares zu den richtigen Zeiten stattfinden, und am besten durchgehend sein.« Normabweichungen werden gesellschaftlich als moralisch verwerflich bewertet. Wie es wäre, wenn die Priorität auf Schlafen als wichtiges Grundbedürfnis liegt statt auf dem Funktionieren im wachen Zustand? Davon können wir nur träumen.

Theresia Enzensberger
Schlafen
Hanser Berlin: 2024
112 Seiten, 20 €

Doch Schlafen und auch strukturelle Schlafqualität sind natürlich politisch und bilden Probleme unserer Gesellschaft ab: »Unterdrückung, Diskriminierung, Armut – all das sind Faktoren, die Auswirkungen darauf haben, wie gut oder schlecht jemand schläft.« Enzensberger betont, dass es nichts bringt, Schlafprobleme als individuelle Probleme zu betrachten und zu behandeln (mit Coaching und Medis). »Dabei ist es ja völlig einleuchtend, dass uns der Schlaf geraubt wird.« Seit der Verbreitung von Smartphones sind Schlafstörungen enorm angestiegen, sie nennt Statistiken, beschreibt die Entwicklungen nachvollziehbar. Auch der Klimawandel hat Einfluss – steigende Temperaturen kosten immer mehr Menschen den Schlaf. Wichtig ist zu unterstreichen: Besonders Frauen und Menschen aus Ländern mit geringen Einkommen (keine Klimaanlagen) sind betroffen. Unsere Lebenswelt widerspricht oftmals individuellen Schlafbedürfnissen.

»I’m gonna start a revolution from my bed«

Enzensberger leuchtet die Bewusstlosigkeit, das Unproduktive des Schlafens aus und macht deutlich: Im Kapitalismus ging es nie darum, genug zu schlafen, um uns gut zu fühlen. Es geht darum, exakt so viel Schlaf zuzulassen, dass man am nächsten Tag wieder arbeiten kann. Sie geht auf die marxsche »industrielle Reservearmee« ein: Die Menge an Arbeitslosen, die zur Verfügung stehen, wenn Arbeiter:innen nicht mehr können, krank werden oder sterben. Es ist systemisch eingeplant, langfristige Folgen von Schlafmangel durch andere Arbeitskräfte zu kompensieren. Enzensberger ordnet das Offensichtliche politisch ein: Während des Schlafs ist man weder produktiv noch Konsument:in. Das Paradoxe für den Kapitalismus: Dennoch brauchen wir den Schlaf, um unsere Arbeitskraft zu reproduzieren, also arbeitsfähig sein zu können. Ist also emanzipatorisch, einfach mal länger liegen zu bleiben? Vielleicht sogar seinen eigenen Chronotypen, irgendwo zwischen Lerchen und Eulen, kennenzulernen? Zumindest gibt es neuerdings Bücher wie Den Kapitalismus vom Sofa bekämpfen, die man als Anleitung ausprobieren könnte.

Die Quellen zu Schlaf und Kapitalismuskritik sind hervorragend gewählt und auch die Recherche, die hinter dem Buch steht, macht Schlafen zu einem tollen Essay als Einstieg in die Schlaf-Beschäftigung. Das Ende des Buches bilden fast hundert Quellenverweise, die alle spannend klingen. Auf ins nächste Rabbit Hole. Kriegt man nicht genug von Rabbit Holes und kurzen Essays zu Themen, die uns alle betreffen, bietet Hanser mit der Reihe Leben, in der Schlafen erschienen ist, noch weitere Möglichkeiten des Rabbitholens: Arbeiten, Wohnen, Streiten, Spielen, Essen, Lieben und Altern sind erschienen bzw. erscheinen in Kürze. Immer von einer anderen Autorin, immer ein persönlicher Zugang in Essayform. Man darf gespannt sein!

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