Hans Castorp in den Japanischen Alpen

Mit seinem Film Wie der Wind sich hebt setzt Hayao Miyazaki seinem problematischen Protagonisten ein Denkmal. Ein Vergleich mit Thomas Manns Der Zauberberg, auf den sich der Film bezieht, zeigt, dass der Film sich aber gegen die Absicht seines Schöpfers richten kann. Macht das den Film besser? Von einem zum Glück gescheiterten Versuch, diesen Film durch eine vergleichende Analyse naiverweise ›retten‹ zu wollen.

Von Frederik Eicks

Bild: Akaishi Mountains (bearbeitet), CC0

Es ist 2005, ich gehöre jetzt zu den großen Grundschulkindern und kenne (fast) alle Disney-Filme, Mulan mag ich am allermeisten. Anlässlich meines Geburtstags zielt mein filmkundiger Onkel auf meine Zeichentrickfaszination ab und schenkt mir – Chihiros Reise ins Zauberland von Hayao Miyazaki auf DVD. Ich glaube, ein wenig ist da mein kindlicher Kopf explodiert: Warum ist das so neu und ungewohnt und aufregend? Warum die Gestaltung so verspielt, der Ton so todernst? Ich stelle mir vor, mir solche Fragen gestellt zu haben, obwohl ich sie in dem Alter nie so hätte versprachlichen können. Seit dieser Initiation gehören die Filme Miyazakis – und auch seines Studio Ghibli im Allgemeinen – zu meinen absoluten Lieblingen, auch wenn ich mich erst in Studienzeiten systematisch durch diese Filmographie gesehen habe. Mit meiner Faszination bin ich nicht allein, denn die Ghibli-Filme sind zu einem popkulturellen Phänomen mit immenser Breitenwirkung geworden. Was Miyazaki anfasst, wird zum modernen Klassiker des Animationsfilms. Seine Filme verwandeln die banalsten Alltäglichkeiten wie Gemüse schnippeln und Wäsche aufhängen in wunderbar schöne Ereignisse, denen dann Krieg, Tod und Waldsterben gegenübergestellt werden.

Gerade für die gelungenen Auseinandersetzungen mit pazifistischen, ökologischen und sozialen Fragen, aber auch für das reine handwerkliche Geschick, das die Filme prägt, ist Miyazaki immer wieder gelobt worden. Angesichts seiner klaren politischen Positionierung1Wenig bekannt außerhalb Japans ist, dass die Anfänge des politischen Engagements Miyazakis und seines Mitstreiters Isao Takahata im gewerkschaftlichen Arbeitskampf, federführend organisiert von der Kommunistischen Partei Japans, liegen. Vgl. Owen Hatherley: Die roten Wurzeln von Studio Ghibli, übers. v. Sven Ulfig. In: Jacobin, 18.09.2024. URL: https://jacobin.de/artikel/studio-ghibli-hayao-miyazaki. Letzter Zugriff: 30.04.2025. hielt sein Anime-Film Wie der Wind sich hebt (japanisch: Kaze tachinu) von 2014 für viele eine Überraschung bereit. Zwar kommt auch hier die gewohnte Antikriegs-Haltung zum Ausdruck, dennoch gilt der Streifen dem Kritiker Stefan Volk (und nicht nur diesem) »wegen eines fragwürdigen Umgangs mit der japanischen Vergangenheit [als] Miyazakis umstrittenster Film.«2Volk, Stefan: The Wind Rises (Kaze tachinu). Hayao Miyazaki. In: Filmbulletin 56, H. 341 (2014), S. 31, hier S. 31.

Ein Flugzeugingenieur als Kriegsverbrecher?

Bei Kaze tachinu handelt es sich um ein Biopic der historischen Person Jirō Horikoshi, der in den 30er- und 40er-Jahren als Luftfahrtingenieur im Auftrag der Streitkräfte des Japanischen Kaiserreichs Kampfflieger entwickelt, die Mitsubishi A5M und deren Nachfolgemodelle, darunter die unter Flugzeugkennern für ihr elegantes Design geschätzte ›Zero‹. So ein Stoff kann selbstverständlich filmisch verarbeitet werden, aber was Kaze tachinu für Filmkritiker Volk, für mich und viele weitere so problematisch macht, ist die stark sympathisierende, wenig differenzierte Haltung von Regisseur und Drehbuchautor Miyazaki zu seinem Protagonisten. Das demonstriert allein der Abspann, der das Werk dem Gedenken Horikoshis widmet.3Wie der Wind sich hebt [Kaze tachinu]. Regie: Miyazaki, Hayao. Drehbuch: Miyazaki, Hayao. Japan 2013, 02:03:03. Im Folgenden wird der Film unter Angabe des Zeitstempels direkt im Text zitiert. Ist Horikoshi nicht letztlich genauso ein Kriegstreiber, wie sie im Hause Ghibli sonst verspottet werden? Einen möglichen Grund für die naive Darstellungsweise im Film liefert der Kulturwissenschaftler Hisaaki Wake. Er weist auf den biografischen Bezug Miyazakis und seinen dadurch wohl getrübten Blick hin: Als Fabrikbesitzer war Miyazakis Vater an der Produktion japanischer Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg beteiligt.4Wake, Hisaaki: On the Ideological Manipulation of Nature in Japanese Popular Culture: Miyazaki, Hyakuta, and Ishimure. In: ders./Suga, Keijiro/Masami, Yuki (Hg.): Ecocriticism in Japan. Boulder u.a. 2018, S. 223-238, hier S. 224f.

Was macht man jetzt als Mensch, dem Miyazakis Filme so ans Herz gewachsen sind, mit Kaze tachinu? Das liegt auf der Hand: Man studiert vergleichende Literaturwissenschaft, man belegt das Seminar ›Einführung in die Filmanalyse‹ und schreibt eine Hausarbeit, in der man den Film gegen den Strich liest, um ihn besser zu machen, als er den Intentionen seines Machers nach ist. Also… das ist zumindest, was ich gemacht habe. Ich wollte diesen Film ›retten‹, ich wollte ihn gut finden trotz seiner historisch-politischen Blindflecken. Vorweg: Das ist natürlich sehr naiv – und es hat auch nicht geklappt. Vor meiner Naivität bewahrt hat mich eine gründliche Analyse von Kaze tachinu mit einem besonderen Fokus auf den filmischen Bezug zu Thomas Manns Romanklassiker Der Zauberberg. Mein Forschungsinteresse (abseits von persönlichen Belangen, die in meiner Arbeit selbstredend unerwähnt blieben) lautete: Wie ist der Bezug zwischen diesen beiden Werken eigentlich beschaffen?


Wrack einer Mitsubishi A6M3 Zero, Flugplatz Munda, Salomoninsel New Georgia, September 1943, aufgenommen von der US Navy, via Wikipedia Commons

Meine anfänglichen Überlegungen waren folgende (und damit wechsle ich ins Präsens der Untersuchung): Urteile vom Film als moralisch fragwürdig scheinen vor allem vom intentionalistischen Schluss von der Haltung des Regisseurs auf die Haltung des Films herzurühren. Klarerweise soll der Film Horikoshi in einem positiven Licht zeigen. Dabei sind aber der Film selbst und die Haltung, die er zum Ausdruck bringt, nie genau untersucht worden. Ich vertrete den Ansatz, ein Werk könne Bedeutungen unabhängig von den Absichten des:der Autor:in generieren. Ich gehe erstens davon aus, dass sich in Kaze tachinu ein kritisches Erkenntnispotential eröffnet, das den Absichten Miyazakis entgegensteht. Zweitens denke ich, dass dieses Potential dem intermedialen Bezug des Films auf den Zauberberg entspringt.5Zum einzig von mir auffindbaren Beitrag in der (westlichen) Forschung zu diesem Bezug, vgl. Schelletter, Christopher: Tuberkulose-Sanatorien in den Japanischen und Schweizer Alpen. Thomas Manns Zauberberg und Hori Tatsuos Kaze tachinu. In: Duppel-Takayama, Mechthild u.a. (Hg.): Wohnen und Unterwegssein. Interdisziplinäre Perspektiven auf west-östliche Raumfigurationen. Bielefeld 2019, S. 335-355. Wie am Titel erkennbar, nimmt Schelletter den Film allerdings nur zum Ausgangspunkt, um den Zauberberg mit einer weiteren Vorlage für Miyazakis Film, dem gleichnamigen Roman Kaze tachinu (1936-37) des japanischen Schriftstellers Hori Tatsuo, zu vergleichen.

Bedeutungskonstitution durch intermedialen Bezug

Die Basis bildet eine simple theoretische Grundannahme: Ein intermedialer Bezug, wie er bei Kaze tachinu zum Zauberberg vorliegt, stellt auf spezifische Weise Bedeutung her. In den Worten Irina Rajewskys: »Die Qualität des Intermedialen betrifft in diesem Fall ein Verfahren der Bedeutungskonstitution […]. Dies führt dazu, daß das kontaktgebende Medienprodukt oder mediale System in seiner Differenz und/oder Äquivalenz ›mitrezipiert‹ wird.«6Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002, S. 12. Schaut man sich also den Film Kaze tachinu an, liest man gleichzeitig den Zauberberg mit und stellt Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten beider Werke fest. Diesem Mitlesen entspringen neue Bedeutung oder Bedeutungsfacetten. Von diesem Wissen ausgehend könnte man fragen: Wie gewissenhaft hat Miyazaki den 1000-seitigen Zauberberg gelesen? Wahrscheinlich sehr: Die Anspielungen sind umfassend und exakt ausgeführt – konsequent zu Ende gedacht zeitigen sie jedoch einen Sinn, den Miyazaki nicht beabsichtigt hat. Um das zu erkennen, muss man den konkreten intermedialen Bezug einmal genau unter die Lupe nehmen.

Dass überhaupt ein Zauberberg-Bezug vorliegt, wird erst kurz nach der Hälfte des Films deutlich, dafür mittels eines umso klareren verbalsprachlichen Verweises. Hier tritt eine Figur auf, die denselben Namen trägt wie der Protagonist des Zauberberg, Hans Castorp, und die den Roman auch noch selbst erwähnt. Der doppelte Name bedingt einen terminologischen Hinweis: Meine ich die Filmfigur, schreibe ich Castorp; meine ich die Romanfigur, schreibe ich Hans Castorp. Horikoshi und Castorp sitzen auf der Veranda eines Hotels in einem kleinen, abgelegenen Ferienort und kommen ins Gespräch (01:15:24):

Castorp: Er [der deutsche Flugzeugbauer Hugo Junkers, FE] geriet in Streit mit der Regierung, es kam zum Bruch.         
Horikoshi: Mit der Regierung von Herrn Hitler?    
Castorp: Das ist eine Bande von sehr gefährlichen Verbrechern. Es ist schön hier, finden Sie nicht auch? Keine Mücken weit und breit, es ist nicht zu heiß und die Kresse schmeckt gut. Das ist ein guter Ort, um schlimme Dinge zu vergessen. 
Horikoshi: Wenn Sie mögen [eine Zigarette, FE]? Leider nur japanische.      
Castorp: Danke. Was für eine schöne Nacht. Das hier erinnert mich an den Zauberberg.
Horikoshi: Der Zauberberg? Thomas Mann?        
Castorp: Es ist ein guter Ort, wenn man etwas vergessen möchte. Der Krieg, der in China herrscht – wir vergessen ihn. Der Marionettenstaat in der Mandschurei – wir vergessen ihn. Austritt aus dem Völkerbund – vergessen. Sich die Welt zum Feind machen – vergessen. In Japan wird es krachen. In Deutschland wird es auch krachen.
Horikoshi: Meinen Sie, Deutschland wird wieder in den Krieg ziehen?         
Castorp: Ja, wenn niemand es verhindert.7Ich zitiere die deutsche Synchronisationsfassung, da ich die japanische Sprache nicht beherrsche. Es sei nur darauf hingewiesen, dass es zu relevanten Abweichungen im Vergleich zur Originalfassung kommen kann. Beispielsweise ist der Satz »Das hier erinnert mich an den Zauberberg« wörtlich zu übersetzen als »Das hier ist Der Zauberberg«. Zu beachten ist auch, dass in dieser Szene Castorp den deutschen Originaltitel nennt, Horikoshi hingegen die japanische Übersetzung des Titels.

Zwei Parallelen: Figurenkonstellation und zentrales Thema

Liest man nun den Zauberberg mit, dessen Handlung in einem Sanatorium im schweizerischen Davos im Jahr 1907 einsetzt und am Ende in eine Schlachtenszene zu Beginn des Ersten Weltkriegs mündet, ergeben sich zwei grundlegende Parallelen. Die erste liegt in der Figurenkonstellation. Die Filmfigur Castorp in Kaze tachinu weist keine charakterlichen Ähnlichkeiten zur Romanfigur Hans Castorp auf. Stattdessen übernimmt Castorp die Rolle des Lodovico Settembrini, der den Protagonisten im Zauberberg immer wieder zu unterrichten versucht: Im Film ist nun Castorp Aufklärer und Erzieher, der den Protagonisten Horikoshi, der entsprechend die Position Hans Castorps einnimmt, mit seiner Unwissenheit konfrontiert und vor dem Vergessen warnt. Dabei schließt Castorps Rede sogar inhaltlich an Settembrini an, der an einer Stelle im Roman vor den Gefahren der Musik warnt, die »betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet«.8Mann, Thomas: Der Zauberberg. In: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a.M. 1981, S. 162. Im Folgenden zitiere ich diese Ausgabe mit Seitenangabe direkt im Text.

Aus den Übereinstimmungen zwischen den Figuren ergibt sich die zweite Parallele, ein grundlegendes Thema, das sich die beiden Werke teilen: Im Zauberberg wendet sich Hans Castorp sieben Jahre lang voll und ganz dem luxuriösen Leben im Sanatorium zu und vollzieht darin »eine Abkehr von den Zeitläuften«.9Kablitz, Andreas: Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt. 2., überarb. Aufl. Heidelberg 2020, S. 28. Aus der naiven Weltabgewandtheit wird Hans Castorp mit Beginn des Ersten Weltkriegs aufgescheucht: »Verdutzt sitzt er [Hans Castorp beschrieben als Siebenschläfer, FE] im Grase und reibt sich die Augen, wie ein Mann, der es trotz mancher Ermahnung versäumt hat, die Presse zu lesen« (995f.).10Im Film gibt es einen deutlichen Verweis auf diese Textstelle, der die entgegengesetzten Rollen von Roman-Castorp und Film-Castorp nochmals unterstreicht: Wir sehen Castorp im Speisesaal des Hotels, wie er die Zeitung liest (1:09:13). Dass Horikoshi zu einem ähnlich naiven, abgewandten Verhältnis zum Weltgeschehen neigt, zeigt sich nicht nur im oben zitierten Gespräch mit Castorp, sondern auch an anderen Stellen des Films. Am deutlichsten dann, wenn sein Idol, der italienische Ingenieur Giovanni Battista Caproni, ihn darauf hinweist, dass die Flugzeuge, die er so liebt, in Zeiten des Krieges als »Instrumente[] von Tod und Vernichtung« (57:32) gebraucht werden. Horikoshi, bestärkt durch Caproni, erwidert bloß: »Ich glaube, ich möchte einfach schöne Flugzeuge bauen« (57:48). Die beiden Protagonisten sowohl in Kaze tachinu als auch im Zauberberg erliegen einer Verzauberung und werden in den Bann gezogen: Hans Castorp vom müßiggängerischen Sanatoriumsleben, Horikoshi von seinem kindlichen Ingenieurstraum.

Geistesblitze: Live aus dem Studium

Was hat euch während des Studiums inhaltlich beschäftigt und nicht mehr losgelassen? Worüber hattet ihr mal ein Seminar oder habt eine Prüfungsleistung zu abgelegt – und hattet währenddessen eine wichtige, neue Erkenntnis? Das alles wollen wir in unserer Reihe »Geistesblitze: Live aus dem Studium« sichtbar machen. Hier reflektieren die Autor:innen über ihre »Geistesblitze« und Momente in Lehrveranstaltungen, die sie geprägt haben. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand und sind hier zu finden.

Auf die Verzauberung folgt am Ende natürlich die Entzauberung: In der letzten Szene von Kaze tachinu beharrt Horikoshi nicht länger auf der Unschuld seines Traums. Nun antwortet er auf Capronis Aussage, die Wiese, auf der die beiden sich befinden, sei »das Königreich unserer Träume« (2:00:20): »Mir kam es eher wie die Hölle vor« (ebd.). Horikoshi ist von der Idee eines unschuldigen Traums und auch vom Traum selbst gelöst, der ihn nicht mehr in den Bann zieht. Die Welt dringt wieder in sein Bewusstsein. Das Gleiche geschieht zum Schluss des Zauberbergs mit Hans Castorp: »Er sah sich entzaubert, erlöst, befreit, – nicht aus eigener Kraft, wie er sich mit Beschämung gestehen mußte, sondern an die Luft gesetzt von elementaren Außenmächten« (999).

Zwei Wege aus der Weltabgewandtheit

Was ihre Abkehr von der Welt und schließlich die Rückkehr für das Schicksal beider Protagonisten bedeutet, könnte aber unterschiedlicher nicht sein: Hans Castorp wird zum Opfer seiner eigenen Naivität: »Fünftausend Fuß tief stürzte das Völkchen Derer hier oben sich kopfüber ins Flachland […] und Hans stürzte mit« (1000). Er reist ab, und nach einem harten Bruch in der Erzählung findet er sich auf einem völlig chaotischen, mit der Hölle assoziierten Schlachtfeld in Flandern wieder, dessen Darstellung keinen Zweifel lässt: Was Hans Castorp im Ersten Weltkrieg erlebt, ist schrecklich. Zwar bleibt sein weiteres Schicksal faktisch offen, aber sein Umkommen im Krieg wird sehr nah gelegt: »Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst« (1005). Horikoshis Naivität hingegen macht ihn zum Täter am heimeligen Zeichentisch, der mit dem erfolgreichen Bau der Mitsubishi A5M die Geschicke der japanischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg wesentlich mitbestimmt. Auch in Kaze tachinu bricht die Erzählung ab, um uns dann die letzte Szene zu präsentieren, und zwar in dem Moment, in dem zum ersten Mal ein Flugtest eines von Horikoshi entworfenen Kampffliegers glückt (1:57:22). Die Hauptfiguren schlagen von ähnlichen charakterlichen Dispositionen ausgehend unterschiedliche Wege ein: Hans Castorp kommt als unbedeutender, schlecht ausgerüsteter und kaum ausgebildeter Gefreiter vermutlich ums Leben, Horikoshi lebt als angesehener Ingenieur weiter11Das entspricht dem mehrfach zitierten Vers Paul Valérys, von dem der Film seinen Titel hat: »Le vent se lève !… Il faut tenter de vivre !« / Der Wind erhebt sich ! … Man muss wagen zu leben ! (eigene Übers.) (Valéry, Paul: Le cimetière marin. In: ders.: Œuvres, Bd. 1, hrsg. v. Jean Hytier. Paris 1957, S. 151. und beklagt: »Nicht eine Maschine ist zurückgekommen« (02:01:14) – von den Menschen in diesen Maschinen keine Rede.

Der Knackpunkt an der Sache ist nun: Kaze tachinu zeigt Horikoshi nicht als Täter, auch nicht als Mitstreiter oder Unterstützer des wahnhaft nationalistischen Japanischen Kaiserreiches. Stattdessen wird Horikoshi als eine Art genialer Künstler-Ingenieur porträtiert, der den um ihn herum wirkenden Kräften trotzt und seinen Traum weiterverfolgt.12In diesem Zusammenhang ist auch auf Miyazakis Faszination für Maschinerie und Technik hinzuweisen (vgl. Edo Tena, Fèlix: It is all there in the drawing of the wind. The dialectic between nature and technology in the films by Hayao Miyazaki. In: Mètode 116, 1 (2023). URL: https://metode.org/issues/article-revistes/it-is-all-there-in-the-drawing-of-the-wind.html. Letzter Zugriff: 30.04.2025). Die Wunderwerke der Technik sind für Miyazaki unabhängig vom Zweck, für den sie gebraucht werden, schön. In Kaze tachinu äußert sich diese Faszination in den detailgetreuen Darstellungen der Flugzeuge und ihrer Einzelteile (bspw. in der Werkstattszene ab 01:25:32). Der permanente Krisenzustand der Welt ist in Kaze tachinu deutlich ausgewiesen, aber Horikoshi hat damit nichts zu schaffen, scheint sogar eher als Spielball, wenn er zwischenzeitlich vom japanischen Geheimdienst verfolgt wird. Was eben nicht gezeigt wird, ist Horikoshis eigener Kriegseintritt. Denn in dem Moment, in dem sich seine Kriegsbeteiligung, für die man kein Fußsoldat und kein General sein muss, partout nicht mehr leugnen lässt – mit dem ersten erfolgreichen Test seines Kampffliegers – bricht die Filmerzählung ja ab, ohne dass es ein Schuldeingeständnis des desillusionierten Horikoshi gäbe. Die strukturellen, thematischen und motivischen Parallelen von Kaze tachinu und dem Zauberberg, von denen ich hier nur die wichtigsten, die Hauptfiguren betreffenden besprochen habe, machen es aber möglich, Horikoshis Kriegsbeteiligung aus der Zeit, von der der Film nicht erzählt, sozusagen in den Film hinein zu verlagern.

Die Veränderung von Bedeutung durch den Zauberberg-Bezug

Diese Verknüpfungen zwischen diesen beiden Werken mit zu lesen, führt zur Einsicht einer letzten Parallele, in der ich das kritische Erkenntnispotential sehe, von dem ich eingangs gesprochen habe. Zwar versucht Miyazaki mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, seinen Protagonisten gut dastehen zu lassen, aber indem er auf den Zauberberg Bezug nimmt – und zwar genau auf die spezifisch-prägnante Weise, die im Film vorliegt –, macht er unversehens deutlich: Wenn Hans Castorp im Zauberberg am Ersten Weltkrieg teilnimmt, dann ist auch Horikoshi – der Ähnlichkeit beider Figurenentwicklungen entsprechend –, Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg.13Dieser Schlussfolgerung würde Miyazaki zweifellos widersprechen. Er beruft sich auf das, was Deborah Breen »neutrality of the designer« (Breen, Deborah: Designs and Dreams: Questions of Technology in Hayao Miyazaki’s The Wind Rises. In: Technology and Culture 57, 2 (2016), S. 457-459, hier S. 458) nennt: »But as the Japanese opted for war, it’s useless to blame Jirō for it. Basically, engineers are neutral. For instance, automobiles can help people, but they can also hit them« (Sunaga, Tomomi: Miyazaki Turns to Adult Theme in New Film. In: Japan Times, 18.07.2013. Zit. nach Breen: Designs and Dreams, S. 457). Für den Zauberberg ist es kaum möglich, die Bedeutung des Schlusskapitels im Krieg, das so pointiert platziert wird, für die vorangegangene Geschichte überzubewerten. Dadurch, dass Kaze tachinu sich den Zauberberg zur Folie nimmt, überträgt sich diese Struktur auf den Film.14Diese Erkenntnis gilt mit einer Einschränkung: Bei Kaze tachinu handelt es sich um ein komplexes mediales Gebilde. Es basiert auf dem gleichnamigen Manga von Hayao Miyazaki, wesentliche Strukturelemente speisen sich aus den Romanen Kaze tachinu von Hori Tatsuo und Der Zauberberg von Thomas Mann. Viele weitere Werke wie Schuberts Winterreise oder der deutsche Schlager Christels Lied tauchen auf. Als Tonfilm handelt es sich um eine Kombination aus Bild, Ton, Musik, Sprache und als animierter Film spielen auch die Techniken der Zeichenkunst, Farbgebung usw. eine Rolle. Den Film in der Gesamtheit seiner Intermedialität zu untersuchen, würde bedeuten, alle diese Aspekte in angemessener Weise zu berücksichtigen. Dabei kann sich auch verändern, wie einzelne Bezüge auf andere Werke zu bewerten sind.

Was macht man jetzt mit dieser Erkenntnis? Zunächst einmal korrigiert sie den Status der intermedialen Bezüge des Films: Dass Hori Tatsuos Roman Kaze tachinu eine wichtige Vorlage des Films ist, ist gemeinhin bekannt – schließlich heißen beide Werke gleich. Dass aber auch Thomas Manns Zauberberg für die Struktur des Films von zentraler Bedeutung ist, davon ist nirgends zu lesen. Der Zauberberg-Verweis scheint eher den Status einer kleinen Spielerei zu haben, wird in der Forschung zumeist gar nicht erwähnt.

Potentiale feiern

… Aber was macht man mit dieser Erkenntnis außerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses? Vor allem: Was mache ich, der diesen Film – zumindest insgeheim, denn ›Mir liegt das am Herzen‹ ist nun mal kein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse – retten wollte, mit den gewonnenen Einsichten? Das Wissen um das kritische Bedeutungspotential kann mir auf einer beinah banalen, persönlichen Ebene schlicht helfen, diesen Film zu genießen. Ich kann ihn mögen für das, was ihm gelingt, und kritisieren für das, was ihm misslingt. Ich kann die Potentiale feiern, die sich entfalten, wenn ich mich in dieses riesige Netz fallen lasse, das im wechselseitigen Bezug von Künsten und Medien aufeinander entsteht.

Kaze tachinu retten kann ich auf diese Weise aber nicht. Dafür sind die verklärenden Absichten Miyazakis viel zu dominant. Auch das ist eine Erkenntnis, die ich gewonnen habe. Die gründliche Analyse ermöglicht eben auch, die öffentliche Debatte des Films durch belegbare Befunde auf ein solides Fundament zu stellen. Es drängt sich die Frage auf: Ist es sinnvoll, davon auszugehen, dass der Film eine Bedeutung entfalten kann, die von Miyazaki nicht beabsichtigt war? Diese Grundsatzdebatte kann ich nicht führen und merke nur an: Meine Lesart lässt zwar Miyazakis Absichten außen vor, will diese Absichten aber nicht leugnen. Weder kann noch soll seine unkritische Haltung entschuldigt werden. Wenn überhaupt, dann unterstreichen meine Befunde die problematische Haltung des Regisseurs: Indem das Werk sich gegen die Absicht seines Autors richtet, zeigt es, dass dieser genauso verzaubert von seinem Gegenstand, Horikoshi, ist, wie Horikoshi von seinen Fliegern, wie Hans Castorp von seinem Zauberberg.

Geschrieben von
Mehr von Frederik Eicks
Kitsch und Klasse
Annika Büsings Debütroman Nordstadt erzählt die eher kitschige Liebesgeschichte von Nene und...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert