Ins kalte Wasser geworfen

Elli Kolbs aufwühlender Entwicklungsroman 9 Grad ist aus der Sicht der 28-jährigen Josie erzählt, die gerade einige Veränderungen durchmacht. Es geht um eine neue Beziehung, um mentale Gesundheit und vor allem um die Frage: Wie kann Josie ihr Leben weniger verkopft und dafür selbstbestimmter gestalten?

Hinweis: Der folgende Text enthält Beschreibungen von psychischen Erkrankungen. Wenn Du Unterstützung suchst, findest Du in Göttingen Hilfe bei der psychiatrischen Notfallversorgung und überregional bei der Telefonseelsorge.

Von Tanja Reiter

Bild: Via Pixabay, CC0

Josie lebt alleine in einer kleinen Wohnung mit Zitaten an den Wänden und schreibt gerade ihre Masterarbeit. Die Handlung setzt ein mit einem gemeinsamen Saunabesuch der Protagonistin und ihren besten Freund:innen Rena und Anton und anschließendem Gang in den kalten See. So idyllisch das auch klingen mag, die Wirklichkeit ist – wie sich herausstellt – eine andere, als Rena nach dem Eisbaden das Wort ergreift: »Einer meiner Lungenflügel ist kollabiert«. Mit der Enthüllung von Renas besorgniserregendem Gesundheitszustand erleben die Figuren einen Realitätscheck und werden damit ebenso wie die Lesenden in das kalte Wasser von Elli Kolbs Debütroman geworfen. Josie will von nun an ihren Lebensalltag verändern, ohne länger zu warten. Sie wünscht sich liebevolle Nähe, weniger Grübelei und mehr Lebendigkeit.

»Der Countdown von vorhin pochte in meinen Adern. Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt etwas tun musste, dass ich jetzt mein Leben ändern musste, Rena retten, mich selbst upgraden, irgendetwas Neues erfahren, was ich noch nicht selbst über mich wusste.«

Der erste Schritt ist ihr Tinder-Date mit dem 26-jährigen Lee. Lee ist wohl der schönste Name, den die Autorin für das ›Love Interest‹ der besorgten Literaturstudentin Josie hätte wählen können. Der große Traumtyp ist hochgewachsen, hat dunkles Haar, ist DJ, Lebensmittelretter und hat Anwaltseltern. Er erzählt Josie beim ersten Date, dass er eine Depression hat. 9 Grad zeichnet nach, wie die Beiden – trotz psychischer Probleme – zusammenfinden. Der zweite Schritt für »irgendetwas Neues« ist der Gang ins kalte Wasser eines Flusses oder Sees. Zuerst geht sie dem nach, weil es Renas Idee war, doch schließlich sucht Josie die Nähe des Gewässers von sich aus immer wieder auf, ist wie magnetisch angezogen.

Der Roman handelt auch vom Meistern des Unialltags, in den Kolb die Leser:innen authentisch eintauchen lässt. Dabei lädt die Autorin ein, alles aus der Ich-Perspektive von Josie mitzuerleben. Thematisiert wird zudem auch, wie sich das Studium für sie – die erste Studierende in ihrer Familie – gestaltet. Die Komplexität des Studienalltags wird mit allen Facetten, wie dem Masterkolloquium, der Bibliothek, der Jobsuche oder der Mensa einbezogen. Auch das Privatleben, inklusive Rewe-Einkäufe, Unisport, Partyleben, Poetry-Slam-Abende, sowie Dating und Sexualität wird repräsentiert. Das Thema des Eisbadens begleitet Josie dabei stets.

Reflektierendes Studierendentrio

Gemeinsames Essen in einer ihrer Wohnungen ist das Ritual der drei besten Freund:innen Josie, Rena und Anton. Dazu gehören auch reflektierende Gedanken, zum Beispiel von Anton: »Überall ist Krieg, aber wir sitzen hier und essen Hähnchen«. Solche Gedanken, die viele junge Menschen beschäftigen, spiegeln die allgemeinen Sorgen der Studierenden wider. Mit ihren Freund:innen kann Josie offen über ihre Selbstzweifel sprechen. Sie bewundert die promovierende Rena für ihren Mut und ihre Anpassungsfähigkeit. Diese will Josie jetzt dazu ermutigen, weniger nachzudenken und mehr zu fühlen.

Von dem Verstand in den Körper zu gelangen, sich von den Gefühlen leiten zu lassen, ist das zentrale Vorhaben der Figuren in Kolbs Roman. Doch – wie Josies persönliche Reise zeigt –, ist dies einfacher gesagt als getan. Sie ist ›Overthinker‹ und identifiziert sich stark mit ihrer Gedankenwelt, wie durch die detaillierten Schilderungen ihrer Introspektion deutlich wird. Beim Baden im eiskalten Wasser soll der Moment genossen und der Verstand ausgeschaltet werden. Bald schon wagt sie sich mehrmals ins kalte Wasser, parallel zu den anderen Veränderungen in ihrer Gegenwart. Es wird eindrucksvoll erzählt, wie es ihr durch das Eisbaden im 9 Grad kaltem Wasser schließlich gelingt, weniger zu denken und mehr zu fühlen.

Liebe ohne vollkommene Selbstliebe

Josie fühlt sich in Lees Gesellschaft wohl und es entwickelt sich schnell eine körperliche Intimität. Die Annäherungen werden als schön und ohne Tabus beschrieben. Es ist keine Liebeskomödie, sondern die glaubwürdige und erfrischende Erzählung einer neuen Beziehung, in der nicht alles direkt einfach ist. So kämpft Josie mit ihrem äußerlichen Selbstbild und Lee hat depressive Phasen. Dennoch: Es ist eine Beziehung, die Mut macht, da sie den Optimierungszwang der Gesellschaft pausiert und zeigt, dass es möglich ist, geliebt zu werden und eine Beziehung einzugehen, obwohl die ›perfekte Selbstliebe‹ noch nicht erreicht ist. Die Selbstbestimmung in der Beziehung ist ebenfalls Thema. Ihre Wünsche auszusprechen und »Nein« zu Lee zu sagen, ist für Josie nicht selbstverständlich. Dass das nichts mit Schwäche zu tun hat, sondern ein Lernprozess ist, verdeutlicht Kolb eindrücklich.

Elli Kolb
9 Grad
Bastei Lübbe: 2024
256 Seiten, 22 €

Kolb ist es außerdem gelungen, die Herausforderung des Abschaltens in der digitalisierten Gegenwart, herauszustellen, so lässt sie Rena sagen: »Wir müssten jederzeit leistungsfähig sein«. Es wird deutlich, dass sie sich in einer Produktivitätsfalle befinden, in der es ihnen nur gelingt, sich auszuruhen und nichts zu tun, wenn sie krank sind. Auch der Schwierigkeit des Online-Datings inklusive ›Ghosting‹ und dem Infragestellen des eigenen Körpers als Folge von manipulativen Marketingstrategien, die viele junge Menschen, wie Josie und Rena und Anton durch die Medien vermittelt bekommen haben, verleiht der Roman Sichtbarkeit. Josie findet Schritt für Schritt heraus, was ihr selbst wichtig ist und was ihr guttut. Die Erzählung macht deutlich, wie wichtig Freundschaften sind und wie sie einen mental stärker machen können. Die Lektüre hinterlässt das heilende Gefühl, überflüssige Gedanken loslassen zu können.

Denken, Machen und Fühlen

Beim Lesen steht die Frage, wie lange Renas Lunge noch durchhält, permanent im Hinterkopf, da sie sich mit ihrer eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzt und Josie erzählt, dass sie nicht wisse, »wie viel Zeit genau wir haben.« Die persönlichen Krisen und der Schmerz werden emotional und ungeschönt beschrieben, sodass einfach mitgefühlt werden muss. Um manche Gedankengänge der Charaktere nachzuvollziehen, braucht es beim Lesen sowohl einen wachen Verstand als auch viel Empathie, da nicht jede:r sich mit allem identifizieren kann. Ein Beispiel dafür ist eine Emotion von Josie: »Das Gefühl, meinen Körper ausziehen zu wollen wie ein Kleidungsstück«. Mit Sätzen wie diesen verdeutlicht Kolb den Leser:innen die Absurdität mancher Gedankengänge.

Von Josie geht zudem manchmal eine Passivität aus, wenn sie Lee nicht sagt, dass sie im Moment nicht in der Stimmung für Sex ist, die auf Leser:innen triggernd wirken kann. Aber es sind eben Charaktere, die nicht immer richtige Dinge sagen oder tun, was der Erzählung jedoch Glaubwürdigkeit verleiht. Dabei ist der Roman keine Abendlektüre, da die Gedanken von Lee teils schon stark das Gefühl einer Antriebslosigkeit beschreiben. Auch Josies Niedergeschlagenheit hängt nach dem Lesen noch nach.

Es ist ein Roman, der aufweckt, wie kaltes Wasser, da er daran erinnert, dass jede:r selbst etwas zum Positiven verändern kann. Das gelingt durch Josies Stärke der Selbstakzeptanz und ihren Mut im Alltag. Am Ende bleibt nur die Macht des Wassers, das symbolisch für den Fluss des Lebens und die Emotionen steht. Ein Buch mit Tiefgang, das die Magie des Neubeginns versprüht, auf jeden Fall in Erinnerung bleibt und das Potential zum Lieblingsbuch hat.

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