Mutter, Vater, Kind

Der Shootingstar unter den französischen Nachwuchsautor:innen Édouard Louis schreibt mit Die Freiheit einer Frau die Biografie seiner Mutter. Geschildert wird ein Leben in Armut und unglücklicher Ehe, aber auch ein Befreiungsschlag. Ein Buch, das Respekt bekundet und auch die eigene Schuld eingesteht.

Von Sebastian Kipper

Bild: Via Pixabay, CC0

In seinem Debüt Das Ende von Eddy (orig.: En finir avec Eddy Bellegueule, 2014) rechnet der französische Autor Édouard Louis noch schonungslos mit seinen Eltern ab. Denn in dem autobiografischen Roman sind sie Instanzen der sozialen Gewalt, die vor allem durch ihre rigiden Männlichkeitsvorstellungen und den damit verbundenen homophoben Ressentiments dazu beitragen, dass der junge Louis mit seiner schon früh entdeckten Homosexualität hadert. Die darauffolgenden Veröffentlichungen hingegen stellen Versuche der Versöhnung mit seinen Eltern dar.

In seinem jüngsten Buch Die Freiheit einer Frau (orig.: Combats et métamorphose d’une femme, 2021) schreibt Louis die Biografie seiner Mutter. Er knüpft damit an seine letzte Veröffentlichung Wer hat meinen Vater umgebracht (orig.: Qui a tué mon père, 2018) an, in dem sich Louis der Lebensgeschichte seines mittlerweile verstorbenen Vaters widmet. Beide Texte eint der empathische Blick auf seine Eltern, die als Angehörige der Arbeiterklasse selbst mit Armut und sozialer Ausgrenzung kämpfen.

Das Leben der Mutter erklären und verstehen

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Édouard Louis
Die Freiheit einer Frau

Übers. von Hinrich Schmidt-Henkel
Fischer: Frankfurt 2021
96 Seiten, 17,00€

Zwar ist weder in Die Freiheit einer Frau noch in Wer hat meinen Vater umgebracht die von den Eltern ausgegangene Gewalt vergessen. Louis möchte jedoch ihr Handeln und ihre Überzeugungen nachvollziehen und sozialhistorisch verorten. Seine Analyse ist dabei stets intersektional: Die Kategorien ›Klasse‹ und ›Geschlecht‹ werden herangezogen, um die Eltern als Opfer sozialer Gewalt zu verstehen. Besonders in Die Freiheit einer Frau wird dieser intersektionale Ansatz pointiert hervorgehoben, wenn Louis schreibt, dass die Biografie seiner Mutter maßgeblich von drei Kräften geprägt ist: »Gesellschaft, Männerwelt, mein Vater«.

Louis‘ Mutter (deren Name im Buch nicht genannt wird) stammt aus Nordfrankreich und wird ins Arbeitermilieu geboren. Ihre Mutter ist Hausfrau, ihr Adoptivvater Fabrikarbeiter. Louis versucht, die Träume und Wünsche seiner Mutter durch ihre soziale Herkunft und mit den wirkmächtigen Geschlechterstereotypen der Zeit zu verstehen. Als Heranwachsende will sie Köchin werden. »Wahrscheinlich eine Fortsetzung der sie umgebenden Realität«, wie Louis kommentiert. Doch sie wird schon im ersten Jahr der Ausbildung schwanger. Sie bricht die Ausbildung ab, bekommt das Kind, heiratet den Vater des Kindes »des schönen Scheins willen« und zieht mit ihm zusammen. Wenig später wird sie nochmal schwanger. Die Ehe ist jedoch keine glückliche. Ihr Ehemann trinkt zu viel und schläft mit anderen Frauen. Nach wenigen Jahren verlässt sie ihn wieder. Kurz darauf lernt sie einen anderen Mann kennen, der ihr die einzige Fluchtmöglichkeit aus der Armut als alleinerziehende Mutter ohne Arbeit bietet. Sie heiraten und bekommen ihren ersten gemeinsamen Sohn, den sie Eddy nennen, der sich aber als Erwachsener zu Édouard Louis umbenennt

Wie schon in Wer hat meinen Vater getötet? tritt Louis beim Erzählen der Biografie seiner Mutter nicht in den Hintergrund, sondern bleibt als Erzähler präsent. Er schreibt zwar über seine Mutter, spricht sie im Text zuweilen direkt an. Er nutzt aber auch das Personalpronomen ›ich‹ und reflektiert die Schreib- und Erinnerungsprozesse, die miteinander verwoben sind. Durch die biografische Verflechtung von Mutter und Sohn beinhaltet das Schreiben über seine Mutter auch Teile seine eigener Lebenserzählung.

Klassenflüchtling aus Rache

An einigen Stellen macht Die Freiheit einer Frau erzählerisch dort weiter, wo Das Ende von Eddy aufhört. Louis erzählt davon, wie er als Bildungsaufsteiger das Gymnasium in der nächstgelegenen Stadt besucht und dadurch den erdrückenden Verhältnissen seines Dorfes entfliehen kann. Am Gymnasium wird er mit einem bisher fremden, bürgerlichen Habitus konfrontiert:

Die jungen Leute, die ich kennenlernte und die meine Freunde wurden, lasen Bücher, sie gingen ins Theater, manchmal sogar in die Oper. Sie machten Reisen. Sie hatten eine Art und Weise, zu sprechen, sich anzuziehen, die absolut nichts mit dem zu tun hatte, was ich bei dir kennengelernt habe.

Die ersten Erfahrungen im neuen bürgerlichen Umfeld sind für Louis schambehaftet, da er sich nicht der Codes bedienen kann, die in dieser Welt Geltung haben. Er trainiert sich neue Verhaltensformen an und betreibt Klassencamouflage, weil er im neuen bürgerlichen Umfeld nicht auffallen möchte. Um jeden Preis möchte er verhindern, dass seine Mitschüler:innen seiner Mutter begegnen, die er als Verkörperung derjenigen Klasse sieht, der er nicht mehr zugehören möchte. Gleichzeitig werden Louis durch den neuen Habitus auch Mittel an die Hand gegeben, mit denen er sich für die erfahrene Homophobie in seiner Kindheit rächen kann. Er erzählt, wie er die neue soziale Hierarchie vor allem sprachlich markiert, indem er Wörter nutzt, die die Mutter nicht kennt, und sie ständig korrigiert.

Leidensgenossen im Patriarchat

Dabei ist seine Homosexualität aber auch der Grund, warum sich Louis in seiner Kindheit mit seiner Mutter verbunden fühlt. Denn beide leiden gleichermaßen unter den Ausschlusskriterien patriarchaler Gewalt. Während cis hetero Männer, die in der Fabrik malochen, die Freiheit haben, nach der Arbeit und am Wochenende mit Kumpels und Söhnen in der Kneipe zu versacken, bleiben die Frauen zuhause. Obwohl er sich schon immer als Junge identifiziert, wird Louis‘ Auftreten als Kind von den anderen Männern immer als feminin gelesen, weswegen er Ziel vieler homophober Verbalattacken ist. Seinem Vater ist der feminine Sohn peinlich, weswegen Louis bei seiner Mutter und großen Schwester zuhause bleibt. Für Louis’ bietet diese geteilte Ausschlusserfahrung einen Anknüpfungspunkt, von dem aus sich Louis in seine Mutter reindenken und auch andere destruktive Kräfte ergründen möchte, die sich in ihrer Biografie niedergeschlagen.

Die Erniedrigung durch das Patriarchat ist für ihn am sichtbarsten im häuslichen Raum, wo sie die volle Last der Care-Arbeit zu übernehmen hat. Wenn sich Louis an den Alltag der Mutter erinnert, meint er, mit einer einzelnen Aufzählung zwanzig Jahre ihres Lebens umreißen zu können:

Wenn ich morgens nicht in der Schule war, sah ich, wie sie zum Einkaufen in den Laden ging, zurückkam, Mittagessen machte, es auf den Tisch brachte, abräumte, den Abwasch machte, das Haus putzte, die Wäsche zusammenlegte, die Betten der Kinder machte, auf meinen Vater wartete, uns bediente, den Abendessenstisch abräumte, den abendlichen Abwasch machte. Dieselben Wiederholungen, dieselben Bewegungen, dieser schematische Tagesablauf, so gut wie ohne Ausnahme jeden neuen Tag wieder vollführt, außer, wenn sie von meiner Schwester oder mir verlangt, dass wir ihr ein wenig beim Abwasch halfen.

Louis sieht sie erdrückt von dieser ereignislosen Routinearbeit und als Haushaltshilfe verdingt, gefangen in einer Ehe mit einem Mann, der sie nicht respektiert und nicht auf ihre Bedürfnisse eingeht. In der Biografie der Mutter wird der Vater zur Verkörperung der patriarchalen Unterdrückung. Erst die Scheidung mit Anfang vierzig ist die Voraussetzung dafür, dass Louis‘ Mutter aus den einengenden Verhältnissen ausbrechen und ihr Leben verändern kann.

Abrechnung mit dem Vater

Louis erzählt auch, wie es mit dem Vater nach der Trennung bergab geht. Es wirkt bei der Lektüre von Die Freiheit einer Frau zuweilen so, als ob mit seinem Dahinsiechen die poetische Gerechtigkeit der Geschichte gewahrt würde. Louis wirft so einen unbarmherzigen Blick auf seinen Vater. Das irritiert, nachdem er im Vorgänger Wer hat meinen Vater getötet einen empathischen Zugang zu seinem Vater gesucht hat. Dort versucht er noch nachzuvollziehen, wie die Vorgaben stereotypischer Männlichkeit, an die sich sein Vater so rigide hält und die er auch von seinem Sohn einfordert, auch dessen Biografie deformieren. In seinem Monolog, den er an den Vater richtet, schreibt Louis: »Du warst ebenso das Opfer der Gewalt, die du ausübtest, wie derjenigen, der du ausgesetzt warst.«

Dass die Kritik an den patriarchalen Strukturen derart auf den Vater zugespitzt ist, nimmt Die Freiheit einer Frau ein wenig von der politischen Schärfe, die Wer hat meinen Vater umgebracht noch hatte. Das Private ist zwar politisch, aber es wäre nur konsequent gewesen, die gestohlene Jugend und die unglücklichen Ehejahre seiner Mutter noch mehr an den gesellschaftlichen Kontext rückzubinden. Dafür zeugt Louis neuestes Buch von einer größeren Reife als sein Debüt Das Ende von Eddy, die sich im Schuldbekenntnis und der Entschuldigung für die klassistische Kränkung äußert, mit der Louis seine Mutter traf. Und schließlich schreibt Louis in Die Freiheit einer Frau mit der Biografie seiner Mutter stellvertretend die Geschichten von Menschen in die Literatur ein, die aufgrund ihrer sozialen Stellung und ihres Geschlechtes noch zu oft unsichtbar gemacht werden.

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1 Kommentare

  1. says: Patrick

    Ein sehr interessanter Artikel. Ich finde es spannend, wie Intersektionalität und biografische Elemente verknüpft werden, um eine Eltern-Kind-Beziehung aufzuarbeiten.

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