Wie funktioniert Magie?

Autorin Melanie Raabe, die zuvor durch Thriller auf sich aufmerksam machte, hat nun einen Roman veröffentlicht, der sich mit der Magie von Begegnungen beschäftigt. Mit Die Kunst des Verschwindens gelingt es ihr, mitreißend und atmosphärisch von dem Leben zweier Frauen zu erzählen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und trotzdem tief verbunden sind.

Von Sofia Peslis

Bild: Via Pixabay, CC0

Kann eine Begegnung ein Leben verändern? Und gibt es wirklich so etwas wie Seelenverwandtschaft? Melanie Raabe geht in ihrem neuen Roman Die Kunst des Verschwindens diesen Fragen auf den Grund und bietet den Lesenden eine fesselnde Herangehensweise an diese Themen. Die Geschichte zweier Frauen, die sich wie durch Zufall näherkommen, sich dann verlieren, nur um schließlich wieder zu sich selbst zu finden, verzaubert nicht nur durch Brillanz in Sprache und Schreibstil, sondern auch durch Tiefe, konstante Spannung – und auch ein wenig Magie.

Zufall oder Schicksal?

Ich liebe die Zeit zwischen den Jahren, die Ruhe, die Leere, und ich mag diesen Ausdruck. Zwischen den Jahren. […] Eine Atempause. Eine Zeit, die außerhalb der Zeit steht, ein paar Tage, in denen Dinge geschehen, die während des Rests des Jahres unmöglich sind.

Und genau in dieser Zeit, zwischen den Jahren,kommt es im kalten Berlin zu einem schicksalhaften Treffen: Im Späti ums Eck treffen die erfolgreiche Schauspielerin Ellen Kirsch und Fotografin Nico eines Abends aufeinander. Während Ellens Leben vom Hollywood-Lifestyle geprägt ist, hat Nico ihre Bühnenträume praktisch aufgegeben und versucht stattdessen, als Fotografin mit ihrer ersten Ausstellung erfolgreich zu werden.

Ellen Kirsch, die nach ihrem Erfolg am New Yorker Theater für eine Serienpremiere wieder zurück nach Berlin fliegt, wird schon bei ihrer Ankunft von schlechten Neuigkeiten überfallen: Ihr väterlicher Freund Anthony ist plötzlich verstorben und im Internet findet eine Hetzjagd auf sie statt, da sie sich gegen einen körperlichen Übergriff gewährt hat. Doch auch Nico fühlt sich gerade etwas im Leben verloren. Berufliche Schwierigkeiten, der tragische Tod ihrer Mutter und ein quälendes Geheimnis nagen an ihr.

Trotz der unterschiedlichen Leben, die die beiden Frauen führen, verbindet sie dennoch eine unheimliche Nähe. Nico und Ellen begegnen sich nach ihrem ersten Aufeinandertreffen immer öfter mehr oder weniger zufällig und teilen magische Momente in der Silvesternacht miteinander; bis Ellen plötzlich verschwindet.

Thriller-Wurzeln und Plot Twists  

Von der mysteriösen Bindung zueinander, die fast unbegreiflich zu sein scheint, geleitet, macht sich Nico letztendlich auf die Suche nach Ellen. Ihre Spur führt sie dabei nicht nur an unterschiedlichste Orte wie Brügge, Paris oder die Küste Frankreichs, sondern auch zu ihren eigenen ungelösten Geheimnissen, die tief in ihrer Vergangenheit vergraben sind.

Nichts ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Ein Plot Twist folgt dem nächsten und obwohl Die Kunst des Verschwindens als Roman gekennzeichnet ist, merkt man doch, dass Melanie Raabe ihre Wurzeln als Thriller-Autorin nicht ganz abschütteln kann. Das Buch überzeugt gerade dadurch, dass es sich einer speziellen Genreeinordnung entzieht.

Geradezu märchenhaft werden Augenblicke beschrieben und scheinen vor dem inneren Auge der Lesenden zu tanzen. So auch als Nico auf der Suche nach Ellen auf einem Underground-Konzert in Paris landet: »Er singt uns von Schönheit und Tod, und die Violinen schwingen sich empor, und der Boden tut sich auf, doch wir fallen nicht. Und heiße Tränen laufen mir die Wangen hinab, und ich spüre es kaum; und Raum und Zeit existieren nicht mehr, und hier ist der Mittelpunkt des Universums, überall und genau hier.« Besonders solche sprachlich exzellenten Passagen machen Die Kunst des Verschwindens zu einem cinematischen Leseerlebnis, das sich nicht anders als fast schon magisch beschreiben lässt.

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Melanie Raabe
Die Kunst des Verschwindens

btb: München 2022
400 Seiten, 22,00€

Der Zauber des Lebens

Sollte man versuchen, Raabes Die Kunst des Verschwindens in einem Wort zusammenzufassen, so wäre es wahrscheinlich »Alltagsmagie«. Denn alltägliche, bezaubernde Momente werden auch direkt im Buch thematisiert, wie in der gemeinsamen Silvesternacht, als Nico und Ellen auf einen zutraulichen Fuchs in einem Berliner Park treffen und Ellen noch kurz vorher feststellt: Also, ich kann überhaupt nichts voraussehen. Aber manchmal kann ich fühlen, dass gleich etwas Magisches passiert.

Besonders positiv fällt außerdem die lockere Einführung der Ethnizitäten und Sexualitäten verschiedener Charaktere auf. Personen werden ausführlich beschrieben, ohne Hautfarbe oder sexuelle Orientierung zu betonen  – dennoch wird Diskriminierung nicht ignoriert. Auch Aspekte des Lebens wie Trauer, Krankheit, Selbstfindung und Gewalt finden einen wichtigen Platz in der Geschichte von Nico und Ellen.

Trotz ernster Themen schafft Melanie Raabes neuer Roman ein Gefühl der Leichtigkeit und des Optimismus. Letztendlich zeigt Die Kunst des Verschwindens, wie Magie wirklich funktioniert und wo sie zu finden ist: in Liebe, Freundschaft und Hoffnung.

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