Ein anderes Leben

Ein Leben lang hadert Karl mit seiner Homosexualität. Seine Ehen scheitern deswegen und seine Tochter hat den Kontakt zu ihm abgebrochen. Nun schreibt Karl ihr einen Brief – und bittet darin um Vergebung. Matthias Lehmann legt mit Parallel ein gelungenes Graphic-Novel–Debüt vor.

Von Sebastian Kipper

Bilder: Reprodukt Verlag

Auf den ersten Blick erscheint das kleinbürgerliche Glück für Karl perfekt: eine Ehe mit der Tochter des Bürgermeisters einer westdeutschen Kleinstadt und zudem hat sein Schwiegervater Karl eine feste Stelle in der hiesigen Fabrik besorgt. Ein Kind lässt auch nicht lange auf sich warten. Doch Karl scheint nicht zufrieden, trinkt viel, ist selten zuhause und lügt seine Frau an. Denn statt Überstunden in der Fabrik zu machen, wie er es ihr weismachen will, versackt er mit den Kollegen in der Kneipe. Oder er verbringt die Abende am Badesee, wo er anderen Männern verstohlene Blicke zuwirft, wenn sie sich ausziehen und nackt schwimmen gehen.

Vier Jahre lang arbeitete der Comicautor Matthias Lehmann an seiner umfangreichen Graphic Novel Parallel, das beim Berliner Comicverlag Reprodukt erschienen ist. Darin erzählt er die Geschichte des fiktiven Arbeiters Karl Kling, der ein Leben lang mit seiner Homosexualität hadert. Als Karl in den 1980er Jahren nach vielen Jahren der Plackerei im Werk in die Rente entlassen wird, überkommt ihn ein Gefühl der Einsamkeit. Denn anders als seine Kollegen erwartet ihn kein behaglicher Lebensabend im Kreise seiner Familie.

macbook

Matthias Lehmann
Parallel

Reprodukt: Berlin 2021
464 Seiten, 29,00€

Karls erste Ehe ging in die Brüche, weil aufkommende Gerüchte um Karls Homosexualität dem Ruf seines Schwiegervaters zu schaden drohten. Ebenso scheiterte Karls zweite Ehe nach anfänglichen Bemühungen, in Leipzig und später wieder in Westdeutschland ein ›normales‹ Leben zu führen. Seitdem lebt Karl allein. Aus der letzten Ehe ging seine Tochter Hella hervor, die als Kind unter den ständigen Streitereien ihrer Eltern und der Abwesenheit ihres Vaters litt. Sie brach nach ihrer Ausbildung den Kontakt zu ihrem Vater ab. Ermutigt von seinem ehemaligen Kollegen, schreibt Karl ihr einen Brief, in dem er für sein Verhalten um Entschuldigung und um die Chance bittet, sich persönlich erklären zu können. Und während Karl den Brief verfasst und auf eine Antwort seiner Tochter wartet, lässt er seine Vergangenheit Revue passieren.

Stigmatisierung schwulen Begehrens in der Nachkriegszeit

Karls Lebensgeschichte ist durchsetzt von der homofeindlichen Atmosphäre, die während der Zeit der deutschen Teilung herrschte. Dabei scheint es in der Erzählung zunächst keinen großen Unterschied zu machen, ob Ost oder West. Denn egal, wo Karl auch lebt und arbeitet, wird er mit der sozialen Stigmatisierung und der staatlichen Repression von Homosexuellen konfrontiert. Allein der Verdacht reicht aus, man sei ein »warmer Bruder«, um am Arbeitsplatz Zielscheibe von Beleidigungen oder gewaltvollen Übergriffen zu werden. Beim Cruising in einschlägigen Parks oder Straßen besteht stets die Gefahr, von der Polizei erwischt und verhaftet zu werden.

In diesem Kontext erscheint es zunächst irritierend, dass der Paragraph 175 an keiner Stelle der Graphic Novel  explizit genannt wird. Aufgrund dieses Paragraphen, der zur Kaiserzeit eingeführt, während des NS verschärft und auch nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Form erhalten blieb, waren prinzipiell alle sexuellen Handlungen zwischen Männer strafbar. Auch die Jugend Karls im Nationalsozialismus bleibt ausgespart. Die Erinnerungen setzen mit einer Episode an der Front an. Es bleibt offen, ob Karl schon davor um seine Homosexualität gewusst oder sie zumindest schon geahnt hat. Der Krieg und die Kameraden wirken in dieser Erinnerungssequenz aber mehr wie die Kulisse zu (vielleicht ersten) Erfahrungen gleichgeschlechtlicher Zärtlichkeiten, als dass auch die Homofeindlichkeit des NS-Regimes thematisiert wird.

Im Verlauf der Graphic Novel wird aber klar, dass sich Karl nicht als politischer Akteur versteht. Er organisiert sich nicht, um auf der Straße die Gleichbehandlung von Homosexuellen einzufordern. Er ist ein Mann, der das (klein-)bürgerliche Glück eigentlich möchte, und der daran leidet, dass seine Homosexualität dazu quer steht. »Ich bin doch froh über meine Familie und verlieren will ich sie auch nicht«, erklärt er in einem vertraulichen Gespräch einer Kollegin und Freundin, mit der er offen sprechen kann, weil sie sich ihm gegenüber als lesbisch geoutet hat. »Aber etwas fehlt immer. Wahrscheinlich bin ich nicht ganz richtig.«

Große Themenbreite des Debüts

Matthias Lehmann konturiert seine Figuren in wenigen (digitalen) Strichen und greift für die Gestaltung von Flächen auf Schattierungen in Grauabstufungen zurück, die wie Aquarelle anmuten. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass Vergangenheit und Gegenwart visuell ineinanderfließen. Aber auch erzähltechnisch verwebt Matthias Lehmann die beiden Zeitstränge miteinander, indem Karls Gedanken oder die zitierten Passagen aus seinem Brief Erinnerungssequenzen einleiten oder diese aufgreifen.

Parallel widmet sich so einigen Themen. Der Diskriminierung von Homosexuellen im Nachkriegsdeutschland. Karls Identität als schwuler Mann der Arbeiterklasse. Alkoholismus. Patriarchale Machtgefälle in der kleinbürgerlichen Familie. Und nicht zuletzt auch einem Generationenkonflikt, erzählt anhand der Entfremdung von Vater und Tochter. Hätte man die nationalsozialistischen homofeindlichen Kontinuitäten in der Nachkriegsgesellschaft aufgeblendet, wäre das historische Porträt noch differenzierter geworden. Sie lassen sich allenfalls in den homofeindlichen Beleidigungen und Drohungen erahnen, denen Karl und andere queere Menschen ausgesetzt sind. Generell zeigt Parallel nur die Lebensrealität schwuler Männer, mit der Ausnahme von einer lesbischen Figur. Andere von der cis-hetero-Norm abweichende-sexuelle oder geschlechtliche Identitäten kommen nicht zur Sprache. Doch auch so schafft es Matthias Lehmann, all seine gesetzten Themen geschickt miteinander zu verknüpfen – und legt damit ein gelungenes Graphic-Novel-Debüt vor.

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