Das Leid einer Content-Moderatorin

In Dieser Beitrag wurde entfernt lässt Hanna Bervoets ihre Protagonistin Kayleigh, eine Content-Moderatorin beim fiktiven Tech-Konzern Hexa, gekonnt ihre Geschichte erzählen. Der Roman stellt die relevante Frage, wie viel Gewalt ein Mensch ertragen kann, bevor er:sie selbst gewalttätig wird.

Von Lisa Neumann

Bild: Via Pixabay, CC0

In Hanna Bervoets neuem Roman Dieser Beitrag wurde entfernt erzählt Kayleigh, eine junge Frau, die als Content-Moderatorin beim fiktiven Social-Media-Unternehmen Hexa arbeitet, ihre Geschichte. Es ist kein Zufall, dass der Tech-Konzern Hexa dabei an das reale Unternehmen Meta (früher Facebook) sowie die Social-Media-Plattform Tiktok erinnert. In jüngster Zeit sind immer mehr Berichte über die Tätigkeit des Content-Moderierens für eine solche Plattform zutage gekommen. Berichte, in denen Beschäftigte, die sich stundenlang Gewaltvideos ansehen müssen, um sie dann rechtzeitig von der Plattform zu löschen, ihr Leid schildern. Denn als Content-Moderator:in hat man die Aufgabe, andere User:innen der Plattform vor jenen illegalen Gewaltexzessen in Videoform zu schützen. Wie sehr die eigene Psyche unter diesem nicht gerade sehr gut bezahlten Job leidet, zeigt nun einmal mehr eindrücklich Bervoets Roman.

»Was ist das Schlimmste, das du je gesehen hast?«

Bervoets Erzählerin Kayleigh beginnt ihre Geschichte mit dem Umstand, dass sie über sechzehn Monate nach ihrer Kündigung bei Hexa immer noch danach gefragt werde, was denn das Schlimmste gewesen sei, das sie dort gesehen habe:

          Die Leute tun so, als wäre das eine ganz alltägliche Frage, aber was heißt »alltäglich«, wenn man eine furchtbare Antwort erwartet?

Kayleigh bemerkt die Sensationslust der Menschen, die hinter dieser Frage lauert. Zugleich verurteilt sie jedoch das Bild der willenlos löschenden Content-Moderator:innen, die keine Ahnung hatten, worum es bei dem Job wirklich geht, als sie sich auf ihn einließen. Dieses Bild würde durch Medienberichterstattung und Anwälte immer weiter verbreitet. Schließlich sei sie wegen ihrer hohen Verschuldung bei Hexa gelandet und habe gewusst, worauf sie sich einlasse.

Eine Geschichte als Absage

Kayleighs Story ist eine Reaktion in Briefform auf die wiederholten Nachfragen eines Anwalts namens Stitic, der ehemalige Mitarbeitende von Hexa bei einer Sammelklage gegen den Konzern vertritt. Den wahren Grund für Kayleighs Absage, sich der Klage anzuschließen, erfahren die Leser:innen erst am Ende ihrer Erzählung. Jedoch deutet Kayleigh bereits zu Beginn an:

Um aber zu verstehen, warum ich auf ihre Bitte nicht eingehe, müssen Sie erst etwas über mich wissen, Herr Stitic. Die Bilder, die mich nachts wach halten, sind nicht die abscheulichen Fotos blutender Jugendlicher und nackter Kinder, nicht die Videos von Messerstechereien und Enthauptungen. Die Bilder, die mir den Schlaf rauben, sind Bilder von Sigrid, meiner damaligen Lieblingskollegin. Sigrid, an die Wand gepresst, stocksteif und nach Luft schnappend – das sind die Bilder, die ich gern vergessen möchte.

Durch die Erzählung in Briefform werden die Leser:innen unmittelbar in das Geschehen hineingezogen. Kayleighs Brief bleibt ohne Gegenrede, dennoch bezieht sie den Adressaten Stitic immer wieder in ihre Erzählung mit ein, indem sie ihn direkt anspricht. So wird eine Unmittelbarkeit geschaffen, die sprachlich gut ihre Wirkung entfaltet. Der:die Leser:in fühlt sich mit angesprochen.

Unterschiedliche psychische Reaktionen auf Gewaltvideos

Was Kayleighs Erzählung für die Leser:innen so bemerkenswert macht, ist nicht ihr Geständnis am Ende, sondern vor allem die nahezu abgebrühte Nüchternheit, mit der sie die Ereignisse teilweise schildert. Es wird deutlich, wie unterschiedlich sich ihre Kolleg:innen durch das tägliche Ansehen der Gewaltvideos mit der Zeit psychisch verändern. Während Robert und andere immer mehr den Verschwörungstheorien, die sie sehen, verfallen, integriert Louis die gewalttätige Sprache der Videos und Hassnachrichten längst in seine verbalen Äußerungen. Kayleigh hingegen scheint immer verschlossener zu werden und den Job als notwendiges Übel zu akzeptieren. Zugleich ist sie unglaublich stolz auf ihren guten Score, wenn es darum geht, nach Hexas Richtlinien zu erkennen, was auf der Social-Media-Plattform stehen bleiben darf und was nicht.

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Hanna Bervoets
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Hanser Berlin: Berlin 2022
112 Seiten, 20,00€

Auch eine queere Lovestory

Kayleighs Erzählung ist auch die Story ihrer Liebe zu ihrer Kollegin Sigrid, die letztlich an Kayleighs Verhalten scheitert. Sigrid leidet scheinbar mehr als Kayleigh unter ihrer Arbeit bei Hexa. Sie bekommt das Bild eines Mädchens, das auf der Plattform in einem Video Suizid begeht, nicht mehr aus ihrem Kopf. Da Kayleigh ihr nicht helfen kann, zieht sich Sigrid mehr und mehr von ihr zurück und verirrt sich in Verschwörungstheorien. Dies ist Kayleighs Perspektive, die am Ende in Frage gestellt wird. Die anfängliche Zweisamkeit der Frauen zerbröckelt, Hexa scheint auch auf die persönlichen Beziehungen toxisch zu wirken.

Gekonnt verwendet Bervoets in ihrem neuen Roman, der eher einer langen Erzählung gleicht, Sprache als Medium, um Kayleigh und ihre Kolleg:innen gesellschaftlich sichtbar zu machen. Was sich sonst im Verborgenen abspielt, der Job des Content-Moderierens, wird durch Kayleighs Story für die Leser:innen greifbar. Man merkt der Erzählung Bervoets genaue Recherche an, besonders wenn es um die Arbeitsatmosphäre und die Prozesse bei Hexa geht. Der Roman ist eine Lektüre, die bewegt, und Kayleighs Stimme hallt nach, auch wenn man das Buch bereits geschlossen hat.

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