Eine Zelle mit offener Tür

Dem DT gelingt mit der Inszenierung von Thomas Köcks wagner – der ring des nibelungen eine funkenstiebende Zertrümmerung des Mythos: sprachlich überwältigend, szenisch überzeugend, mit Mut zur Aporie, siegfriedhaft-anarchisch die Vergessenheits-, Liebes- und Todestränke des »alten Zauberers« umstoßend.

Von Leonard Herbst

Bilder: Georges Pauly

Wir leben in postromantischen Zeiten. Wie ein ihnen gemäßer künstlerischer Umgang mit den Werken und Ideen einer Epoche aussehen kann, in die es kein Zurück mehr gibt, zeigt das Deutsche Theater mit Erich Sidlers Inszenierung von Thomas Köcks wagner – der ring des nibelungen, die am 29. Januar Premiere feierte: Es ist nicht mehr das Drama des Bewusstseins einer verlorenen Naivität. Sondern des Bewusstseins, dass es diese Naivität niemals gegeben hat.

Der tragische Mythos der Schuld

Richard Wagners größtem Werk, dem Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, liegt der Mythos einer schuldhaften Welt zugrunde. Der Strudel der tragischen Verstrickung, bei Köck der »loop«, beginnt, als Alberich – von Adorno in seinem Versuch über Wagner vor langer Zeit schon als antisemitische Karikatur identifiziert – den Rheintöchtern das Rheingold raubt. Die ganze Welt muss den sündhaften Raub an der Natur büßen, alles Einzelne wieder zu einer unbewussten, schmerzlosen Einheit werden. Am Ende geht eine dekadente und korrupte Zivilisation unter, die Rheintöchter siegen, der harmonische Urzustand der Natur ist wiederhergestellt. Der Kreis schließt sich, für einen neuen Ring ist wieder Platz.

Es wäre so einfach

Thomas Köck entkleidet in seiner Bearbeitung Wagner dessen, was seine unvergleichliche Genialität ausmacht – der verzaubernden und verführenden Musik – um Ideologien zutage treten zu lassen: Er reduziert Wagner auf das Libretto und die antisemitischen theoretischen Schriften. Die Handlung des Rings, die in stark verkürzter und bearbeiteter Form dem Stück zugrunde liegt, nutzt er darüber hinaus als Vehikel einer Fundamentalkritik am Konzept »Mythos« überhaupt.

 Mit Köcks Text als Grundlage atmet Sidlers Inszenierung den utopischen Geist der Aufklärung und will die Figuren vom archaischen Schicksalsglauben befreien. Wäre es nicht schön, fragen Köck und Sidler, die Figuren fingen an, sich selbst zu erkennen und aus der Fiktion herauszutreten, in die der Autor sie gezwungen hat? Der Mythos soll als patriarchale Ideologie und verschwörungstheoretische Welterklärung, die menschengemachte Strukturen und gesellschaftliche Rollen als naturgegeben festigt, entlarvt und abgeschafft werden – das ist der aktivistische Impetus. Die Figuren haben mittlerweile ihren Adorno gelesen. Sie erkennen die mythische Welt als Bühne, betreten eine höhere Ebene der Reflexion und gewinnen an Selbstbewusstsein.

Am klarsten gelingt das bei Alberich. Er wird zur Karikatur der Karikatur: Der von Wagner geschriebenen Rolle folgt er so konsequent, dass er sie dadurch ins Lächerliche zieht. Aus der antisemitischen Karikatur wird eine Karikatur des Antisemitismus. Er kreischt und keift, hopst und hüpft in so übertriebener Weise, dass der Mythos seine Macht verliert (wohl auch, weil das Aphrodisiakum der Musik fehlt). Dann fällt er aus der Rolle und legt die stereotype Verkleidung einfach wieder ab.

Alberich, die Rheintöchter und das Rheingold. Bild: Georges Pauly

Die Rheintöchter erkennen den Mythos der unberührten Natur als romantische Projektion. Gelangweilt skandieren die Versace tragenden (die Kostüme sind von Jessica Karge) Walküren ihr »Hojotoho«. Brünnhilde erteilt dem romantischen Liebesideal und seinen leer gewordenen Phrasen eine schroffe Absage, indem sie Siegfried abweist, der die Müde geweckt hat und mit seinen Avancen belästigt. Der junge Siegfried – im traditionellen Bärenfell, das einen grotesken Kontrast zum eigentlichen Geschehen bietet – ist ein traumatisiertes Kind, das wahnsinnig gemacht durch eine konservative, kapitalistische Bundesrepublik und ihre kafkaeske Bürokratie – mit all den alten Verträgen und Dokumenten – Amok läuft.

Großes Theater

Die schauspielerischen Leistungen sind durchweg großartig. Volker Muthmann als Alberich wechselt irrwitzig-rasant die Stimmlagen und spielt virtuos mit den Rollen und Verkleidungen.  Es glänzen Gabriel von Berlepsch als Wotan mit seinem selbstgefälligen Selbstmitleid, seiner heimlichen Schwäche und Angst, Rebecca Klingenberg als Brünnhilde mit der energischen Wut der Ideologiekritikerin und Angelika Fornell als Erda mit ihrer lächelnden Überlegenheit. Paul Trempnau verleiht dem jungen Siegfried, verstört und wütend, eine tiefe Traurigkeit und Paul Wenning verkörpert als alter Siegfried, der seinen Rollstuhl für ein Pferd hält, die Sehnsucht und Müdigkeit des blassen »décadent« (Friedrich Nietzsche).

Jörg Kiefels Bühnenbild ist der ideale Ausdruck von Köcks Absichten: Die Drehbühne wird hier zur Metapher für den »loop«, der die darauf Stehenden der eigenmächtigen Bewegung beraubt. Statt »prangender Pracht« abstrahierend und irritierend desillusionierender Minimalismus: ein großer Spiegel, der das Publikum sich selbst erkennen lassen soll statt es in mythischer Besinnungslosigkeit verharren zu lassen, manchmal flimmernd wie eine Waberlohe. Dann die schmucklosen Wände einer entzauberten Welt, der man nicht mehr entfliehen kann, darauf manchmal Projektionen, zum Beispiel Fritz Langs vergilbter Siegfried.

Siegfried als Projektion auf der kargen Wand. Bild: Georges Pauly

Neue Eindeutigkeiten

Da sich die Kritik des Stücks oft auf die überdeutlichen politischen Äußerungen Wagners stützt, ist es nicht verwunderlich, dass die unendliche Uneindeutigkeit, die eigentlich im Ring steckt, nicht zu ihrem Recht kommt. Wagner dient hier mehr als Beispiel für den deutschen Mythos, seine Funktion als Träger nationalistischer und konservativer Ideologien und das Konzept »Mythos« überhaupt. Aber ist der Ring an sich schuldig oder bedarf es nicht einiger Gewalt, um ihn für eine Ideologie zu vereinnahmen? Keine Figur darin bietet eigentlich ungetrübtes Identifikationspotenzial, für niemanden lässt sich widerspruchslos Partei ergreifen, höchstens für ein abstraktes und nichtssagendes »Etwas«.

Der Ring bietet auch keine kohärente und konsistente Erzählung, nach der sich Verschwörungstheoretiker:innen gerne sehnen, sondern weist unzählige dramaturgische Schwächen und Lücken auf. Wagner ist vor allem Komponist, nicht Literat. Der Text des Rings ist ambivalent und dunkel wie die Musik. So kann es mit der Logik des Werks argumentierend gelingen, den Autor zu widerlegen.

Die Musik behält das letzte Wort

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Info

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen. Mehr Infos zum Stück findet ihr hier.

Michael Freis Einsatz von Musik zwischen den Szenen ist ein Höhepunkt der Inszenierung. Es erklingen Versatzstücke aus Wagners Musik, wieder getrennte Teile des Welten-Puzzles: Das Wehe-Motiv und Siegfrieds Hornruf werden gemischt mit elektronischer Tanzmusik, rhythmisch eingängig wie das Riesen-Motiv. Wie bei Wagner, so ist sie auch hier das verbindende und versöhnende, Gut und Böse relativierende Element und erfüllt die Funktion einer im literarischen Drama fehlenden episch-objektiven Erzählstimme, nur ohne Worte. Die Musik zwingt die Figuren zu schweigen und zu tanzen (die Choreographie stammt von Valentí Rocamora y Torà). Durch sie gelangt am deutlichsten »das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente« (Thomas Mann) ins Stück.

Wagners Siegfried durchschreitet das Feuer als Trugbild, bricht im Mythos den Mythos. Köck vollzieht dasselbe auf einer höheren Ebene. Dem Kunstwerk können seine Figuren letztlich aber niemals entkommen. Und der Mensch vielleicht nicht dem Mythos. Das Bewusstsein kommt nicht über sich selbst hinaus. Und das eigene egoistische Begehren reproduziert die alten Strukturen: Nachdem am Ende, nach ewigen Diskussionen, wider bessere Überzeugung, doch noch einmal alle dem Ring hinterhergejagt sind und die Suche nach dem richtigen Leben vorerst aussichtslos geendet ist, bleibt man mit der alten Rat- und Sprachlosigkeit zurück.

Ihr Ausdruck ist die Musik: »tönendes Schweigen« (Wagner). Der mänadische Eros der Musik versammelt – befreiend oder einfangend? – die Figuren auf der ewigen Drehbühne und erlöst sie von ihren Rollen wie in den tiefrauschenden Fluten eines Flusses. Brünnhilde kann wieder schlafen.

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