Juno und die Love-Scammer

Juno führt ein Doppelleben. Tagsüber kümmert sie sich um ihren schwerkranken Partner Jupiter und nachts, wenn sie die Schlaflosigkeit wieder einmal plagt, chattet sie mit jungen Männern im Internet – eine Flucht aus dem Alltag und in die Anonymität, die Martina Hefter in ihrem mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? einfängt und sich mit erfrischender Leichtigkeit der menschlichen Bedürftigkeit widmet. Eine gerechtfertigte Buchauszeichnung?

Von Marie Sadeghi Ardakani

Bild: Via Pixabay, CC0

Juno – das ist die Raumsonde, die den Planeten Jupiter umkreist und die Göttin der Ehe und Fürsorge. Der Name ist Programm, denn die über fünfzigjährige Tänzerin lebt mit ihrem schwerkranken und auf sie angewiesenen Mann in Leipzig und pflegt diesen bereits seit mehr als 15 Jahren. Während sie tagsüber den Alltag für sich und Jupiter übernimmt, kommt sie nachts nur selten zur Ruhe.

Ihre Nächte zeichnen sich durch Schlaflosigkeit und Melancholie aus, so dass Juno immer mal wieder in ihre Instagram-Direktnachrichten abtaucht. Dort begegnet sie sogenannten ›Love-Scammern‹: Fake-Profile, die ihren oftmals weiblichen Opfern Verliebtheit vortäuschen, nur um dann unter unterschiedlichen Vorwänden an ihr Geld zu kommen. Juno jedoch fällt auf diesen Liebesbetrug nicht herein, da sie bereits Dokus über dieses Phänomen des modernen Heiratsschwindels gesehen hat. Also beschließt sie den Spieß umzudrehen und von der Gejagten zur Jägerin zu werden. Sie beginnt auf die Lügen der meist jungen Betrüger, die sich für weiße, erfolgreiche Männer ausgeben, ebenso mit Unwahrheiten zu reagieren.

Ihre nächtliche Melancholie und die Eintönigkeit des Tages durchbricht sie; ihre Neugier stillt sie auf diese Weise. Nicht Juno antwortet auf die Chat-Anfragen, sondern ihre ausgedachten Identitäten. Die Betrüger schlägt sie mit ihren eigenen Waffen: »Kommt her zu Juno. Sie will mit euch spielen.« Während einige ihrer absurden Lügen in Beleidigungen ihrer Gegenüber enden oder darin, dass sie von den Männer-Profilen blockiert wird, beginnt Juno eines Nachts mit Owen_Wilson223 ein über mehrere Monate anhaltendes Chatgespräch. Auch den Betrug von Benu, wie sein richtiger Name lautet, deckt Juno schnell auf und wirft diesen dem jungen Mann aus Nigeria an den Kopf. Anders als die bisherigen User bleibt Benu jedoch online. Zwischen ihm und Juno entsteht fortan eine nächtliche, virtuelle Intimität, die zwar auf Smalltalk, dafür jedoch auf Gegenseitigkeit und ehrlichen Gesprächen beruht.

Mehr als Jupiters Pflegerin

Martina Hefter erschafft mit der Protagonistin Juno eine vielschichtige Figur, die Aufopferung und Selbstverwirklichung vereint. Zum einen richtet Juno Tag für Tag ihr alltägliches Leben nach ihrem kranken Partner und ist der »doppelte Boden für Jupiter«. Zum anderen erkennt Hefter allerdings auch Junos eigene Bedürfnisse und Bestreben an, die sich unterschiedlich äußern und ihr Verlangen nach Selbstbestimmung darlegen. So geht die Schlaflosigkeit zwar mit Müdigkeit einher, was sie in diesen Nächten empfindet, ist jedoch »etwas, das nur ihr gehört«. Ähnlich ergeht es ihr mit ihrem Dasein als freischaffende Künstlerin und Tänzerin, denn während Juno oft das Gefühl hat, dass sie in ihrem Alltag nicht sie selbst sein kann, fühlt sie sich auf der Bühne frei von allem.

Die Verhältnisse in den Online-Chats kehrt sie um, indem sie gleichermaßen mit Unwahrheiten spielt. Nichtsdestotrotz haben diese, insbesondere der Chat mit Benu, einen Einfluss auf Junos nächtliche Melancholie. Abseits von Tageslicht und Alltagsaufgaben schlüpft sie in eine Rolle, die sie selbst erwählt und über die sie allein die Kontrolle hat: »In den Chats war sie womöglich die echte Juno«. Hefter zeichnet mit ihrer Protagonistin auf diese Weise keine eindeutige oder eine in ihrem Schicksal gefangene Frau, die sich ausschließlich über ihr Tun als pflegende Angehörige definiert. Im Gegenteil, Hefter zeigt die Sehnsüchte, Wünsche und Bedürfnisse Junos, unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen.

Wildbienen, Melancholia und griechische Mythologie

Figurennamen und Mythologie verknüpft die Autorin in ihrem Roman geschickt. Da ist beispielsweise die Nachbarin Hippolyta, die von Zeit zu Zeit Juno dabei hilft, Jupiter – inklusive Rollstuhl – für einen Zahnarztbesuch oder einen Literaturwettbewerb durch das Treppenhaus zu tragen. Der Blick in die griechische Mythologie verrät: Hippolyta ist die Königin der Amazonen und die Tochter des Kriegsgottes Ares, der ihr einen Gürtel mit übermenschlichen Kräften vererbt oder wie Hefter es beschreibt: »kräftige Arme«. Nicht nur Juno spielt mit den Betrügern in den Chatnachrichten, auch Martina Hefter verleiht ihrem Roman durch zahlreiche Referenzen wie den mythologischen Namensbezeichnungen und Vergleichen eine spielerische Tiefe, die dazu einlädt, genauer hinzuschauen.

Martina Hefter
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Klett-Cotta: 2024
224 Seiten, 22€

Da ist zum einen die Bedürfnislosigkeit der Wildbienen im Insektenhotel des Ehepaars, die Juno fasziniert, da sie anders als Honigbienen keinen Honig produzieren und damit die Unabhängigkeit von der Leistungsgesellschaft symbolisieren. Bedeutung trägt für Juno auch der Endzeitfilm Melancholia aus dem Jahr 2011, der vom gleichnamigen Planeten handelt, welcher droht mit der Erde zu kollidieren. Nicht nur mit einem bevorstehenden Weltuntergang konfrontiert, wird die Protagonistin des Films zusätzlich von ihrer Depression übermannt. Auffällig ist: Im übertragenden Sinn spiegelt der Film an vielen Stellen Junos Leben wider. Anders als im Film, in dem Planet und Erde tatsächlich kollidieren, löst sich Junos Melancholie am Ende jedoch auf: »Wenn du das lesen wirst, ist der Planet Melancholia längst von einem schwarzen Loch verschluckt«. Und mit ihm verschwindet auch ihre Schlaflosigkeit und schließlich aber auch Benu.

Einfacher Plot, tiefgründige Gedanken

Zwar bleibt der Plot des Buches insgesamt überschaubar oder sogar ereignislos, die Gedanken und Themen, die Juno jedoch täglich umgeben, sind dagegen erfrischend ehrlich und weisen unter der Oberfläche einen tieferen Sinn auf. Sie denkt regelmäßig über das Sterben, über das Altern, über das Altern als Frau oder über ihre Kindheit nach; sie fühlt Mikroaggressionen, Euphorie und fragt sich nicht selten, was das, was sie nachts tut, eigentlich für sie bedeutet. Die Frage nach Richtig oder Falsch lässt Hefter bewusst offen und erschafft damit auch für ihre Protagonistin Freiräume inmitten des täglichen und nächtlichen Wahnsinns. Hefters Referenzen kennzeichnen sich dadurch, dass sie an verschiedenen Stellen wiederkehrend aufgegriffen werden und dem Roman auf diese Weise trotz fehlender Handlungsspannung eine abgeschlossene Geschichte präsentieren. Ständiger Begleiter bleiben letztlich die Bezüge zum Universum, dem Sternsystem und Junos Platz in diesen.

In Hey guten Morgen, wie geht es dir? ist nicht nur der Romantitel ansprechend, sondern auch die Bandbreite von Junos banalen und amüsanten sowie ernsthaften und kritischen Empfindungen, die das Potenzial haben, direkt zu Lesenden zu sprechen. Neben dem Abtauchen in Junos Doppelleben auf Zeit, gelingt Hefter vor allem auf sprachlicher Ebene eine unkonventionelle Inszenierung. Die Stärke des Romans liegt im subtilen Plot, der bewusst hinter die Figur tritt und den Raum für Junos Person öffnet. Hefter macht sich von geradliniger Erzählstruktur und klassischem Spannungsbogen frei und legt den Fokus so auf die wechselnden Gedanken und facettenreichen Empfindungen, die das Leben ihrer Protagonistin bestimmen. Ihre Sprache ist ehrlich, prägnant und ungekünstelt und erschafft mit ihren zahlreichen Themen eine Brücke zur Wirklichkeit der Lesenden. Legt man weniger Wert auf spannungsgeladene Handlungen und dafür mehr auf geistreichen Sprachstil und authentische Darstellung, dann findet man in Hefters Roman in jedem Fall einen feinsinnig-reflektierten Roman mit genügend Witz, der nicht nur den Zeitgeist trifft, sondern zurecht Preisträger ist.

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