Krank und frei

Die Liebe in Zeiten der Corona. Das Deutsche Theater in Göttingen protestiert mit einer Adaption von Juli Zehs Corpus Delicti gegen soziale Distanz und zeigt, wie ein Theater in der Krise die Freiheit zurückerobert.

Von Leonie Krutzinna

Bilder: © Thomas M. Jauk

»Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann«. Leitmotivisch wiederholt sich diese Kampfansage gegen die Gesundheitsdiktatur in Juli Zehs Corpus Delicti. Das Stück war bereits 2007 ein Auftragswerk für die RuhrTriennale, das die Autorin später zur Romanfassung umarbeitete. Ihre Dystopie schildert eine Welt, in der die Gesellschaft die Gesunderhaltung der Menschen zur obersten Priorität erhebt – auf Kosten ihrer demokratischen Grundwerte. An deren Stelle tritt »DIE METHODE« als ein Rechtssystem, das die sportliche Aktivität trackt, Alkohol- und Koffeinkonsum sanktioniert und Liebe nur bei genetischer Kompatibilität erlaubt.

Das Deutsche Theater Göttingen wählt mit Zehs Corpus Delicti ein Szenario, das uns in der Corona-Pandemie etwas weniger absurd zu sein scheint als noch 2007. Regisseurin Antje Thoms, die am DT bereits Orwells 1984 inszenierte, modifiziert diesen Stoff – entsprechend den Auflagen durch die Pandemie.

Theater mit Hygienekonzept

Denn diese Auflagen stellen zunächst einmal ganz konkrete Forderungen an den Spielbetrieb: kein Kontakt von Personen, die nicht im selben Haushalt leben, Abstand halten, Hygienevorkehrungen. Wie das zusammengeht mit den theatralen Mitteln von Nähe, Unmittelbarkeit, Körperlichkeit, das zeigt die 70-minütige Inszenierung auf eindrucksvolle und beklemmende Weise.

Unter dem Titel Die Methode verlagert Thoms den Fokus der Inszenierung vom Delikt auf das System und damit auf die Menschen und Positionen innerhalb dieses Systems. Der Ort der Handlung ist die Tiefgarage: Wie im Stationendrama durchfährt das Publikum im eigenen Auto – bzw. im Taxi, das eigens für den Besuch gebucht werden kann – einen Parcours.

Vor der Einfahrt ins »Wächterhaus« erklärt ein Hausmeister die Maßnahmen: Türen und Fenster geschlossen halten, Motor und Licht aus, die Innenbeleuchtung bleibt an. Das Auto umringt von Sicherheitspersonal in Schutzanzügen. Der Ton wird über eine Bluetooth-Box ins Fahrzeuginnere übertragen. Das Gefühl der Beklemmung wächst: Werden wir abgehört?

Querulant Moritz Holl (Volker Muthmann) sucht nach den Zwischentönen. © Thomas M. Jauk

An der ersten Station sitzt uns Moritz Holl im Auto gegenüber. Er zeigt die Bilder seiner Affäre, die allerdings nicht über den passenden Genpool verfügt. Ebenso illegal wie diese Liaison sind die Bücher, die er liest, die Zigarette, die er sich nicht traut zu rauchen. Ein Hubschrauber kreist über uns. Moritz Holls Blick ist mal gehetzt nach oben gerichtet, mal von durchdringender Intimität trotz der Glasscheiben. Immer wieder greift er zur Gitarre und singt: »Which side are you on?«

Das Fehlen der Zwischenräume

Das Staatssystem der »Methode« hat die Zwischenräume nivelliert: Wer sich nicht konform verhält, das heißt körperliche Gesundheit nicht zum höchsten Ziel der menschlichen Handlung macht, wird befragt, verurteilt, ausgestoßen. Blaulicht kündigt die Szenenwechsel an und steigert den Konflikt um das sich widersetzende Subjekt. Dieses schmiert uns sein Blut an die Windschutzscheibe, übergibt uns seine DNA und damit die Rolle des Moritz Holl. An der zweiten Station werden wir von der »systemrelevanten Person« nach unseren Vergehen befragt. Das Gefühl der Hilflosigkeit steigert sich. Wie auch beim Protagonisten in Zehs Vorlage wird unsere Stimme nicht gehört – und darin liegt der eigentliche Konflikt des Stücks.

Das Unbehagen angesichts der Überwachung und Anschuldigungen wächst. Das Spiel von Angesicht zu Angesicht, die einnehmenden Stimmen im Fahrzeug, die detailreichen Kulissen steigern die Intensität. Jedes Abwenden wird unmöglich, wenn Anklageschriften hinter den Scheibenwischer geklemmt und Blut an die Windschutzscheibe geschmiert werden. Längst ist das Auto kein sicherer Raum mehr.

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Info

Das Deutsche Theater in Göttingen zeigt als größtes Theater der Stadt ein umfangreiches Repertoire auf drei Bühnen. Bereits seit den 1950er Jahren errang das DT unter Leitung des Theaterregisseurs Heinz Hilpert den Ruf einer hervorragenden Bühne. Seit der Spielzeit 2014/15 ist Erich Sidler Intendant des Deutschen Theaters Göttingen.

Die letzte Station gehört Mia, Moritz’ Schwester. Sie trauert um ihren Bruder und verkörpert, wofür zwischen Verboten, Maßnahmen und Anklagen bislang kein Raum war: das Gefühl. In ihrer Emotionalität versinnbildlicht Mia das abgerutschte, das verurteile und ausgestoßene Individuum. Umgeben von Schaufensterpuppen steht sie in einer maskenhaften, einer fragmentierten Gesellschaft und kommt zum bedrückenden Fazit:

Ich habe die Pest, Lepra, Cholera, Leukämie. Ich bin krank, ich bin frei. Krank und frei.

Die Methode am Göttinger DT ringt uns aristotelische Einfühlung ab und bringt uns damit an den Rand der Erschöpfung. Dieser Stress nach Wochen der sozialen Distanz und eines nicht absehbaren Endes von Einschränkungen im sozialen Miteinander ist schwer zu ertragen. Wenn dieser Tage von »Lockerungen« die Rede ist, so stellt ein Theaterbesuch im DT zur Debatte, inwiefern sich Freiheit nun tatsächlich nach der Größe von Ladenflächen bemessen lässt.

Befreiung durch Kunst

Drastisch hat sich in diesem Frühjahr gezeigt, wie (auch) die Kunst in den Lockdown gezwungen, wie sie damit buchstäblich in ihrer Freiheit beschnitten und ins Digitale verwiesen wurde. Theater, Konzertsäle und Museen wurden geschlossen, Kultur sei zwar ein »geistiges Lebensmittel«, aber sie ist eben nicht »systemrelevant«.

Das DT trotzt den Maßnahmen, den Auflagen und der sozialen Distanz, ohne sie zu verletzen, ohne zu polarisieren, ohne anzuklagen. Damit zeigt sich das Theater in seiner systemrelevantesten Form als ein Ort der Debatte – einer Debatte, die wir gerade in Zeiten von Corona brauchen, um uns immer wieder daran zu erinnern, die Demokratie lebendig zu halten.

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