Kritik ist KUNST

Andreas Platthaus ist diesjähriger Anna-Vandenhoeck-Gastdozent für Literaturkritik. Der Titel seiner Antrittsvorlesung ließ einen trockenen Kant-Exkurs befürchten. Doch seine Erörterungen waren nicht nur erhellend, sondern auch rhetorisch überzeugend. Nur in einem Punkt waren sie streitbar.

Von Sebastian Kipper und Mareike Röhricht

Bild: Via Pixabay, CC0

Seitdem die Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik 2019 wieder eingeführt wurde, durfte man in Göttingen einige etablierte Feuilleton-Namen begrüßen. Dieses Wintersemester reiht sich Andreas Platthaus in die Liste der bisherigen Dozent:innen ein. Der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist dort für das Ressort »Literatur und literarisches Leben« verantwortlich.

Nach einem kurzen Grußwort von je einer Vertreterin der Brillux Verlage und der Komparatistik, die die Gastdozentur in einer gemeinsamen Kooperation ausrichten, wendet sich Platthaus seinem Publikum zu. Sein nicht unbescheidenes Ziel formuliert er schon zu Beginn seines Vortrages: die Entwicklung eines Kritikideals. »Was kann, soll, muss Kritik?« – diese Frage bildet den roten Faden für Platthaus’ Vortrag. Und dabei gelingt es ihm sogar, en passant den Vorwurf der parteiischen Meinungsmache, der so oft gegen die Literaturkritik erhoben wird, dezidiert auszuräumen.

Wie geht Kritik?

Gastdozentur

Die Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik besteht in einer Kooperation der Abteilung Komparatistik und den Vandenhoeck & Ruprecht Verlagen. Zu ihrer Ausrichtung wird eine renommierte Berufskritikerin oder ein Kritiker berufen, die:der in mehreren Blockseminarsitzungen theoretische und vor allem praktische Übungen in Literatur- und Kulturkritik für alle Studierenden der Philosophischen Fakultät anbietet. An die erste Seminarsitzung schließt sich außerdem ein öffentlicher Vortrag an.

Andreas Platthaus betitelt seinen Vortrag als ›Kritik der reinen Kritik‹– ein unverblümter Verweis auf das wohl bekannteste Werk Immanuel Kants, »Kritik der reinen Vernunft«. Platthaus bezieht sich in seinem Vortrag vor allem auf das Vorwort, in dem Kant seinen Kritik-Begriff mithilfe eines Gleichnisses skizziert: Der Kritiker gehe an die Natur, um sich von ihr belehren zu lassen. Das Naturgegebene sei somit das Maß der Dinge. Aber der Kritiker sei gleichzeitig auch gestaltender Richter, der über das urteilt, was ihm in der Natur begegnet. Dieses Bild überträgt Platthaus auf die Literaturkritiker:innen. In deren Fall sei es aber das Buch selbst, womit sie konfrontiert würden, und auch das Buch allein, das Gegenstand der Kritik sei. Sämtliche Diskurse, die das Buch begleiten, sollten bei der Lektüre erst einmal ausgeblendet werden. Das ist ein Gedanke, zu dem Platthaus später wieder zurückkehrt, um über die sogenannte ›political correctness‹ zu sinnieren. Doch er verharrt zunächst noch ein wenig länger in der Vergangenheit.

Er geht noch weiter zurück ins 17. Jahrhundert, nach Frankreich zu Pierre Bayle und Denis Diderot. Beide Philosophen vertreten die Position, dass das menschliche Wissen nie absolut sein kann. Kritik sei demnach immer eine begründete Positionierung, die alle – insbesondere die widersprüchlichen Aspekte – in den Blick nimmt, um auf Basis einer solchen grundlegenden Auseinandersetzung ein Urteil nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen. An diesem Punkt schlägt Platthaus den Bogen zur Gegenwart und stellt seinen eigenen Kriterienkatalog für eine gelungene Literaturkritik vor. Sie zeichne sich aus durch (Sach-)Kenntnis, Unabhängigkeit, Neutralität und Sorgfalt und Technikbeherrschung.

In dem Akronym, das sich aus dieser Auflistung bilden lässt, steckt bereits eine zentrale These des Vortrages: Ordentliche Kritik ist eine KUNST. Meinungsmache hingegen sei MURKS, oder ausbuchstabiert: Mitläufertum, Unanschaulichkeit, Ranküne, Kumpanie und von Sachmängeln gekennzeichnet. Dieser Kriterienkatalog, konzis skizziert, bildet das Herzstück des Vortrages.

Doch die Aufklärung, allen voran Kant, ist nicht der einzige Bezugspunkt für Platthaus‘ Arbeit als Literaturkritiker. Eine andere Größe, an der sich der FAZ-Redakteur orientiert, ist Karl Kraus, der unter anderem auch mit seinen Theaterkritiken publizistisch tätig war. Platthaus hebt vor allem Kraus‘ Schaffen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel (1899-1936) hervor, in der er sich losgelöst von allen parteipolitischen Bindungen dem Ideal einer klar geschriebenen Sprache und dessen Verteidigung verpflichtete.

Von der Theorie zur Praxis

Doch es bleibt nicht allein bei diesem theoretischen Dekret. Platthaus vermittelt seinen Gästen auch einen Eindruck von seiner alltäglichen Arbeit für das Feuilleton der FAZ. Dort hat er zwei Funktionen: Er ist Chef des Literaturresorts, aber gleichzeitig auch Autor und damit Literaturkritiker. In der ersten Funktion bewertet er die eingereichten Kritiken, arrangiert diese im Blatt und befasst sich mit organisatorischen Fragen. Auch in dieser Arbeit äußere sich sein bisher skizzierter Anspruch an Literaturkritik. Denn die eingereichten Rezensionen sollten Plausibilität vermitteln, das Urteil schlüssig begründet sein und auch Widerspruch zulassen können. Ferner lasse er bewusst, anders als sein Vorgänger Marcel Reich-Ranicki, seiner Meinung widersprechende Positionen zu.

Ebenso gibt er einen praktischen Einblick in den Auswahlprozess der zu rezensierenden Medien, was schon angesichts der Medienflut keine leichte Aufgabe sei. Ziel sei es, diverser zu werden – alles, was Interesse wecke, sei Beachtung wert. Schließlich sei Neugierde die Triebkraft des journalistischen Schreibens. An dieser Stelle beginnt Platthaus seinen Exkurs zur Identitätspolitik und zur sogenannten political correctness. Kategorien wie ›Geschlecht‹, ›race‹ oder ›Klasse‹ seien unabhängig von Schreibfähigkeit und lediglich interessant als thematische Komponente, postuliert Platthaus. Er als »alter, weißer Mann« habe gerade dann ein Interesse an Büchern, die eine Perspektive vermitteln, die eine gänzlich andere als die eigene ist – seine kenne er ja schließlich schon.

Systematischen Sexismus bei der Besprechung von Titeln von Frauen vermag er auch nicht zu sehen. Immerhin waren die letzten zwölf Kritiken, die er schrieb, zu Büchern von Frauen, die ihn durchgehend beeindruckten. Ob in einer Ausgabe ausschließlich Autoren oder Autorinnen besprochen, das sei eher Zufallssache. Und wenn mal nur Frauen in der FAZ besprochen würden, dann fiele das den Leser:innen erfahrungsgemäß auch nicht auf. Die Debatte um ausgrenzende Tendenzen in der Literaturkritik sei seiner Meinung nach verfehlt und gehe mit Durchsetzung eines gesellschaftspolitischen Ideals einher, das zur Banalisierung der behandelten Bücher führe.

Kritische Einstellung zur Identitätspolitik

Damit droht Platthaus’ sonst so differenzierter Vortrag gegen Ende zu verflachen. Dass seine letzten zwölf guten Rezensionen zu Büchern gut ausfielen, ist ein schwaches Argument dagegen, dass es keinen systematischen Sexismus in der Literaturkritik gibt. Denn das Problem ist nicht, dass es Verrisse von Büchern von Frauen gibt, sondern wie diese teilweise vernichtende Kritiken begründet sind. Und diese Begründungen zeugen meist von der Arroganz männlicher Rezensenten gegenüber Büchern, in denen Schilderungen von spezifisch weiblichen Lebensumständen oder gesellschaftlichen Missständen zu lesen sind, wie die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert akribisch herausgearbeitet hat.

Platthaus’ Interesse an allen Themen, die seine Lebenswelt als ›alter weiße Mann‹ nicht tangieren, ist löblich. Aber er übergeht – auch wenn es solche Kritiken seinem Kritikideal nach gar nicht geben dürfte –, dass es genau diese Themen sind, die andere Rezensenten als banal, kitschig, exhibitionistisch, naiv, kurz: als irrelevant aburteilen. Wie man mit diesem MURKS verfahren soll, darauf geht Platthaus nicht mehr ein.

Mit diesen streitbaren Behauptungen zur Identitätspolitik im literarischen Feld endet auch sein Vortrag. Fragen können ob der fortgeschrittenen Zeit leider nicht mehr gestellt werden. Das ist schade, hätte sich das doch als Anknüpfungspunkt für eine interessante Debatte geeignet. Doch auch so war der Erkenntnisgewinn an diesem Abend schon groß. Trotz des etwas dröge klingenden Titels entpuppte sich Platthaus’ Antrittsvorlesung nicht nur als anregende Aneignung einiger Thesen Kants, sondern er präsentierte auch einen analytisch ausgefeilten Merkmalkatalog guter Literaturkritik, ohne jeglichen Praxisbezug zu entbehren. Literaturkritik, so postuliert Platthaus an einigen Stellen in seinem Vortrag, hat die Funktion, gute Literatur zu empfehlen und vor schlechter Literatur zu warnen, damit die Leser:innenschaft ihre begrenzte Zeit auch in vielversprechende Literatur stecken kann. Die Kategorien ›gut‹ und ›schlecht‹ beziehen sich auch hier wieder auf subjektive Geschmacksurteile, die aber nachvollziehbar begründet sein sollten. Mit den Vorgaben, für die sich Platthaus stark gemacht hat, sollten sich auch Rezensionen schreiben lassen, die diese Funktion mehr als erfüllen.

Sebastian Kipper und Mareike Röhricht arbeiten als studentische Hilfskräfte in der Abteilung Komparatistik.

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