Pop VIII – New Romanticism

»There is no future in England’s dreaming«: Die britischen Sex Pistols revoltierten in den 80ern mit anarchistischem Punk und aufsehenerregenden Musikvideos gegen das kapitalistische Establishment. Gleichzeitig wandten sich die New Romantics wie Duran Duran von der Realität ab und erhoben die Weltflucht zum Zukunftsideal. Annie Rutherford zwischen Subkultur und Weltraumpoesie im Pop-Essay Nummer VIII.

Von Annie Rutherford

Artikelbild: Collage aus Pop Pop Pop von Julia Benner und Johnny Rotten aus dem Nationaal Archief der Niederlande (unter CC BY-SA 3.0 NL) via Wikimedia.

Großbritannien, 1981. Die konservative Margaret Thatcher ist seit zwei Jahren Premierministerin und schon unbeliebter als jeder andere Premierminister des zwanzigsten Jahrhunderts. Unter ihrer Regierung werden Gelder für staatliche Sozialleistungen drastisch gekürzt. Auch die Fördergelder für Kultur werden hart getroffen. Die Industrie wird privatisiert und die Macht der Gewerkschaften systematisch abgebaut. Zweieinhalb Millionen Menschen sind arbeitslos; die Zahl wird in den nächsten drei Jahren noch steigen. Der Liedtext der Sex Pistols von 1977 scheint sich zu bestätigen: »There is no future in England’s dreaming«.

So zumindest sieht es die Subkultur der Punks – und an Punk kommt man nicht vorbei, wenn man über die britische Popkultur um 1980 redet. Laut, grell und anarchistisch, mit Wurzeln in der Arbeiterklasse: Die Bewegung regte die Phantasie – und häufig auch die Ängste – der zeitgenössischen Medien an. Auch im Nachhinein glauben wir, die Stimmung der Zeit in zornigen Texten wie denen der Sex Pistols erkennen zu können. Punk hatte aber auch einen Bruder, den exzentrischen und glamourösen New Romanticism, der irgendwie aus dem Familienalbum verschwunden ist und für den »England’s dreaming« oder zumindest das Träumen allgemein doch eine Alternative bot.

Die New Romantics: ABC

New Romanticism entstand Ende der siebziger Jahre in London und Birmingham, v.a. im Londoner Club The Blitz. Es ging dabei nicht nur um die Art von Musik, die gespielt wurde, sondern auch um die fantasievoll und oft androgyn gekleideten Club-Besucher_innen. New Romanticism fing also als inklusive Kultur an, die nicht nur Musiker_innen einschloss, sondern auch Zuhörer_innen und Tänzer_innen. Aus diesem ‚Inklusiv‘ wird aber gleich darauf ein exklusives Geschäft: Der Musiker Steve Strange, der als Türsteher für den Club arbeitet, weist Menschen ab, weil sie seiner Ansicht nach nicht innovativ genug angezogen sind. Die Mode der New Romantics hatte dabei viel mit den Kreationen von Vivienne Westwood gemeinsam (deren Lebensgefährte Manager für die Sex Pistols sowie auch für New Romantic-Gruppen Bow Wow Wow und Adam and the Ants war): Kern des Stils war das Zitieren von unterschiedlichen pseudohistorischen Moden sowie die Absicht, aufzufallen. Aus dieser Szene heraus entstanden Bands wie Visage, Duran Duran und Spandau Ballet, die Tongeneratoren einsetzten und für ihre häufig abstrakten und realitätsfernen Texte und Videos bekannt waren.

Im Folgenden werde ich ein Close Reading von Duran Durans Musikvideo Planet Earth mit Fokus auf ihre Beziehung zur Subkultur und Punks anbieten. Dabei wird es auch um die Romantik gehen und die Konzepte von Authentizität und Künstlichkeit, die diese zwei Bewegungen ausdrücken. Planet Earth habe ich deswegen ausgewählt, weil das Video die wichtigsten Merkmale des New Romanticism aufweist: eine ausgefallene und historisch inspirierte Mode, ein androgyner Kleidungsstil, die Beeinflussung durch David Bowie (thematisch kann man das Video als eine Anspielung auf Ziggi Stardust sehen), der starke Einsatz von Tongeneratoren und eine unpolitische, realitätsferne Einstellung.

Anarchy in the UK

Um die Ästhetik und Einstellung von Planet Earth mit der von Punk zu vergleichen, ist es als erstes nötig, diese Ansätze zu umreißen, was ich mit Bezug auf God Save the Queen von den Sex Pistols versuchen werde. Kennzeichnend ist, dass das Musikvideo zu God Save the Queen jede Andeutung der künstlichen Zusammenstellung vermeidet. So verzichtet die Musik auf synthetische Generatoren und Mischmethoden – die Instrumente, die man sieht, sind die Instrumente, die man hört. Damit verbunden ist das Auftreten der Musiker, das so wirkt, als ob sie live spielen würden. Sie stehen auf einer Bühne, deren Beleuchtung an einen dunklen Club erinnert, und werden hauptsächlich aus einem tiefen Blickwinkel von vorne gefilmt: aus der Perspektive des Publikums (das Publikum selbst kommt allerdings nicht im Video vor.) Dadurch entsteht der Eindruck, dass der Ton und das Video ohne die beliebig vielen Versuche einer Studio-Aufnahme kreiert wurden, was auch suggeriert, dass die Möglichkeiten eines Studios, den Klang im Nachhinein zu verbessern, nicht vorhanden waren. So wird das, was ich als erste Ebene der punkischen Authentizität bezeichnen werde, konstruiert: Authentizität durch (angeblichen) Mangel von Künstlichkeit (ob dieser Mangel wirklich existiert oder nicht ist für diese Diskussion weniger interessant als die Absicht, den scheinbaren Mangel zu vermitteln). Authentizität durch abwesende Künstlichkeit wird auch durch das Aussehen und Auftreten der Musiker angedeutet. Ihre Bewegungen sind z.T. unkoordiniert und wirken ungeübt. Sie lachen heiter, nicken einander zu, trinken zwischendurch eine Dose Bier.

Es sind nicht nur die Szenen der Bands, die ungeprobt und spontan wirken: Diese werden auch mit anscheinend dokumentarischen Szenen von öffentlichen Protesten und Feiern zusammengeschnitten. Genauer: Gezeigt werden Szenen des silbernen Jubiläums der britischen Königin und die Verhaftungen der Band-Mitglieder, nachdem sie versuchten, God Save the Queen zur Zeit der Feier auf einem Boot vor dem Buckingham Palace zu spielen. So entsteht die zweite Ebene der punkischen Authentizität. Die Musik und das Video sollen nicht nur authentisch im Sinne von unverfälscht sein, sondern sie werden auch als politisch relevant präsentiert. Die Sex Pistols entwerfen sich als Stimme einer entrechteten Jugend, die sich dem Establishment entgegensetzt. Dass diese Jugend durch den Dialekt des Sängers (z.B. bei der Aussprache des Vokals beim Wort »Queen«) sowie in der Metadiskussion rund um das Lied als aus der Arbeiterklasse stammend identifiziert wird, verstärkt die konstruierte Authentizität des Lieds. Wie Somers-Willett erkennt, gibt es bestimmte, v.a. marginalisierte Stimmen, die als besonders authentisch verstanden werden.1Susan Somers-Willett: The Cultural Politics of Slam. Michigan 2009, S. 8. Für die Subkultur der Punks gehört die Stimme der Arbeiterklasse dazu.

God Save the Queen wurde in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern zur Hymne der britischen Punk-Bewegung, und diese drei Merkmale eines bestimmten Verständnisses von Authentizität – ungeübte und unverbesserte Aufnahmen, eine gewisse politische Einstellung und die Identifikation mit einer bestimmten sozialen Gruppe – wurden zu Kennzeichen der ganzen Bewegung.

Looking at Planet Earth

Duran Durans Planet Earth lässt sich als eine Antwort auf God Save the Queen verstehen. Musikvideos am Anfang der Achtziger verzichten häufig auf Aufnahmen der spielenden Bands, und viele Videos von den New Romantics, wie z.B. das Video zu Visages Fade to Gray, spielten mit abstrakten Ästhetiken und stimmungsvollen Kulissen. In Planet Earth wird der Fokus ganz im Gegenteil auf die spielende, tanzende Band gelegt, die – wie die Sex Pistols – auf einer Art Bühne steht. Hell beleuchtet und scheinbar in der Luft schwebend: Diese Bühne hat nichts mit der Bühne eines Tanzclubs gemeinsam. Das Video verzichtet also auf den Versuch, einen Live-Auftritt nachzuahmen. Die Künstlichkeit des Videos wird weiter durch Farbstreifen hervorgehoben, die offensichtlich im Nachhinein hinzugefügt werden (bei Min. 0:55 z.B.) sowie durch die technisch produzierte Spiegelung der tanzenden Figuren (wie z.B. bei Min. 2:02). Als visuelle Entsprechung zu den Tongeneratoren, die die New Romantics typischerweise einsetzen, betont das Video die eigene künstliche Zusammensetzung. Dabei entsteht eine Art authentische Künstlichkeit, die einen Gegensatz zur gewollten Unvermitteltheit von God Save the Queen bildet.

Future in England’s dreaming

Auch die politische Relevanz von God Save the Queen wird in Planet Earth herbeizitiert und ins Gegenteil verkehrt. Der am häufigsten wiederholte Vers des Lieds der Sex Pistols lautet »There’s no future« – weder für mich, noch für dich, und erst gar nicht für England. Die Idee der Zukunftslosigkeit wird spielerisch in Planet Earth aufgenommen, und zwar durch die Schrift, durch die das Bild überlagert wird. In der typischen Schriftart des Programmierens wird der Doomsday proklamiert (Min. 2.48): der Tag, nach dem es laut der christlichen Religion (sowie häufig in Science Fiction) keine Zukunft mehr gibt. Das Lied bettet diesen Tag in ein Science Fiction-Universum ein, in dem ein Raumfahrer eine Nachricht für die Erde hinterlässt und entpolitisiert dabei den Text, der zuvor das politische Manifest der Punk-Bewegung gewesen war. Der politische Protest der Punks wird dabei mit der Weltflucht der New Romantics vertauscht.

Welt- oder Realitätsflucht ist ein wichtiger Teil der Subkultur der New Romantics. Statt auf die zeitgenössische politische Lage aktiv zu reagieren, verneinen sie diese, indem sie durch ihre Mode und auch in Musikvideos wie Ultravox’ Vienna auf ganz andere Epochen verweisen. Dazu kommt, dass sie sich (im Kontrast zu den Punks) während des Rückgangs wirtschaftlicher Kraft von visuellen Kennzeichen der ökonomischen Schwierigkeiten abwenden und immer glamourösere Kleidungstile suchen. In Zeiten, in denen nicht nur sozial, sondern häufig auch persönlich eine existenzsichernde Zukunft nicht zu erkennen ist, bleibt eine der letzten positiven Möglichkeiten der Rückzug ins Imaginäre: Für die New Romantics gibt es einzig im Träumen eine Zukunft.

Diese Realitätsflucht, die aus der Perspektive der Punks als unauthentisch zu verstehen wäre, mussten sich die New Romantics aber schwer erkämpfen. Clubs wie der Blitz waren zwar freie Räume, wo junge Menschen sich so anziehen und benehmen konnten, wie sie wollten. Auf den Straßen der Großstädte, auf denen sich die Subkultur entwickelte, gab es allerdings nicht dieselbe Freiheit. Die New Romantics – wie auch die Punks – spielten mit weiblichen und männlichen Attributen und entwickelten einen eigenen Stil, der z.T. androgyn war und zeitweise Drag ähnelte. Das fiel v.a. bei den jungen Männern auf, die sich schminkten und oft Langhaar-Frisuren hatten. Als Folge wurden sie nicht selten gesellschaftlich ausgeschlossen und sogar zusammengeschlagen. Ihre realitätsferne Einstellung beweist sich dabei doch als überraschend realitätsnah. Was sich aus einer Sicht als Künstlichkeit erweist, lässt sich auch als eine Art romantische Authentizität beschreiben, bei der es gilt, sich selbst treu zu sein, ohne auf gesellschaftliche Autorität zu achten.

(New) Romanticism

Diese Bemerkung bietet einen Übergang zur Analyse einer zweiten Bewegung, die der New Romanticism zitiert und deren Geschichte umschreibt: die Romantik. Da ich über ein britisches Phänomen schreibe, verwende ich den Begriff Romantik hier im angloamerikanischen Sinne, als kulturelle Bewegung, die zeitlich ungefähr zwischen 1790 und 1830 zu verorten ist. New Romanticism spielt auf die Romantik in unterschiedlicher Art und Weise an: Natürlich fängt der Rekurs beim Namen der Bewegung an, der zwar extern (durch die Beschreibungsversuche von Journalist_innen und Kritiker_innen) entsteht, jedoch im Liedtext von Planet Earth selbst aufgenommen wird. Auch die Kostüme der New Romantics ahmen häufig den Stil eines bestimmten Romantikbildes nach. So erinnern z.B. die längeren Haarschnitte der Musiker von Duran Duran an die von Philipp Otto Runge in seinem berühmten Selbstporträt oder auch diejenige John Keats, während die losen und gerüschten Hemden auf die Mode um 1800 anspielen.

Interessant in diesem Kontext sind v.a. die Ideen zu Ursprünglichkeit (»sincerity«) und Authentizität, die durch die Romantik entwickelt wurden, und die Art, wie diese mit neuen Modellen des Selbst und des Künstlers (und es ist meistens der Künstler) ineinander gewoben wurden. Diese wurden um den Kern eines inneren Selbst verfestigt, was sich insofern von früheren, meist religiös geprägten Verständnissen von Authentizität unterscheidet, als dass der Hinweis auf eine äußere Quelle der Autorität verschwindet. Für den Künstler findet diese Ideologie ihren Ausdruck in einer Abwendung von dem Versuch, klassische Muster nachzuahmen. Stattdessen versucht der romantische Schriftsteller, authentische Individualität durch Originalität zu beweisen.

Ground Control to Major Tom

Diese Ideen werden auf spielerische Art und Weise von den New Romantics aufgenommen. In Planet Earth sind sie v.a. im ersten Bild zu sehen. Präsentiert werden Kopf und Schultern des Sängers im Weltraum vor dem Hintergrund der bewölkten Erde. Das Bild des einsamen romantischen Künstlers (Wordsworths’ »wander[ing] lonely as a cloud« wirkt besonders passend) wird hier ins Extreme geführt. Weiter weg von der entfremdeten Gesellschaft geht es gar nicht; und die Verinnerlichung von Autorität und zugleich auch diejenige von Authentizität wird dadurch versinnbildlicht, dass der Kopf des Künstlers fast größer als die Erde selbst erscheint. Die Idee des Sängers als romantischer Held – der ja programmatisch besonders nah am Autor zu verorten ist – wird durch das Motiv des Astronauten im Bild des Weltalls präsent und durch den Text (wie z.B. den letzten Vers, »calling Planet Earth«) verstärkt. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (zumindest bis zum Unglück des Space Shuttle Challenger 1986) wird der Astronaut zum wichtigen kulturellen Symbol. Der Astronaut (der, wie der romantische Künstler kulturell und sozial als männlich verstanden war) stellt »an idealised conception of what humanity can and should aspire to« dar.2Dario Llinares: The Astronaut: Cultural Mythology and Idealised Masculinity. Newcastle 2011, S. 1. Auf sich selbst gestellt und »boldly go[ing] where no man has gone before« symbolisiert er die Werte, die die Romantik eingeführt hat und die die Konzepte des Individuums definieren (hier wäre eine Diskussion von kulturellen Präsentationen des Astronauten mit Bezug auf das romantische Konzept des Erhabenen anschlussfähig).

Dass in Planet Earth das Bild des romantischen Künstlers ins Extreme zielt, wird besonders interessant, wenn man die Einstellung von den späteren Romantiker_innen in Betracht zieht. Laut Milnes und Sinanan sind Aufrichtigkeit und Spontaneität für Dichter_innen wie Byron notwendigerweise mit Performanz und Aufführung verbunden. Dabei ist eine Verkörperung von Authentizität »always on the verge of succumbing to parody or excess«3Tim Milnes und Kerry Sinanan: Romanticism, Sincerity, and Authenticity (Vorwort). Basingstoke 2010, S. 17.. Eine solche Neigung zur Parodie sieht man immer wieder bei den New Romantics, nicht nur in ihren Musikvideos, sondern v.a. in der Mode der Zuhörer_innen und Club-Besucher_innen, die auch ein Teil der Subkultur sind. Die Tanzfläche des Musikvideos sowie auch der Blitz-Club und die Straßen von London und Birmingham bleiben für die New Romantics explizit eine Bühne. Indem sie die Möglichkeiten feiern, sich vor dieser Kulisse immer wieder neu zu entwerfen, werden Konzepte von Künstlichkeit und Authentizität stets miteinander verwoben.

Pop! Pop! Pop!

Pop als Feld permanenter Aushandlungsprozesse braucht Authentizität. Der Verweis auf realness und fake, street credibility und wahre Identität dient in der populären Musik dazu, sich nach außen und innen zu vergewissern. Gleichzeitig ist Authentizität immer dann vorbei, wenn man sie als solche begrifflich zu fassen beginnt. Nach der Ringvorlesung des Wintersemesters 2014/15 an der Universität Göttingen hat sich im September 2015 auch ein komparatistischer Workshop in intensiven Diskussionen dem Thema populärer Musik gewidmet und dabei Phänomene der Authentizität und Artifizialität in den Fokus gerückt. In der Reihe Pop! Pop! Pop! präsentieren die VeranstalterInnen Julia Benner, Anna Bers und Niels Penke auf Litlog die einzelnen Beiträge des Workshops.

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