Regierung, antworte mir!

In einer neuen Folge der Göttinger Krisengespräche sprechen der Historiker Ravi Ahuja und der Soziologe Peter Birke über die Situation von Arbeitsmigrant:innen in Deutschland und Indien in Zeiten der Corona-Pandemie. Ein Podcast über Fleischindustrie und Wanderarbeit.

Von Linus Lanfermann-Baumann

Bild: Via Pixabay, CC0

Ein bekannter Effekt der Massennutzung sozialer Medien und Internetplattformen ist, dass sie potente Gegenöffentlichkeiten gegenüber den traditionellen Massenmedien wie Zeitung, Fernsehen oder Rundfunk schafft. Diese Öffentlichkeiten mögen oft für Kosmetik- und Lifestyletipps oder Videospielinhalte gebraucht werden. Doch sie werden auch im großen Stil politisiert, wie als wohl prominentestes Beispiel die Koordination der Protestierenden während des Arabischen Frühlings vor bald zehn Jahren gezeigt hat.

Im Jahr 2020 bieten die sozialen Folgen der Corona-Pandemie Anlass zur Auflehnung. »Sarkar, jabab de« (Hindi für »Regierung, antworte mir«), forderte der indische Rapper Duleshwar Tandi, Künstlername Dule Rocker, während des Lockdowns in Indien. Es ist der Titel eines Songs, den er im Mai 2020 wutgeladen aufnahm und auf YouTube veröffentlichte. Tandi selbst war und ist als Arbeitsmigrant aus Kalahandi im ostindischen Bundesstaat Odisha unmittelbar von den Folgen der Pandemie betroffen. Mit seiner Musik prangert er die prekäre Situation des armen Teils der Bevölkerung und die Untätigkeit der indischen Regierung an.

Die Perspektiven der Arbeitsmigrant:innen selbst kommen in der öffentlichen Berichterstattung oft zu kurz. Zwar hat auch das Literarische Zentrum niemanden persönlich aus dieser Gruppe eingeladen, doch Dule Rockers Zeilen liefern für den 53-minütigen Podcast mit dem Titel »COVID-19 und die Krisen der Arbeitsmigration« eine starke Eröffnung. Stattdessen redet die Moderatorin Karin Klenke, Koordinatorin des Göttinger Centre for Modern Indian Studies (CeMIS), mit dem Historiker Ravi Ahuja und dem Soziologen Peter Birke über deutsche und indische Perspektiven auf die gegenwärtige Lage.

»Bei 45 Grad zu Fuß von Göttingen nach Norditalien«

Insgesamt ist in Deutschland nicht allzu viel über die Situation der indischen Wanderarbeiter:innen bekannt, auch wenn große Medienoutlets gelegentlich darüber berichten. Dabei handelt es sich um eine Thematik von enormer Tragweite. Ravi Ahuja, Professor für Moderne Indische Geschichte am CeMIS, berichtet von über 450 Millionen indischen Arbeiter:innen insgesamt, von denen wohl über 90 Prozent »informell« beschäftigt seien, das heißt ohne Anspruch auf soziale Sicherung oder arbeitsrechtliche Regulierung. Über 100 Millionen davon – mehr Menschen als in ganz Deutschland leben – seien Schätzungen zufolge Wanderarbeitende, viele von ihnen Tagelöhner:innen. Durch den plötzlichen Lockdown im März waren sie »von einem Tag auf den nächsten ihre Arbeit und ihren Verdienst los«, erklärt Ahuja die dramatischen Folgen für die unvorbereiteten Arbeiter:innen.

Auch weil sie in dem Bundestaat, in den sie zur Arbeitsaufnahme migriert waren, oft keine Ansprüche auf Grundversorgung hatten, machten sich viele auf den Weg zurück in ihre Heimat. In Zeiten des Lockdowns heißt das: illegal und zu Fuß. »Bei 45 Grad Entfernungen wie von Göttingen bis Norditalien«, führt Ahuja die Beschwerlichkeiten für die Migrant:innen deutlich vor Augen. Auch der Rapper Dule Rocker kritisiert diese Zustände. Die hindu-nationalistische, rechtskonservative Regierung um Premierminister Narendra Modi, die er zur »Antwort« auffordert, appelliert aber vor allem an die Selbstverantwortlichkeit der Bevölkerung und schränkt das Arbeitsrecht in Zeiten der Krise weiter ein.

Ein breiteres Bündnis

In Deutschland ist Arbeitsmigration ein Phänomen, das zum Beispiel die Fleischindustrie, die Landwirtschaft oder den Versandhandel prägt. Insbesondere der Corona-Massenausbruch im Tönnies-Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück im Juni 2020 infolge katastrophaler Arbeitsbedingungen sorgte für Schlagzeilen. Die Antwort der Regierung macht etwas mehr Hoffnung als in Indien: Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD möchte im kommenden Jahr Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie verbieten.

Peter Birke vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen beschäftigt sich mit dem Einfluss der Pandemie in dieser Branche. Er beschreibt den bisherigen Protest, der sich zum Beispiel auf rumänischen Flughäfen, deutschen Spargelhöfen und rund um das Tönnies-Werk gebildet hat. Mit einem Vorstoß, wie ihn der Arbeitsminister jetzt gewagt hat, hätte Birke vor einem Jahr nicht gerechnet: »Da geht ein Fenster auf in Richtung Verbesserung von Arbeitsverhältnissen.«

Reihe

In Kombination mit dem StadtRadio Göttingen produziert das Literarische Zentrum die Göttinger Krisengespräche, einen etwa einstündigen Podcast. Mit Interviewpartner:innen aus Wissenschaft, Journalismus, politischem Aktivismus und der literarischen Szene sollen in Zeiten der Krise existenzielle gesellschaftliche Themen neu diskutiert werden.

Jetzt sieht Birke die Notwendigkeit zur Radikalisierung, um die jahrzehntelange Tendenz zur Deregulierung von Arbeitsverhältnissen wirksam zu bekämpfen. »Radikalisierung heißt Ausweitung«, meint der Arbeitssoziologe: von der Fleischindustrie auf andere Branchen, hin zum gemeinsamen Protest etwa von migrantischen Arbeiter:innen, Aktivist:innen und Krankenhauspersonal. Im Sommer habe sich zwar der latent rassistische Diskurs, der in den Fleischbetrieben vor allem »gefährliche Infektionsherde« sah, zu einer Thematisierung der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen hin verlagert. Doch die Zeit dränge: Das Fenster, das sich für ein breiteres Bündnis der Betroffenen aufgetan habe, schließe sich bereits, und das Thema verschwinde zurzeit schon wieder aus der Öffentlichkeit.

In Deutschland wie in Indien

Besonders aufschlussreich wird der Podcast, wenn Ahuja und Birke übernationale Parallelen aufzeigen. Die kritische Situation der Arbeitsmigration erscheint dann als globales Phänomen, das weit über einzelne Länder hinausgeht. Beide Wissenschaftler betonen den Druck auf die Arbeitenden, jede Art von Arbeit anzunehmen, egal wie schlecht die Bedingungen. Das hänge in Indien mit der sich verschärfenden Beschäftigungsflaute, in Deutschland auch mit dem Integrationsgesetz von 2016 zusammen. Forderungen nach besseren Bedingungen leiden zwangsläufig darunter.

Genauso wird in dem Gespräch klar, dass die Arbeitsmigrant:innen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Indien unter rassistischen Diskursen leiden, in denen sie als »gefährliche Klassen« abgestempelt werden. Die indische Gesellschaft sei »besessen von der Vorstellung der Reinheit und der Separierung unterschiedlicher sozialer Gruppen«, so Ahuja. In der gegenwärtigen Krise werde die Segmentierung umso offenbarer. Ein Ausdruck davon seien »unfreiwillige Desinfizierungen« gewesen, bei denen Gruppen von Arbeitsmigrierenden mit dem Schlauch mit Desinfektionsmittel bespritzt wurden.

Einhellig schildern beide Gäste die Unterrepräsentation migrantischer Stimmen im öffentlichen Diskurs. Die Unsichtbarkeit von armen Wandermigrant:innen in Indien habe schon Tradition, und auch in den deutschen Mainstream-Medien sind migrantische Stimmen kaum zu vernehmen, auch wenn es in beiden Ländern Gegenbeispiele gibt. »In der Fleischindustrie gibt es immer einzelne Reportagen, in denen Beschäftigte selbst gefragt werden, aber das machte vor 2020 ein Prozent der Berichterstattung aus«, stellt Birke fest. Der Möglichkeiten der sozialen Medien werden in diesem Zusammenhang deutlich, wenn es der eigenhändig veröffentlichte Rap eines indischen Wanderarbeiters in einen Göttinger Podcast und dadurch in diesen Artikel schafft.

Und in einem Jahr?

Insgesamt entwickelt sich in den 53 Minuten kein echter Gesprächscharakter. Die Wissenschaftler müssen in Beiträgen von fast zehn Minuten verständlicherweise erst einmal Grundlagen schaffen. Deshalb holen sie mitunter weit aus, um die gegenwärtigen Beobachtungen zu kontextualisieren. Die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen Deutschland und Indien hätten sich in einem abwechslungsreicheren Gespräch vielleicht pointierter herausstellen lassen – immerhin soll es in der Reihe um die Diskussion gehen und darum, in Zeiten der Krise »vieles nochmal ganz neu zu denken«.

Dem lehrreichen Charakter des Podcasts tut das freilich keinen Abbruch. Die dramatische Lage vieler Arbeitsmigrant:innen während der Pandemie und das Zusammenspiel zwischen globalisierter Wirtschaft, medialer Berichterstattung, politischer Regierungsarbeit und dem Protest gegen die Ausbeutung wird den Zuhörenden sehr nahegebracht. Das wichtige und hochaktuelle Thema ist außerdem weit davon entfernt, an Relevanz zu verlieren, denn die Corona-Krise ist noch lange nicht vorbei. Moderatorin Karin Klenke schlägt daher am Ende vor, die Arbeitsmigration in einem Jahr erneut zu thematisieren. Eine gute Idee.

Der Podcast ist auf der Homepage des Literarischen Zentrums frei verfügbar.

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