Vom 15.-18. März huldigte die Leipziger Buchmesse wieder der Entschleunigungsfunktion des Buches durch geballte Reizüberflutung. Es handelt sich dabei um ein hieb- und stichfestes Konzept, das die Literaturmenschen des Landes wieder in einer luftiglauten Glashalle und 5 Messehallen zusammenbrachte.
Von Verena Wiechens & Eva Tanita Kraaz
Bild: kerttu via pixabay / CCO
Reizüberflutung als Konzept
Im Dreiminutentakt lädt die Straßenbahn Messegäste ab. Es ist das erwartete vielfältige Publikum, das sich zu gleichen Teilen aus Alltagsblazer-, Perücken- und FunktionsjackenträgerInnen zusammensetzt. So richtig sicher ist ja nie, was von einer Buchmesse zu erwarten ist. Abgesehen von dem Versprechen eines vollen Leipzig liest-Programms (Lesungen, Parties, Autogrammstunden und Informationsveranstaltungen) bleibt für LaienbesucherInnen ja vor allem der vage Drang, dabei zu sein, nichts zu verpassen, so viel Free Stuff wie möglich zu ergattern.
Das Buch als Entschleunigungs-Instrument
Dabei sein heißt zuallererst selbstredend: der Preis der Leipziger Buchmesse. In Vorbereitung auf die Verleihung am Nachmittag des Messedonnerstags werden für die Shortlists der jeweiligen Kategorien (Belletristik, Sachbuch, Übersetzung) einstündige Lesepodien abgehalten. Je zwei ModeratorInnen geben im siebenminütigen Gespräch mit den je fünf bzw. sechs Nominierten einen Eindruck von Buch und AutorIn bzw. ÜbersetzerIn. Im Anschluss dürfen Letztere eine dreiminütige Passage lesen. Zugegeben voraussehbar war, dass sich die Gespräche den kurzen Zeiträumen entsprechend in der angestrebten Tiefgründigkeit schwer nachvollziehbar gestalten, weshalb der Reiz hier in der Beobachtung der Nominierten versandet. Vor und nach seiner souveränen Performance fasst sich Andreas Reckwitz, nominiert für sein Sachbuch Gesellschaft der Singularitäten (Suhrkamp 2017), wiederholt stirnrunzelnd an den Kopf, während Anja Kampmann, nominiert für ihren Roman Wie hoch die Wasser steigen (Hanser 2018), schon an Tag eins sichtlich erschöpft für eine ausgiebige Signierstunde nachsitzen muss.
Das Wiedersehen zur festlichen Verleihung bei Sekt und Brezel erfolgt nach der Mittagspause in der Glashalle. In der Eröffnungsrede verteidigt Jury-Vorsitzende Kristina Maidt-Zinke krisenbewusst Literaturpreise als solche und – wo sie gerade dabei ist – auch das Buch als Medium: Verstanden werden soll der Preis als Belohnungssystem für literarische Qualität, durch den AutorInnen zur Arbeit ermutigt werden sollen – unabhängig von ihrem kommerziellen Erfolg. Im gleichen Zug werde damit das Buch in seiner Materialität als Ausgleich zur »Multitasking-Gesellschaft« gewürdigt. Nachdem sie das Widerstandspotenzial der Literatur mit seiner »unzeitgemäßigen Langsamkeit und erzwungenen Beruhigung, das sie in das rasende Getriebe unserer grenzenlos mobilen Welt einschleust«, beschwört, überlässt sie die Aufmerksamkeit des Publikums der hinter ihr positionierten Leinwand: Auf sie werden gleichsam bedeutungsschwangere wie austauschbare Videoclips über die jeweiligen Kategorien projiziert. Dazwischen erfolgen die Laudatios: Für die beste Übersetzung werden Sabine Stöhr und Juri Durkot ausgezeichnet. Der ukrainische Roman Internat von Serhij Zhadan (Suhrkamp 2018) thematisiert den Krieg im Donbass, indem ein Tag aus der Sicht zweier Schutzsuchender, eines 13-jährigen Schülers und dessen Onkels geschildert wird.
Seine Ausführungen über Das Sowjetische Jahrzehnt (C.H. Beck 2017) bringen Karl Schlögel den Preis für das beste Sachbuch ein. Eine Archäologie zu sein reklamiert das Buch für sich und wird als abbildungsreiche, detaillierte Darstellung sowjetischer Lebensumstände und Kultur gewürdigt.
Den Preis in der Kategorie Belletristik erhält Esther Kinsky für ihren sogenannten »Geländeroman« Hain (Suhrkamp 2018). Der Roman nimmt die Perspektive einer gerade verwitweten Frau ein, die Italien bereist. Hervorgehoben wird an ihm, dass er eine besondere Kraft entfaltet, die auf eine erzählerische Stille zurückgeführt wird.
Entschleunigung in Aktion
Eine ganz andere Auszeichnung bekommt Rampensau Nora Gomringer. Für den Zeitraum der Messe darf sie den Instagram-Account von Deutschlandfunk Kultur (DLF) mit Nora-Selfies bespielen. Zur scheinbaren digitalen Affinität passend stellt sie auf dem Blauen Sofa die Anthologie #poesie (Voland & Quist 2018) vor, die sie gemeinsam mit Martin Beyer herausgibt. Die Sinnhaftigkeit von Hashtags im Vorbeigehen untergrabend sammeln sie unter rautegekennzeichneten Schlagwörtern Lyrik von so unterschiedlichen AkteurInnen wie Deichkind, Ilma Rakusa und Heinz Erhardt mit dem Auftrag, die Poesie wieder jugendfähig zu machen. Die Veröffentlichung behauptet von sich selbst, im Anschluss an Erich Kästners Lyrische Hausapotheke zu stehen und will gegen die »Schrecknisse der Welt« (so der Klappentext) wirken. Ob das Gomringer, die es sich bei ihren Auftritten selbst selten nehmen lässt, ihr vermeintliches gesangliches Talent unter Beweis zu stellen, gelingt, sei dahingestellt.
Am 3sat-Stand stellt Clemens J. Setz Bot. Gespräch ohne Autor (Suhrkamp 2018) vor. Clemes Setz versprach Suhrkamp ein Langinterview, scheiterte an dieser Versprechung und lässt schließlich einen Bot antworten. Dieser Bot bedient sich Setz‘ digitaler Tagebuchaufzeichnungen und ersetzt den Autor als Gesprächspartner. Auf der 3sat-Couch diskutiert er technologiebejahend und gänzlich unaufgeregt, ob nicht ein Poesie-Bot der nächste Büchner-Preisträger sein könnte. Schließlich schaukelt er sich zu der kulturanalytischen These auf, dass sich aus der Existenz von Robotern ein neuer Exotismus ergibt, der mit ähnlich unberechtigten Ersetzbarkeitsängsten belegt ist. Den letzten seiner sechs Auftritte auf der Buchmesse beschließt er mit der abgeklärt-sympathischen Klage darüber, nicht Computerspieleentwickler geworden zu sein: »Man schreibt so Sätze auf Papier und hat am Ende ein Buch. Und dann zieht man als Entertainer durch das Land.«
Der DLF lud am Samstag zu seinem Bücherfrühling ein. Acht Bücher, acht AutorInnen und acht Gespräche, Jan Weiler steckt auf Grund der vereisten Strecken im Zug fest. Dorothea Westphal, Jörg Plath und Kolja Mensen treffen nacheinander auf Susanne Fritz, Gert Loschütz, Norbert Gstrein, Oliver Bottini, Felicitas Hoppe, Jens Sparschuh, Christina Krag und Lucy Fricke. Der Sender bemüht sich trotz widriger Bedingungen um ein besonders professionelles Radioerlebnis: Mikrophone werden unkommentiert korrigiert, anmoderiert wird ohne Bezug zum Publikum vor Ort, die Namen der auf der Bühne sitzenden AutorInnen werden alle paar Minuten genannt und die Zeitplanung steht perfekt, bis es zur »Weiler- Lücke« kommt. Währenddessen ziehen Menschenmassen mit bunten Perücken, vollen Plastiktaschen oder leicht geöffneten Mündern vorbei. Die wenigen, die sich in der Glashalle zum DLF gesetzt haben, können aber besonders an drei interessanten Gesprächen teilhaben. Susanne Fritz erzählt treffend von der Unmöglichkeit der lückenlosen Erzählung des Unsagbaren (Wie kommt der Krieg ins Kind, Wallstein Verlag 2018), Lucy Fricke stellt Töchter vor, deren Väter erst im Alter die Zeit fanden mit ihnen zu reden (Töchter, Rowohlt 2018) und Norbert Gstein verteidigt seinen windigen Erzähler, der den sekundären Rassismus des Wohlwollens bloßstellt (Die kommenden Jahre, Hanser 2018).
Abendliche Zugaben
Leipzig liest macht nicht nur während der Messezeiten, sondern auch am Abend in der Stadt zahlreiche Angebote. Ein besonders prominentes ist die Lange Leipziger Lesenacht (kurz: LDREI) in der Moritzbastei, die dieses Jahr sogar auf zwei Tage verteilt wurde und deren OrganisatorInnen mittlerweile die Bezeichnung »Literatur-Festival« als Label einführen. Für 18€ (Kombiticket) kann eine/r hier aus 32 Slots wählen, in denen insgesamt 88 AutorInnen auf den Podien zu sehen sind. Runtergerechnet ergibt sich daraus ein unschlagbarer Preis von rund 20 Cent pro AutorIn. Weitgehend unmoderiert bis halbherzig moderiert lesen zum Beispiel Luise Boege, Verena Stauffer und Anja Kampmann (schon wieder!) in den rustikal-hippen Gewölbekellern aus ihren Neuerscheinungen. Chapeau, wem die Gedanken in der Geräuschkulisse der gleichmäßig wummernden Lüftung und dem trügerisch gemütlichen roten Licht nicht dahingehend abschweifen, dass es doch berechtigt sein mag, das Beschwerdeklischee, die Verlage würden ihre AutorInnen gnadenlos durch den Messetrubel jagen, zu bedienen.
Darauffolgend müssten in einem Messebericht spätestens an dieser Stelle die Schilderungen über rauschende Parties stehen. Sicher verirren sich noch immer viele wirre Literaturmenschen auf die Party der jungen Verlage am Freitagabend. Aber in verrauchten Felsenkellern holt man sich eh einen schrecklichen Kater, der einem die Restmesse verdirbt!
Das wahrlich alternative Abend-Highlight der Buchmesse, InsiderInnen ahnen es, ist LOVE BITES – Die erotische Nacht am Samstagabend. Im urigen Passagekino werden da ganz abwechslungsreiche Elemente zu einer erschlagenden Revue zusammengesetzt. Auf der kleinen Kinobühne lässt der konkursbuch-Verlag seine AutorInnen aus ihren Neuerscheinungen lesen. Dazu gehört Peter Butschkow, der anhand seines Romans Rebecca, Roswitha und die wilden Siebziger (2017) über jugendliche Liebesinitiation mit größter Leichtigkeit einen Assoziationsreigen von Lebensschwänken entfaltet. Neben Lesungen kommen aber auch exotische Musikinstrumente zur Vertonung italienischer Liebeslyrik zum Einsatz. Sicher ist der Ton nicht immer ganz abgestimmt, der Intensität des Erlebnisses tut das allerdings keinen Abbruch – eher im Gegenteil. Ähnlich verhält sich das mit dem waghalsigen Einsatz von Luftballons einer Burlesque-Tänzerin. Wie das bei Avantgarde-Veranstaltungen dieser Art so ist, schrumpft das Publikum nach der Pause auf die wahren, tapferen KennerInnen zusammen.
Was Leipzig kann
Das Konzept der Reizüberflutung, das der Messe mit Leichtigkeit attestiert werden kann, trägt besser als vielleicht befürchtet. Auf den ersten Blick mag es nicht vereinbar mit der dusseligen Entschleunigungs-Funktion des Buchs wirken. Wer aber dem konstanten überbordenden Input ausgesetzt ist, selektiert automatisch, und umso eindrücklicher bleiben die berührenden, repräsentativen und skurrilen Höhepunkte dieser Buchmesse.