Kunst in der Schwebe

Rainald Grebe Nov 2016

In einem Interview gewährt Rainald Grebe ganz neue Einblicke in sein Selbstverständnis als Künstler und spricht über seinen Roman Global Fish, seinen Weg zur Kunst und sein neues Projekt fontane.200. Selbst eingefleischte Grebe-Fans können hier noch neue Seiten des Allrounders entdecken.

Von Johannes Thiele

Foto: © Susie Knoll

Rainald Grebe – ein Künstler mit großer Bandbreite

Rainald Grebe, Jahrgang 1971, ist der breiten Öffentlichkeit vor allem durch seine Lieder bekannt, die mal melancholisch-nachdenklich, mal klamaukig sind. Das bekannteste dieser Lieder dürfte die »Anti-Hymne« auf das Bundesland Brandenburg sein, in der Grebe mit wenigen Strichen ein treffendes Bild von einer abgehängten Gegend und ihren BewohnerInnen zeichnet. Nicht umsonst hat Juli Zeh in ihrem Roman Unterleuten genau dieses Lied zitiert. Wer etwas weiter schaut, wird feststellen, dass Grebe mittlerweile alle Neuen Bundesländer ›abgearbeitet‹ und mit eigenen Liedern versehen hat. Da wird von der armen Doreen aus Mecklenburg gesungen, von Sachsen-Anhalt, in dem es nichts als Rübenfelder und grundsätzlich nur zwei Radiosender zur Auswahl gibt oder dem Thüringer Wald, wo Hunde noch nach altem Rezept zubereitet werden. Das Phänomen Großstadt hat Grebe prototypisch in mehreren Liedern über Berlin ausgelotet – teilweise in soziologischen Kleinstudien zu einzelnen Stadtteilen wie dem Prenzlauer Berg oder Marzahn. Das thematische Repertoire des Künstlers ist allerdings keineswegs an die Reflexion von Räumen gebunden. Nicht selten geht es um Einzelschicksale, die häufig Außenseiter in den Blick nehmen: So z. B. suizidgefährdete Jugendliche, wie den Headbanger Bengt oder den wortkargen Wolfram, die beide aus schwierigen Verhältnissen stammen und nicht über die Mittel verfügen, dies zu reflektieren oder zu verarbeiten. Die Liste von Themen ließe sich noch lange fortsetzen, denn mittlerweile hat Grebe elf Alben veröffentlicht, die mal mehr, mal weniger thematisch ausgerichtet sind.1So ist etwa das Rainald Grebe Konzert (2012) strikt autobiografisch, Berliner Republik (2014) ist hingegen eines der politischsten Alben. Die Beobachtungen sind dabei immer treffend, aber kaum jemals verletzend – sondern verständnisvoll und mitfühlend.

Man würde allerdings zu kurz greifen, wenn man Rainald Grebe kurzerhand als Liedermacher abstempeln würde. Im Feuilleton ist er ebenso auf einer zweiten Bühne sehr präsent: das Theater, das zweifellos Grebes zweite große Leidenschaft ist und sich auch nicht trennscharf von der Liedermacherei loslösen lässt. In den letzten Jahren sind auch an verschiedenen Schauspielhäusern zahlreiche Projekte entstanden: zunächst in Jena, dann schwerpunktmäßig in Leipzig, Hannover und ganz aktuell in Berlin. An der Berliner Schaubühne inszeniert Grebe aus Anlass des nahenden Fontanejahres 2019 ein Stück, das die Vorbereitungen zu diesem Jubiläum kritisch unter die Lupe nimmt. Dabei wird vor allem die Frage gestellt, inwiefern Fontanes Leben und seine Texte heute noch aktualisierbar sind. Grebes Bilanz fällt hier recht nüchtern aus: Vieles ist heute kaum noch verständlich, die großen Frauenromane wie Effi Briest und Frau Jenny Treibel tut er gar als minderwertige Literatur ab – nur selten finde man dort noch eine Stelle, die den Nerv der Jetztzeit trifft. In vielem wird man Grebe sogar zustimmen können: Fontanes Kriegsbeschreibungen oder seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg haben sicherlich sehr an Lesbarkeit eingebüßt. Fontane als Essayist, Romancier und Lyriker wird von Grebe hingegen wohl unterschätzt. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage nach der Vermittelbarkeit Fontanes virulent – und hier hilft Grebes Stück, sich diese Fragen wieder neu vor Augen zu halten: Wie kann man heute die Menschen – insbesondere Jugendliche – noch für Fontane begeistern? Wo sind die Anknüpfungspunkte in den Lebenswelten von damals und heute? Welche Themen haben überzeitliche Gültigkeit? Mit fontane.200 hat Grebe sicherlich nicht seine beste Theaterarbeit vorgelegt – ein Denkanstoß ist das Stück aber allemal.

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Rainald Grebe
Global Fish

S. Fischer Verlag, 2006
432 Seiten, 9,95 €

Der Allrounder Grebe hat neben Lieder- und Theatermacherei noch (mindestens) eine dritte Facette, die hier erwähnt werden muss. Bislang hat man ihr allerdings kaum Beachtung geschenkt2Das gilt auf wissenschaftlicher Ebene übrigens auch für Grebes Lieder und Inszenierungen. Publikationen jenseits des Feuilletons sind rar gesät. Eine der wenigen Ausnahmen bildet ein lesenswerter Aufsatz von Gerrit Lembke, 2010, Poetik der Einebnung. Zur Amalgamierung von Raum und Zeit in den Liedern Rainald Grebes, in: mauerschau 1, S. 35-47. Eine erste literaturdidaktische Bestandsaufnahme von Grebes Liedern liegt mit Johannes Thiele, 2017, Rainald Grebe im Deutschunterricht, in: Literatur im Unterricht, 1, S. 19-36, vor.: Grebe hat 2006 den Roman Global Fish veröffentlicht, in dem ganz grundsätzliche Fragen des Menschseins behandelt werden: Identitätsfindung und Identitätskrise, Sexualität, Erwachsenwerden. Der Text liest sich dabei als Melange aus Abenteuer- und postmodernem Bildungsroman. Seine Form ist dabei oft experimentell: Die lineare Narration wird von Träumen, Liedern, Zwischenspielen und Zitaten unterbrochen; der Realitätsstatus der Erzählung schwankt zwischen Fantasiereise und realem Erlebnis. Der Text weist zudem starke autobiografische Züge auf – das kommt bei Grebe nicht selten vor. All das macht den Roman zu einem spannenden und lesenswerten Text – der zu Unrecht bisher kaum Beachtung gefunden hat.


Um zum einen diesen Roman aus der Versenkung zu holen und auf sein Potenzial hin zu befragen und zum anderen, um die Bandbreite von Grebes Arbeit nachzuvollziehen, fand im Wintersemester 2016/17 ein Masterseminar für Lehramtsstudierende an der Universität Potsdam statt. Grebes Texte wurden hier nicht nur inhaltlich erschlossen, sondern auch auf ihre Eignung für den Einsatz im Unterricht hin befragt. In der vorletzten Sitzung konnte ein Gespräch zwischen den Studierenden und Herrn Grebe arrangiert werden, der zur Vorbereitung des Fontane-Stückes das Fontane-Archiv in Potsdam besucht hatte. Zum Zeitpunkt des Gesprächs (Januar 2017) war das Stück noch nicht offiziell angekündigt und noch in der frühen Planungsphase. Entsprechend tangiert das folgende Interview nur am Rande Grebes Auseinandersetzung mit Fontane und fragt schwerpunktmäßig nach seinem Selbstverständnis als Autor.
Da dieses Gespräch viele Punkte berührt, die in den zahlreichen bisher vorhandenen Interviews mit Rainald Grebe noch nicht thematisiert wurden – insbesondere zum Roman Global Fish –, schien es mir wünschenswert, es einem größeren Publikum zugänglich zu machen.

Im Gespräch mit Rainald Grebe

Herr Grebe, was ist Ihr Erfolgsrezept und wie kommen Sie eigentlich zu Ihren Themen? Ist auch Ihr heutiger Besuch potenzieller Stoff für Sie?

Rainald Grebe
Warum nicht … Das ist eine grobkörnige Frage, weil man da alles sagen kann. Es ist alles analog zu sehen. Nur dazu: Ich war vor fünf Jahren in Mexiko im Goethe-Institut eingeladen. Das war so ein panamerikanischer Germanistenkongress und da sollte ich spielen, im Audimax. Und da war in einem kleinen Seminarraum, unabhängig von der Hauptveranstaltung, ein Seminar: Deutsch lernen mit Rainald Grebe. Ich konnte es nicht fassen. Da saßen in einem kleinen Raum Leute aus Mexiko und Ecuador. Der Seminarleiter wusste natürlich gar nicht, dass ich bei dem Kongress bin. Ich habe mich da einfach reingesetzt. Das ist auch wieder so eine Geschichte, aus der man wieder etwas machen kann. Also was inspiriert mich? Zum Beispiel das Fontanejahr. Deshalb bin ich gerade in Potsdam, weil ich da auch was machen soll. Ich kann nur sagen: Alles orientiert sich auch an der nächsten Premiere. Ich habe dann einen Termin und da muss alles stehen. Dann setze ich mich eben hin und arbeite. Aber von einem »Rezept« kann man schon mal gar nicht sprechen. Bei mir läuft es eher nach dem Motto »Arbeit gibt Arbeit«.

Wir müssen nochmal zu dem Fontane-Projekt nachfragen. Worauf dürfen wir uns da freuen?

Grebe
Ja, es ist jetzt spruchreif. 2019 wird das Fontane-Jahr zum 200. Geburtstag begangen. Und die Veranstalter haben mich angesprochen, ob ich da irgendetwas machen könnte. Tatsächlich werde ich im Vorfeld, also 2018, an der Schaubühne ein Stück über das Fontanejahr inszenieren. Es geht also um das Planen des Fontanejahres. Das Stück wird auch Fontane heißen. Fontane ist gerade mein Thema.

Also lesen Sie zurzeit viel Fontane?

Grebe
Ich fange jetzt so langsam an und ich ziehe mir jetzt alles rein, den kompletten Fontane von vorne bis hinten, ja. Das Interessante für dieses Vorhaben ist, dass man die Aktualität für heute sucht. Das ist daran auch die Krux, glaube ich, wenn man es auch für junge Leute öffnen möchte.

Thomas Hermanns hat Sie bei West Art unlängst als »Alleskönner« bezeichnet. Gibt es auch Dinge, an denen Sie scheitern oder mit denen sie wiederholt Probleme haben?

Grebe
Aber natürlich! Deshalb ist es auch schwierig, pauschal von Erfolgsrezepten zu sprechen. Man misst sich immer am nächsten Projekt. Da schaut man, dass es irgendwie eine Fassung kriegt und gut wird. Es ist alles subjektiv zu sehen. Auch dieses komische Machwerk Global Fish – wer fand das schon gut? Das liegt jetzt auf Wühltischen, obwohl ich mich lange damit beschäftigt habe. Es ist eben subjektiv.

Wie gehen Sie in Ihrem Schaffensprozess mit Rückschlägen um?

Grebe
Trinken, wegschmeißen. Ja klar, ist es schlimm, Sachen wegzuschmeißen, aber das kommt vor. Gerade für den Roman musste damals so vieles wieder gestrichen werden.

Gibt es auch Fälle, in denen Sie Projekte dann trotzdem weiterführen und die eigene Selbstkritik hintanstellen?

Grebe
Mir fällt dazu ein Theatererlebnis ein. Damals war ich noch Student und da waren die Amplituden noch andere als heute. Das war ein eigenes Stück, selbst geschrieben, sogar mit einer Theatertruppe. Und es lief einfach nicht, wir waren unzufrieden und haben dann die Premiere abgesagt. Weil ich mich so geschämt habe. Wir hatten schon die Lampen abgehängt und zusammengepackt. Aber dann kam der Bühnenbildner zu uns, zwei Tage vor der Premiere, und meinte, es sei doch nicht alles schlecht. So haben wir tatsächlich wieder Mut gefasst, total viel geändert und das Stück quasi ganz neu aufgelegt. Es wurde eine rauschende Premiere und seit dieser Sache habe ich mehr Vertrauen in mich. Einen Abend kriegt man schon hin. Das ist manchmal ein bisschen wurstig, aber so ein Grundvertrauen, dass was geht, ist seitdem geblieben.

Dann gleich die nächste Frage, was halten Sie eigentlich von Ihrem Publikum?

Grebe
Ich habe das Glück, dass so viele Leute zu mir kommen. Aber ich sehe die gar nicht, weil die Scheinwerfer da sind. Ich weiß, dass es viele unterschiedliche Leute sind und das hat sich auch geändert in den letzten Jahren. Das reicht schon von Zehn- bis Siebzigjährigen. Das finde ich gut. Ganz am Anfang hatte ich eher Punker und Achtzehnjährige. Mittlerweile ist es eher ein Querschnitt. Aber die nehme ich eher als reagierende Masse wahr. Wer das genau ist, weiß ich nicht.

Stört es Sie, wenn an unpassenden Stellen gelacht wird?

Grebe
Das Lachen, ja, damit habe ich es von Anbeginn. Ich mag das einfach gerne. Das ist wie eine Droge oder so was, dass es übers Lachen geht. Das Tragische oder das Traurige hat immer damit zu tun. Deshalb kann ich jetzt nicht sagen: »An dieser Stelle darf nicht mehr gelacht werden.« Am besten ist es, wenn es diese Schwebe hat, dass man das nicht so trennen kann.

Wie reagieren Ihre Freunde und Familie auf Ihre Texte, insbesondere auf den Roman Global Fish?

Grebe
Ich glaube, das ist sehr unterschiedlich. Viele fanden ihn schwer lesbar, was durchaus auch berechtigt sein mag. Das ist nicht so ein fluffiges Buch. Warum müssen da zum Beispiel immer diese Seiten stehen, wo tausende Zeitschriften aufgeführt werden. Den Kampf hatte ich auch mit der Lektorin vom Fischer-Verlag. Die wollte extrem auf den Plot gehen und ich genau auf das Gegenteil. Deshalb sprach ich von Machwerk. Kein Roman, sondern ein Machwerk. Das hat insgesamt zehn Jahre gedauert. Und es ist nun mal sehr vielschichtig geworden. Ich hatte mir eigentlich überlegt, dass es ein Buch sein müsse, bei dem man irgendwo einsteigen kann und bei dem man immer ein Gedicht oder so findet. Jede Seite sollte auch für sich stehen können. Aber meine Lektorin hat dann sehr starken Wert auf die Handlung gelegt und viel gestrichen. Ein harter Kampf. Die Reaktionen sind verschieden: Manche fanden es ganz toll und manche fanden es ganz schlimm und haben es weggelegt, weil sie zunächst dachten, das sei so ein fluffiger Roman, den man gut konsumieren kann. Aber so ist er nicht gedacht.

Bleiben wir bei dem Roman. Ein Hauptproblem des Protagonisten Thomas Blume ist ja, dass er erkennt, dass es auf der Welt alles schon einmal gegeben hat und dass er Angst hat, nichts wirklich Neues hervorbringen zu können. Ist das für Sie persönlich auch ein Thema?

Grebe
Ja, das ist ein Grundproblem, auf jeden Fall. Echtes Neuland zu betreten ist kaum möglich. Das Dilemma ist, ob man es nun ein Phänomen der Postmoderne nennt oder nicht, dass die Pfade ausgetreten sind. Das betrifft uns alle in vielfältiger Form. Ich versuche dann bei jedem Projekt Amalgame oder Mischungsverhältnisse neu zu finden, die es vorher vielleicht noch nicht gab. Das ist immer das Ansinnen, dass man die Dinge zumindest neu kombiniert. Aber das ist ein echtes Problem, das ist natürlich klar. Man darf sich nicht verrückt machen lassen, glaube ich. Gerade heute, wo die Rotationen immer kürzer werden und die Moden und die Ismen. In welchem Ismus leben wir eigentlich jetzt gerade? Ich weiß das gar nicht.

Ein großes Thema des Romans ist die Seefahrt. Was macht für Sie die Faszination daran aus?

Grebe
Ich glaube, das Gute war, dass ein Schiff ein abgeschlossenes Gebilde ist, von wo man auch nicht wegkommt. Außerdem bietet es metaphorisch wahnsinnig viel. Auf der einen Seite die Begrenzung und dann das Unbegrenzte. Das war, was mich daran interessierte. Wie kam es, dass ich anfing, den Roman zu schreiben? Ich hatte eine OP und lag als Fünfundzwanzigjähriger wochenlang im Bett und hatte plötzlich Zeit und da habe ich aus Langeweile angefangen, einen historischen Roman zu persiflieren. Etwas wie Foresters Hornblower – also irgendwas zu schreiben über Piraten und Holzbeine. Und es hub an und ich hatte eine altertümliche Sprache, das hatte mit dem fertigen Roman noch gar nichts zu tun. Es wurde immer länger, etwa dreißig Seiten, ich hatte das so rausgehauen, aber dann habe ich recht bald die Lust daran verloren. Ich fand die Metaphorik zwar interessant – Piraten, Seefahrt und so. Aber erst als ich im nächsten Jahr wieder angefangen hatte, kam ich darauf, dass es etwas mit mir zu tun haben könnte oder mit der Zeit. Und dann wälzte sich das um und es kamen Elemente von Liverollenspielen, den 90er-Jahren und meiner eigenen Biographie hinzu. Wie gesagt, das kam alles viel später – im zweiten oder dritten Anlauf. Aber die Thematik Seefahrt passte plötzlich, hielt sich, war frisch. Das Land, das ist die analoge Zeit vor 1989 – »An Land, an Land ist alles bekannt«, heißt es in einem Lied in dem Roman. Und die See ist dann eher das Digitale, das Neue, das Abenteuer. Wir als Generation X haben das ja erlebt. Plötzlich war alles neu. Das war die Zeit, in der alles explodierte. Neue Möglichkeiten, das waren die 90er-Jahre.

In Global Fish bleibt der Realitätsstatus in der Schwebe. Wir wissen nicht, ob der Protagonist Thomas Blume träumt, verrückt ist oder ob das alles wirklich geschieht. War das von Anfang an Ihr Konzept?

Grebe
Das kam ziemlich bald. Sagen wir mal so: ein magischer Realismus, dass man nie genau weiß, woran man ist. Es kann so oder so sein. Es gibt immer verschiedene Ebenen: Ist es ein Traum auf der Schreibtischplatte oder ein einziger Drogenrausch, der da passiert ist. In quasi jeder Szene könnte das ja ein Einfluss sein, sei es durch Schwankung oder Alkohol. Das fand ich gut, dass das eigentlich immer sehr konkret ist. Genauso mit dem amputierten Bein. Da habe ich alte Sauerbruch-Bücher gewälzt, damit das auch stimmt. Es muss ja auch immer stimmen. Und ja, man weiß nie, woran man ist. Blume könnte ja auch in der Klapse gelandet sein. Es gibt immer verschiedene Optionen, Möglichkeiten es zu sehen, aber das, was passiert, ist alles sehr konkret und faktisch.

Eigentlich ist Thomas Blume doch eine sehr schöne Identifikationsfigur, den ganz allgemeine Probleme umtreiben: Identitätsfindung, Sinnsuche, Erwachsenwerden.

Grebe
Das kann sein. Das weiß ich eben nicht. Kann man sich damit identifizieren, positiv oder negativ? Ist es überhaupt eine Figur? Oder ein Avatar oder was anderes? Für mich hat das natürlich ein Identifikationspotenzial, klar, ich habe es ja auch geschrieben. Gewisse Geschichten hängen mit mir zusammen. Die Frage ist auch, was in diesen algorithmischen Zeiten ein Entwicklungsroman sein kann. Das ist eben die Frage, womit man da gespeist oder was in einen reinprojiziert wird. Kann man überhaupt noch von Subjekt sprechen? Insofern ist das modern oder postmodern, also heutig, würde ich sagen. Obwohl ich ja keinen Kontakt mehr habe zu den jungen Leuten. Damals in den 90er-Jahren war es für mich modern. Oder heute könnte man sagen »alles im Fluss«, wieder so eine Metapher. Das Flüssigmachen der Krume.

In Global Fish kommen an einigen Stellen Ausschnitte vor, die nicht direkt mit dem Haupthandlungsstrang verbunden sind, wie zum Beispiel Das BIZ3BIZ = Berufsinformationszentrum. Wie kann man sich Ihren Schreibprozess vorstellen: Sind die Geschichten fragmentarisch entstanden, bevor, nachdem oder während Sie an dieser Stelle des Romans schrieben, an der die eingesetzt werden?

Grebe
Ja, ein Machwerk insofern, weil es ja auch über Jahre entstanden ist. Ich habe eigentlich immer in den Theaterferien geschrieben, wenn ich Zeit hatte. Und dann dort wieder anknüpfen zu können, was mich vor einem Jahr interessiert hatte – dass das ging –, das war erstaunlich. Daher auch das Disparate, Konvolutartige. Ich habe damals auch James Joyce gelesen. Der hat in Ulysses auch plötzlich ein Kapitel, das nur aus Anzeigenblättern besteht. Und ich fand diese Formexperimente toll. Auch das Spielen mit der Typo. Es ist eben disparat und nicht ein schöner Strang, der eindeutig ist.

Können Sie sich vorstellen Ihr Buch verfilmen zu lassen und wenn ja, mit wem würden Sie ihn besetzen?

Grebe
Hm wen gibt‘s da … Daniel Brühl, wie heißen die berühmten Schauspieler? Keine Ahnung. Ich dachte auch mal an eine Verfilmung. Aber auch mit Knetfiguren und mit Comics. Es müsste auch von den Formen her sehr unterschiedlich sein. Plötzlich als Zeichentrick, ja, das müsste es eigentlich haben. Man kann so einiges damit machen. Das ist einfach ein Filmplot.

Würden Sie sagen, dass sich Ihr Roman für die Schule eignen könnte? Was hätten Sie als Sechzehnjähriger gesagt, wenn Sie Global Fish hätten lesen sollen?

Grebe
Keine Ahnung, das ist mir wirklich sehr fremd, dass man einen Sechzehnjährigen damit belastet. Andererseits, was habe ich damals von Hermann Hesse gelesen? Unterm Rad. Also warum denn nicht, mein Gott, kann man ja mal versuchen. Ich glaube, dass sowas total überfordert. Aber warum denn nicht.

Würden Sie in Ihrem privaten Urlaub eher das Piratenschiff oder das Traumschiff wählen?

Grebe
Ich habe tatsächlich diese Reise auf einem Frachtschiff als einziger Passagier nachgefahren. Da war das Buch fertig und dann dachte ich, der nie auf See war, dass ich das jetzt machen müsste. Und das war auch nicht ohne. Es war eine seltsame Fahrt, aber ich fand es gut, ja.

Inwiefern sehen Sie sich als Autor in einer Schreibtradition? Wie reagieren Sie auf andere Texte?

Grebe
Das passiert beim Schreiben auf jeden Fall. Es gibt ein Buch von Milan Kundera, Die Kunst des Romans, das habe ich währenddessen gelesen. Was ich daran spannend fand, war, dass die Geschichte des Romans für Kundera mit einzelnen Werken korrespondiert. Von Cervantes Don Quichotte über Kafkas Schloss usw. Er hat also viele Romane, die für ihn wichtig waren und zwar, weil sie für ihre Zeit etwas Neues gesagt haben. Also bei Kafka etwa das Maschinenzeitalter. Ich habe mich dann auch gefragt, was das Neue sein könnte. Ich dachte, das ist der Computermensch, das ist der algorithmische Mensch, homo digitales als Figur. Und diesen großen Anspruch hatte ich, klar, wenn man zum ersten Mal schreibt. Die Frage war, wie man so einen alten Begriff wie den der »conditio humana« heute in eine Form bringen könnte.
Interessant beim Schreiben war auch, dass ich folgendes bemerkt habe: Ich habe vorher immer auf einer alten Schreibmaschine oder handschriftlich geschrieben. Im dritten Jahr habe ich dann auf meinem ersten Computer – ich war sehr spät dran – weitergemacht. Das hat alles komplett verändert. Copy and Paste. Das hat den Roman ins Rutschen gebracht. Das Medium hat den Roman geschrieben, kann man fast schon so sagen. Es gibt eine Anekdote zu Friedrich Nietzsche. Als er fast blind war, hat er eine Kugelkopfschreibmaschine bekommen, ein riesen Trumm von Maschine. Und darauf hat er förmlich rumgehämmert, sodass Freunde gesagt haben: »Du schreibst so anders, so hart auf einmal.« Das lag an der Maschine. Die Maschine gibt fast schon den Inhalt vor. Diesen Einfluss fand ich sehr interessant.

Als Thomas Blume sich von seinen Eltern verabschiedet, hat uns das an Kafkas Verwandlung erinnert.

Grebe
Nein, tatsächlich ist es Zimtläden von Bruno Schulz. Das war die Assoziation, die ich da hatte, um das mal gleichzusetzen. Es ist dann schon wieder witzig, was die Leute darin so sehen.

Anderes Thema: Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, Lieder zu schreiben?

Grebe
Ich habe mit sechzehn oder siebzehn damit angefangen, glaube ich. Ich war in einer depressiven Phase und habe für mich, also nicht für die Öffentlichkeit, gespielt. Da habe ich mich ausgewälzt und fand es ganz toll, meine Probleme in Noten und dann auch in Gedichten auszudrücken. Das war sehr privat und das ist auch besser so. Aber da habe ich schon gemerkt, dass ich einen Bezug zur Stimme und zum Klavier habe und das auch gerne höre. Das war wohl der Kern. Ich mache das auch für mich, ich mag es, mich selber zu begleiten. Und dann habe ich gemerkt, dass ich die ganz ernsten Sachen mit einem kleinen Kniff plötzlich in Komik verkehren kann. So konnte ich über den eigenen Teenagerschmerz wegkommen. Durch diesen kleinen Kniff, durch den die Leute plötzlich lachen können. Mit achtzehn hatte ich meine erste Gruppe in der Schule. Aber da habe ich mich nicht getraut zu sagen, dass es mir schlecht geht. Durch das Verformen und das Übertragen in andere Kontexte habe ich schließlich eine Form für mich gefunden, um vor Publikum aufzutreten. Eigentlich war es sehr trübsinnig, was ich damals gemacht habe.

In vielen Ihrer Lieder geht es um überforderte Figuren, die den Effekten der Moderne erliegen. Bei Ihnen endet das immer im Burnout, in Eskapismus oder im »Karoshi«4Mit »Karoshi« wird das Phänomen des Todes durch Überarbeitung – etwa anhand von stressbedingten Herzinfarkten oder Schlaganfällen – bezeichnet. Karoshi gilt in Japan mittlerweile als versicherungsfähige Todesart. Vgl. das Lied Karoshi aus dem Album Das Hongkongkonzert (2009).. Kann es für Ihre Figuren kein Gelingen geben?

Grebe
Schwierig zu sagen. Ist das wirklich so? Da habe ich gar nicht drüber nachgedacht. Es ist eben viel schwerer, etwas übers Gelingen zu schreiben. Mir ist es bisher vielleicht einmal gelungen, etwas über eine geglückte Liebe zu schreiben. Für das Schreiben ist es interessanter, wenn was kaputtgegangen ist. Das Trostlose, wenn etwas zu Ende geht. Eine Trennung zu beschreiben, ist leichter. Das andere ist »Wupp die wupp«, ich bin verliebt, was soll man denn da noch sagen. Damit ist es gesagt. Der Abbruch bietet mehr: »Die Fete ist zu Ende« ist spannender als »Yeah Party«.

Wir haben uns unter anderem mit dem Lied Aufs Land beschäftigt. Hatten Sie beim Schreiben des Liedes bereits die Uckermark, wo Sie ein Haus haben, im Hinterkopf?

Grebe
Das Lied ist eindeutig sogar vor der Suche nach dem Haus entstanden. Ich hatte damals ein Programm in Leipzig, die Klimarevue. Eigentlich stammt es also aus einem Theaterkontext. Und damals ging es los, dass wir uns, wenn wir in der Welt rumgefahren sind, über Landhäuser unterhalten haben. Das beschreibt eigentlich die Suche, bevor ich konkretere Erfahrungen damit hatte. Es geht um die Suche danach, was einen eigentlich glücklich machen kann, was man will, die ganzen Projektionen von Stadtbewohnern.

Auf Ihrem neuen Album Elfenbeinkonzert ist insbesondere das Lied In between sehr spannend. Können Sie genauer erklären, was es mit diesem Titel auf sich hat?

Grebe
Das ist ein Lied, das man im Kontext sehen muss, das steht nicht für sich. Das ist eher aus dem Kontext der Veranstaltung zu sehen. Ich war letztes Jahr beim Goethe-Institut an der Elfenbeinküste und habe dort einen Workshop gegeben. Volksmusik. Die Bekannte von mir, die dort Direktorin war, ist sechs Wochen später bei einem islamistischen Attentat ermordet worden. Und es geht in dem Lied nun um die Frage, wie man auf das Thema Terrorismus reagieren kann. Was tun wir dann? Ich sehe dabei gewisse Tendenzen, dass auch Künstler oder sogar Kollegen so heftig werden und einseitige Positionen beziehen. Ja oder Nein. Ich versuche eher das Differenzierte noch differenzierter zu sehen. Eben in between zu sein. Gerade heute! Dass man zwischen den Dingen hängt und sich eben nicht entscheiden kann für Freund und Feind. Das Lied hängt aber ganz konkret mit dieser Situation zusammen, dass ich plötzlich eine Bekannte habe, die ermordet worden ist und wie ich mich dazu verhalte. Und es hängt auch sehr mit der Zeit gerade zusammen.

Was denken Sie eigentlich im Allgemeinen über Germanisten oder Deutschlehrer?

Grebe
Das ist schon ein komisches Volk. Ich glaube, das ist wohl derselbe Fluss. Aber wir sind an zwei verschiedenen Ufern. Die Dinge auf einer zweiten Ebene nochmal zu interpretieren – ich denke eher selten darüber nach. Es kann auch passieren, dass ein Kunstwerk durch die Analyse tot erklärt wird. Ich komme ja aus einem Lehrerhaushalt. Da wurde das auch so gehandhabt. Wenn die über Kunst reden, dann kriege ich immer so ‘nen Fön. Das ist vor allem sehr naiv. Da werden dann immer schnell Gleichheitszeichen gesetzt. Das ist gleich das. Dieses Verpacken in Schubladen. Als Kunstproduzent macht man das eher nicht. Da geht es eher um was Anderes. Ich rede dann eher über Analogien oder über Bezüge. Ich möchte mit meiner Arbeit lieber unterinterpretiert werden.

Gibt es ein Lied, das Sie Schülern besonders ans Herz legen würden?

Grebe
Oh Gott, das kann ich nicht so sagen, glaube ich.

Das Lied Krümel scheint ein besonderes Potenzial für Jugendliche zu haben. Haben Sie dieses Lied eigentlich erst mit einem gewissen Abstand geschrieben oder schon früher?

Grebe
Das betrifft, glaube ich, fast alles. Dieses ganze Schreiben über Heimat oder Schulzeit kommt erst mit einem gewissen Abstand. Da war ich bestimmt schon Mitte bis Ende zwanzig als das überhaupt ging. Da musst du richtig abgelagert sein, glaube ich. Krümel ist ja ganz spät entstanden, vor fünf Jahren etwa. Ich hatte zwar behauptet, dass ich das damals geschrieben hätte. Das stimmt aber nicht. Das ist ein Alterswerk. Ich habe vor fünf Jahren das Rainald Grebe Konzert gemacht. Da ging es um meine Biographie und eben auch um meine Kindheit. Da habe ich tatsächlich so ein paar alte Sachen vorgezogen, die tatsächlich damals entstanden sind. Das Lied gehörte aber nicht dazu, das habe ich einfach behauptet. Das ist neu.

Was denken Sie, wie Schüler mit Ihren Texten arbeiten könnten?

Grebe
Ich finde es spannend, die Schüler selbst zum Herumspinnen zu bringen. Was kommt bei denen wohl raus, wenn sie selber mal so eine analoge Szene schreiben über ihre Eltern. Was passiert denn dann? Dass man diese Fantasieexplosion als Anlass nimmt, damit die Leute mal etwas schreiben. So wie in einer AG Kreatives Schreiben oder so.

Angenommen, es würde eine kleine Schuledition mit Ihren Texten für den Unterricht entstehen, müsste da eine DVD mit Aufführungsausschnitten dabei sein, um die Inszenierung der Texte zu berücksichtigen?

Grebe
Ja, das würde ich denken. Gewisse Texte sind eben sehr gestisch angelegt. Ich weiß auch gar nicht, was es für fremde Menschen bedeutet, die das nur lesen. Beim Schreiben ist ja immer schon ein Gestus dahinter. Das müsste man im Theaterkontext sehen, denn es sind ja alles sehr theatrale Texte.

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