Suspense requires uncertainty

Empfinden wir wirklich Spannung, wenn wir ein Buch ein zweites Mal lesen? Funktioniert Spannung überhaupt, so ganz ohne den Faktor Ungewissheit? Der US-amerikanische Philosoph Robert J. Yanal formulierte drei Annahmen zum Paradox der Spannung, die vielerorts auf den Prüfstand gestellt wurden. Carina Lefeber schaut sich das in ihrem zweitem Essay aus der Reihe SPOLIER genauer an.

Von Carina Lefeber

Bild: Modifizierte Abbildung einer Illustration von Walther M. Baumhofer; online gestellt unter dem Titel … I can’t look! von James Vaughan via Flickr

Der Philosophieprofessor Robert J. Yanal ist Spezialist für Kunstphilosophie und einer der Forscher, die sich mit dem Paradox der Spannung auseinandergesetzt haben. In seinem Aufsatz The paradox of suspense, das 1996 im British Journal of Aesthetics erschien, gliedert er das Phänomen in drei Annahmen, von denen mindestens eine revidiert werden müsse:

(i) Repeaters experience suspense regarding a certain narrative’s outcome.
(ii) Repeaters are certain of what that outcome is.
(iii) Suspense requires uncertainty.1Yanal, Robert J.: »The paradox of suspense«, in: Peter Lamarque (Hg.): British Journal of Aesthetics. Bd. 36, Nr. 2. Oxford, 1996, S. 146–158, hier: S. 148.

Die Reaktionen auf den Artikel fielen sehr unterschiedlich aus: einige Forscher versuchten, eine der drei Annahmen zu widerlegen, andere umgingen das Problem, indem sie die Sinnigkeit dieser Trias vollends leugneten. William F. Brewer verweist in seiner Arbeit zum problem of rereading2Vgl. Brewer, William F.: »The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading«, in: Peter Vorderer, Hans J. Wulff, Mike Friedrichsen (Hg.): Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empirical Explorations. New Jersey, 1996, S. 107–127, hier: S. 120f. auf verschiedene Ansätze zum Paradox der Spannung, zum Beispiel auf die Vertreter der shift of motivation theories. Diese gehen davon aus, dass die Zweitlektüre nicht in der Erwartung von Spannung, sondern aufgrund anderer Faktoren wie literarischem Interesse oder faszinierenden Detailreichtum der Erzählung erfolgt. Dieser Behauptung nach dürfte populäre Fiktion aufgrund ihrer Schlichtheit nicht wiederholt gelesen werden. In eine ähnliche Richtung geht C. S. Lewis’ Ansatz, nach dem es zwei Arten von Lesern gibt, von denen die excitement-Leser im Gegensatz zu den atmosphere-Lesern Texte überhaupt kein zweites Mal lesen würden. Ansätze wie diese umgehen das Problem, das sich aus dem Spannungsempfinden bei der Relektüre ergibt, wenn Ungewissheit als Bedingung für Spannung verstanden wird; dennoch existieren Berichte über spannungsreiche Mehrfachrezeptionen – und die Frage, wie das sein kann, bleibt bestehen.

Angezweifelt: (ii) Repeaters are certain of what that outcome is

Die meisten Theorien nehmen (i) und (iii) als gegeben und zweifeln die Annahme an, dass der Leser über das Wissen bezüglich der Ereignisse der Handlung verfügt. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist mit Sicherheit, dass häufig zwischen Erst- und Zweitlektüre ein größerer Zwischenraum liegt und der Leser sich nicht mehr an jedes Detail erinnern kann; so weiß er beispielsweise, dass Harry Potter überlebt, jedoch nicht mehr, wie ihm dies gelingt. Diese Theorie des memory-how ist eng verknüpft mit derjenigen der memory-capacity-limitations, nach welcher der Leser bei der Erstlektüre nicht in der Lage sei, sämtliche Informationen aufzunehmen, sodass die Relektüre immer neue Aspekte böte. Dennoch scheint es zu kurz gedacht, das Paradox der Spannung lediglich mit der Vergesslichkeit der Leser zu erklären, auch wenn er Details auf dem Weg zum Handlungsausgang vergisst. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Leser sich nicht mehr daran erinnert, dass die siebenbändige Harry Potter-Reihe mit dem Sieg des Zauberjungen über Voldemort endet – und trotzdem fiebert er dem Ausgang immer wieder gespannt entgegen.

Eine Reihe von Theorien legt (ii) anders aus; so wisse der Leser zwar bei der Relektüre, was passiert, er könne es aber auf gewisse Weise ignorieren. Brewer nennt diese Überlegung willing suspension of memory (voluntary amnesia). Kendall Walton behauptet in seiner Theorie des make-believe beispielsweise, dass sich der Rezipient den Zustand der Ungewissheit einrede und sich vorstelle, er würde über den weiteren Verlauf kein Wissen haben.3Vgl. Walton, Kendall: »Fearing Fictions«, in: Noël Carroll, Jinhee Choi: Philosophy of Film and Motion Pictures. An Anthology., Oxford, 2006, S. 234-246. Yanal bezweifelt allerdings, dass es Rezipienten möglich sei, durch die reine Vorstellungskraft wieder in den Zustand von Ungewissheit zu gelangen. Die Tatsache, dass unsere Vorstellungskraft so stark ist, dass wir körperliche Angstreaktionen zeigen, wenn wir uns beispielsweise uns selbst in einer Höhle vorstellen, genüge nicht als Begründung dafür, dass wir Ungewissheit durch Imagination zurückerlangen4Vgl. Yanal: »The paradox of suspense«, S. 150. könnten. Darüber hinaus müsste nach Walton die empfundene Spannung bei jeder Lektüre gleich groß sein – dies deckt sich jedoch nicht mit den empirischen Ergebnissen Brewers zum Spannungsempfinden bei Zweitrezeption, da sie bei wiederholter Rezeption nachließe.5Vgl. Brewer: »The Nature of Narrative Suspense and the Problem of Rereading«, S. 124.

Reihe

Warum es entgegen weitläufiger Meinung den Lesegenuss nicht mindert, den Handlungsausgang einer spannenden Geschichte im Vorfeld zu kennen, verrät Carina Lefeber in ihrer Essayreihe SPOILER. Sie deckt Irrwege und Sackgassen der Spannungsforschung auf und zeichnet die Erweiterung der Forschung um kognitionswissenschaftliche und evolutionspsychologische Überlegungen nach, um aus dem sogenannten Paradox der Spannung neue Erkenntnisse für die Spannungsforschung zu gewinnen.

Auch Richard J. Gerrig setzt in seiner Erklärung des Paradoxes bei (ii) an; seine Begründung für das sogenannte moment-by-moment forgetting führt er auf die evolutionsbiologische Tatsache zurück, dass es in der Natur keine exakt wiederholten Ereignisse gibt. Der Leser habe keine Fähigkeit entwickeln können, durch die er mit der Relektüre eines identischen Textes umgehen könnte, so dass der Leser während der Lektüre ausblende, dass er den Ausgang der Geschichte kennt.6Vgl. Smuts, Aaron: »The Paradox of Suspense«, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Stanford, 2009: http://plato.stanford.edu/archives/fall2009/entries/paradox-suspense/ (zuletzt eingesehen am: 17.08.2014. Auch diese Theorie erklärt nicht, warum die Spannungsintensität bei der Relektüre abnimmt. Yanal macht das am Beispiel eines hochfahrenden Computers fest: dieser Vorgang sei zwar nicht jedes Mal vollkommen identisch, dem Computernutzer komme es aber dennoch so vor; dieser erwarte nicht jedes Mal ein einzigartiges Erlebnis7Vgl. Yanal: »The paradox of suspense«, S. 151f.. Viele Ereignisse im Alltag scheinen immer wieder gleich abzulaufen, sodass der Leser auch an einander identische Erlebnisse wie eine Relektüre gewöhnt sei.

Angezweifelt: (iii) Suspense requires uncertainty

Andere Theorien, wie die der im ersten Teil dieser Essayreihe erwähnten character identification von Dolf Zillmann, legen den Schwerpunkt der Spannungserzeugung auf die Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten, sodass Annahme (iii), dass Ungewissheit die Voraussetzung für die Erzeugung von Spannung ist, revidiert werden müsste. Dieser Ansatz steht ebenfalls in Konflikt mit den Ergebnissen Brewers, da die Identifikation mit den Charakteren bei jeder Lektüre das gleiche Maß an affektiven Prozessen beim Leser auslösen müsste.

Eine ähnliche Theorie hat auch Noël Carroll entwickelt; nach ihr kennt der Leser zwar die kommenden Ereignisse, er könne sich aber dennoch andere Handlungsverläufe vorstellen8Vgl. Carroll, Noël: »The Paradox of Suspense«, in: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empiracal Explorations, S. 71–91, hier: S. 84ff.. Carrolls Lösung ist also vorwiegend eine begriffliche. Spannung setze keine Ungewissheit voraus, sondern den Gedanken an einen ungewissen Handlungsausgang, indem verschiedene Szenarien imaginiert würden. Die Lösung grenzt sich insofern von der make-believe-Theorie von Walton ab, als dass der Rezipient sich hier nicht bewusst in einen Zustand versetzt und sein Wissen über den Verlauf der Handlung ignoriert. So gehe es nicht darum, dass der Leser glaubt, dass Harry Potter stirbt oder überlebt; er müsse lediglich daran denken, dass Harry sterben könnte, da Emotionen durch Gedanken ausgelöst werden können. Nach Carroll besteht kein Paradox, da der emotionale Zustand der Spannung durch das Denken an verschiedene Handlungsverläufe ausgelöst werden könne – unabhängig von dem, was der Leser über die Ereignisse weiß. Spannung würde demnach bei der Erstlektüre sowohl durch Ungewissheit als auch durch das Mitfühlen mit Figuren erzeugt, bei der Relektüre jedoch nur noch durch letzteres: den emotionalen Aspekt der Empathie mit oder Sympathie für Figuren und den Gedanken daran, dass es ihnen schlecht ergehen könnte.

Angezweifelt: (i) Repeaters experience suspense regarding a certain narrative’s outcome

Wie geht der Verfasser selbst das Problem an? Im Gegensatz zu Carroll ist Ungewissheit bei Yanal das konstitutive Merkmal für Spannung, womit er in den Forschungskanon einstimmt. Seine Aussagen zum Paradox der Spannung versucht er aufzulösen, indem er (i) revidiert und Rezipienten eine falsche Wahrnehmung ihrer Emotionen zuschreibt. Dass Werke mehrfach rezipiert werden, sei kein Beweis dafür, dass die Rezipienten sowohl den Handlungsausgang kennen als auch gleichzeitig Spannung empfänden. Sogenannte false repeaters empfänden wirklich Spannung, da sie Teile der Handlung vergessen hätten; true repeaters, die sich an alles erinnern, könnten hingegen keine Spannung empfinden, sondern vielmehr fear for the know (eine Art vorträgliche Angst, da schon bekannt ist, welche Gefahren auf Harry lauern) und, natürlich ohnehin, »any emotion that does not require uncertainty«9Vgl. Yanal: »The paradox of suspense«, S. 153ff.. Die Abnahme der Spannungsintensität ließe sich mit Yanal dadurch erklären, dass der Rezipient bei der Erstrezeption sowohl Spannung als auch andere Emotionen erlebt, bei der Zweitrezeption jedoch nur noch andere Emotionen und diese mit dem Spannungsempfinden verwechsle.

Um von den Rezipienten als Spannungszustand deklariert zu werden, müssen diese Emotionen denen der Spannungsempfindung ähnlich sein. Katja Mellmann unterteilt Spannung in ihren emotionspsychologischen Überlegungen in Reiz und Reaktion10Vgl. Mellmann, Katja: »Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von ´Spannung´«, in: dies., Karl Eibl und Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen, in: Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner (Hg.): Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur. Bd. 5. Paderborn, 2007, S. 241–268, hier: S. 241.. Der Reiz ist hier die Ungewissheit, Furcht und Hoffnung sind die emotionale Reaktion. Die Furcht vor Voldemorts Sieg und die Hoffnung auf Harry Potters Überleben entfällt nach Yanals Theorie bei der Zweitlektüre der true repeaters; Furcht vor Voldemort als bedrohlichem Zauberer kann der Leser aber dennoch empfinden. In der Forschungsliteratur wird diese dem Spannungsphänomen ähnliche Form thrill genannt11Vgl. Mikos, Lothar: »The Experience of Suspense: Between Fear and Pleasure«, in: Suspense. Conceptualizations, Theoretical Analyses, and Empiracal Explorations, S. 37–49, hier: S. 40f. und könnte erklären, warum Zweitleser ihre empfundenen Emotionen mit der Spannungsempfindung verwechseln.

Die Grenzen der Literaturwissenschaften

Die Ansätze Carrolls und Yanals unterscheiden sich in ihren Annahmen grundlegend, könnten aber beide, so scheint es, eine Erklärung für das Paradox liefern. Die Antwort darauf, ob überhaupt eine der beiden Positionen das Paradox auflösen kann, lässt sich vielleicht gar nicht im Feld der Literatur- oder Filmwissenschaften finden. Spannung als ein emotionaler Zustand des Rezipienten sollte auch als ein solcher behandelt werden. Im dritten und letzten Teil dieser Essayreihe werden deswegen evolutionspsychologische und kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen.

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