Ausgangspunkt für das neue Buch der Autorin Maryam Aras ist ein Moment im Jahr 2017, als sie während einer Kinovorführung von Der Polizeistaatsbesuch plötzlich ihren Vater unter den Demonstrant:innen gegen den Staatsbesuch von Schah Mohammad Reza Pahlavi in Berlin erkennt. In Dinosaurierkind gibt sie einen Einblick in das Leben von Menschen wie ihren Vater, die sich das Privileg, (vermeintlich) unpolitisch zu sein, nicht leisten können.
Von Laslo Gitzel
Bild: via Pixabay (bearbeitet)
Was heißt es, ein politischer Mensch zu sein? Der Lebensmittelpunkt Aras‘ Vaters war stets die Politik gewesen, er hat sich »mit Politik besudelt«. Er kommt 1963 als Student nach München. Aus dem Iran musste er flüchten, weil ihm als Linker politische Verfolgung drohte. Das Politische spielt auch im Exil eine wichtige Rolle. Neben dem Studium, der nächtlichen Arbeit für die Post und 4 ½ Stunden Schlaf pro Nacht schafft er es, für Reformen in seiner Heimat zu kämpfen. Er hilft beim Aufbau der CISNU, der Confederation of Iranian Students National Union in Deutschland, vernetzt sich und organisiert Proteste und Demonstrationen in der Hoffnung, so auf die Probleme im Iran aufmerksam zu machen.
Der Schahbesuch 1967 gilt rückblickend als wegweisend für die darauffolgende linke Bewegung in Deutschland. Den Studierendenprotesten gegen den Besuch des Monarchen wurde mit Polizeigewalt begegnet. Dies spielte eine wichtige Rolle in der Entstehung der 68er-Bewegung sowie die der RAF. Allerdings kam der Anstoß zu den Protesten nicht aus dem sozialistischen deutschen Studentenbund, diese hatten ihren Fokus auf Protesten gegen den Vietnamkrieg. Es waren Exiliraner des CISNU, die das Thema auf die Agenda brachten. Allerdings wird ihre Rolle historisch häufig übersehen – ein Versäumnis, das Maryam Aras‘ Buch durch den persönlichen Zugang über ihren Vater korrigieren möchte:
»Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom überfüllten Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin sind grobkörnig, aber trotzdem, er ist es. Azzeh Mamans Augen, seine Augen, meine Augen. Auf dem Boden, eingequetscht zwischen anderen Kommiliton:innen, sitzt mein Vater.«
Ein politischer Mensch stammt aus einer politischen Familie
Trotz all der politischen Arbeit, die im Buch erzählt wird, ist Dinosaurierkind keine Geschichte eines bekannten Aktivisten oder Politikers. Aras‘ Vater wird an keiner Stelle namentlich genannt und immer wieder wird seine Bescheidenheit hervorgehoben: Er war in zweiter Reihe, war Organisator und wichtig für die Bewegung, aber drängte sich nie in den Vordergrund. Obwohl Aras‘ Vater sein Leben der Politik gewidmet hat, hat er es nie für Anerkennung getan, sondern weil er seinen Prinzipien treu bleiben wollte und an die Veränderungsmöglichkeit in seiner Heimat glaubte.
Der Essay konzentriert sich auf das Leben des Vaters, verwebt es aber in eine umfangreichere Familiengeschichte – eine politische Familiengeschichte, die von Flucht, Verfolgung und Leid durchzogen ist, weil das Politische eben immer da war. Die Familiengeschichte wird mit den politisch relevanten Veränderungen im Iran, mit Machtwechseln und Revolutionen und der Reaktion des Vaters und seinem politischen Umfeld darauf verbunden. Das Werk ist persönlich, eben von einer Tochter, die sich immer sehr mit ihrem Vater verbunden fühlte, die ihrem Vater etwas der Anerkennung verschaffen will, die er nie eingefordert hat. Der Vater selbst meldet sich durch kurze Einschübe zu Wort, in denen Aussagen korrigiert oder genauer eingeordnet werden. Sie lesen sich wie Kommentare bei Textverarbeitungsprogrammen, die typischerweise bei der Fremdkorrektur von Texten entstehen. So fängt das Buch geschickt eine Ebene ein, die dem:der Leser:in sonst verborgen geblieben wäre und erlaubt gleichzeitig O-Töne des Vaters zu lesen, wodurch er als Figur noch besser greifbar wird.

Dinosaurierkind
Ullstein: 2025
185 Seiten, 22 €
Ohne ständiges Wiederholen
Maryam Aras schreibt referenziell, verweist häufig auf Filme, Dichter:innen und Romane, die den meisten Deutschenweniger bekannt sein dürften. Dem:der Leser:in wird dadurch mit der eigenen Unwissenheit zu iranischer Kultur konfrontiert. So beschreibt die Autorin erst die typische Bauweise von iranischen Häusern und hinterfragt direkt danach, warum sie sich dazu gezwungen fühlt, nur weil sie für das deutsche Publikum schreibt. Der Text nimmt einen als Leser:in ohne viel Wissen über iranische Kultur bewusst nicht an die Hand. Historische Ereignisse werden nicht chronologisch abgehandelt oder genauer erklärt. Der Text macht das zum Prinzip, will sich nicht in komplizierten Erklärungen verlieren, nur weil er eben in einem anderen kulturellen Kontext erscheint (Deutschland), als der, in dem die Handlung zum Teil stattfindet (Iran). Aras setzt gewisses Kontextwissen voraus und erklärt Dinge höchstens einmal. Das ist selbstbewusst und nur konsequent: Leser:innen mit Wissenslücken können sich einer Suchmaschine ihrer Wahl bedienen und sich fehlendes Wissen anlesen.
Insgesamt ist es ein biografischer Essay, der sich traut, Lesende vor den Kopf zu stoßen. Aras spielt gleichermaßen weder die prekären Verhältnisse, die mit der iranischen Diktatur in Verbindung stehen herunter noch den Rassismus, der politischen Flüchtlingen in Deutschland entgegengebracht wurde und wird. Auch lässt sie die Geschichtstilgung der Iraner:innen in der linken Bewegung nicht unerwähnt und trägt durch ihr Buch aktiv dazu bei, die Geschichte vollständiger zu machen. Dinosaurierkind ist ein Werk, dem es wichtiger ist, nachzuzeichnen, wie ein politisches Leben aussieht, statt ausschweifend dessen Inhalt zur präsentieren. Die präzisen Forderungen des Vaters spielen keine wichtige Rolle. Es ist kein politisches Manifest, sondern beschreibt eine Lebensweise, in der der Umgang mit Politik einen eben so wichtigen Part einnimmt, wie Familie und Arbeit.

