Ein Vater verliert den Halt, die Mutter kocht, der Sohn will kämpfen. Was als familiärer Zusammenbruch beginnt, eskaliert zur Tragödie. In Ajax im Deutschen Theater in Göttingen prallen antiker Mythos und heutige Vorstadtrealität aufeinander – laut, körperlich, grell. Die Ebenen verschieben sich, und mit ihnen das Bild davon, was ein Held einmal war.
Von Sofia Peslis
Bild: Tarek Sirin
Auf der im Verlauf des Abends langsam zugerichteten Bühne stehen sich zwei Ebenen gegenüber: Ajax, der mythische Kriegsheld aus Troja, und Michael, ein heutiger Familienvater mit Prepper-Tendenzen. Beide Figuren erfahren den Verlust von Orientierung, Vertrauen und innerer Stabilität. Beide werden getrieben von der Vorstellung, sich gegen eine feindliche Welt wappnen zu müssen. Und beide zerbrechen schließlich an der Logik, in der sie sich bewegen.
Im Gespräch mit Litlog macht Schauspielerin Lou von Gündell, die die Figur des Eurysakes verkörpert, Sohn von Ajax, deutlich, wie stark das Stück von Gegensätzen lebt: »Wir erzählen ein Kriegsstück«, sagt sie, »aber es wird nie Krieg gezeigt. Es geht um das, was der Krieg mit den Menschen zu Hause macht.« Gerade diese Verlagerung auf die familiäre Ebene hebt das Stück des Dramatikers Thomas Freyer deutlich von einer klassischen Heldeninszenierung ab – und von vielen politisch inszenierten Gegenwartsdramen ohnehin.
Diese doppelte Erzählebene, antik und gegenwärtig, erzeugt Reibung, aber auch Resonanz. Die Figuren durchdringen sich, nicht nur inhaltlich, sondern auch emotional. Für das Publikum bedeutet das: Wer sich auf Michael einlässt, begegnet auch Ajax. Wer die antike Vorlage, Sophokles’ Drama Aias (449 v. Chr.), kennt, entdeckt seine Spuren im Heute wieder – und wer sie nicht kennt, könnte schnell ins Schwimmen geraten. Denn das Stück erklärt nichts, es verweigert klare Einordnungen. Figuren tauchen auf und verschwinden, Zeitebenen verschieben sich, Namen changieren. Wer dabei den roten Faden verliert, befindet sich in guter Gesellschaft.
Wahnsinn, Klang und Körperkontakt
Zentral im Bühnenraum steht ein abstrahiertes trojanisches Pferd, das aus rotem Faden gemacht ist und im Verlauf des Abends immer mehr zu einer losen Konstruktion wird. Der rote Faden, der eigentlich Orientierung geben soll, verliert seine Funktion. Er verheddert, umschlingt, aber hält nicht mehr zusammen. Auch Michael, die Vaterfigur, verstrickt sich buchstäblich darin.
Das Bühnenbild geht als bewegliche Collage mit. Zu Beginn sieht man die Projektion eines Einfamilienhauses, eine nüchterne Vorstadtfassade, fast schon klischeehaft in ihrer Normalität. Doch diese Idylle hält nicht lange. Das Bild zerfällt, bis sich aus dem Projektionsraum eine reale Bühnenarchitektur formt – ein Preppingbunker wächst, aus Licht, Holz, und Geräusch. Parallel zu den an das sophokleische Original angelehnten Szenen erscheinen auf einer Leinwand antik anmutende Gemälde: Darstellungen des Trojanischen Krieges als blasse Erscheinung eines fernen Mythos, der in die Jetztzeit hineinblutet. Die Metapher wird körperlich, greifbar. Und genau darin liegt eine der Stärken der Inszenierung: Sie denkt nicht nur in Bildern, sondern in Zuständen.
Schauspielerin Gündell beschreibt die körperliche Erfahrung auf der Bühne als herausfordernd und unmittelbar: »Ich werde angefasst, im Gesicht, weggeschubst. Das spürt mein Körper. Und er reagiert.« Diese Berührungen sind choreografisch, doch sie tragen eine spürbare Wucht in sich – sie erzeugen Reibung und Widerstand, ohne den Schutzraum der Inszenierung zu verlassen. »Es passiert einem ja im Alltag nicht, dass man so berührt wird«, sagt sie. Der Körper würde nicht nur mitmachen, er entscheide. Ihre Figur Eurysakes erlebt keine lineare Entwicklung, sondern körperliche Zustände: Kampf, Rückzug, Tränen, Zittern. »Ich hatte Momente, in denen ich dastand und geheult habe – und gar nicht wusste, warum.«
Diese Form der Darstellung verlässt das klassische Dialogspiel. Vieles funktioniert über Energie, über gespürte Dynamiken. Gündell beschreibt, wie sich der Abend für sie auflädt: schon 40 Minuten vor dem Auftritt beginnt sie, sich körperlich einzustimmen. »Ich bewege mich viel, komme über den Körper in die Figur«, sagt sie. Für sie ist das kein äußerliches Spiel, sondern eine ständige Verhandlung mit dem, was in ihr in Schwingung gerät. Besonders in der finalen Szene, wenn sie ihrem Vater in aller Härte entgegentritt, wird spürbar, wie viel Wut, Verzweiflung und sprachloser Schmerz in der Figur steckt und wie viel davon eigentlich durch den Körper geht.
Auch die akustische Gestaltung unterstreicht diesen Zugriff: Mit dem Einsatz eines Waterphones entstehen vibrierende, sirrende Klänge, die sich durch den Abend ziehen wie ein feines Nervensystem aus Geräusch. »Manchmal fühlt es sich eher wie ein Hörspiel an«, sagt Gündell. Die Zuschauenden werden nicht geführt, sondern ausgesetzt – dem Flackern des Lichts, der körperlichen Nähe, dem auditiven Vibrieren.
Die postheroische Gesellschaft
Der Theaterabend bewegt sich auf einem Terrain, das in der Politikwissenschaft als »postheroische Gesellschaft« bezeichnet wird – ein Begriff, den auch das Programmheft aufgreift. Gemeint ist damit eine Gesellschaft, die zwar noch Heldenbilder kennt, aber nicht mehr weiß, wohin damit. In Ajax wird genau das verhandelt: Wer sind die Helden heute? Welche Rolle spielen sie noch? Und was passiert, wenn die alten Rollenbilder nicht mehr greifen, aber neue nicht angeboten werden?
Für Eurysakes bedeutet das vor allem eins: eine Kindheit im Ausnahmezustand. Lou von Gündell beschreibt ihre Figur als »traumatisiertes Kriegskind mit viel Energie«, das sich zwischen Elternkonflikten, Erwartungsdruck und männlicher Abwesenheit behaupten muss. Was im Text als heroisches Erbe aufscheint, wird auf der Bühne zur Bürde.
Spannend – und zugleich etwas unausgeschöpft – bleibt der Umgang mit Geschlechterrollen. Obwohl patriarchale Strukturen im Stoff angelegt sind und das Thema Macht unübersehbar verhandelt wird, bleibt die Inszenierung diesbezüglich erstaunlich vage. Statt das System hinter dem Krieg in den Blick zu nehmen, konzentriert sich der Abend stark auf seine Symptome wie Lärm, Eskalation, individuelle Zusammenbrüche. Es wurde Krieg gezeigt – aber nicht wirklich, was er mit Machtstrukturen zu schaffen hat. Die Frage, wie sich männlich geprägte, asymmetrische Machtverhältnisse auf Familie, Sprache und Körper auswirken, blitzt zwar auf, wird aber nicht konsequent verfolgt. Gündell beschreibt das Stück als laut, kraftvoll, energiegeladen – »mit sehr viel männlicher Energie«, wie sie sagt. Dass am Ende vor allem die Kinder und Frauen übrigbleiben, könne man durchaus sehen – »aber man muss es wollen«.
Innen und Außen
Eine besondere Qualität des Abends liegt im Verschnitt der Textebenen: antik und modern, chorisch und persönlich, gebrochen und parallel geführt. Das stellt auch die Schauspielenden vor Herausforderungen. »Ich führe keinen normalen Dialog«, erzählt Lou. »Ich kriege keine Frage wie ›Wie geht’s dir?‹, auf die ich antworten kann. Stattdessen sage ich: ›Ich will kämpfen.‹« Der Text ist wie versetzt. Ein Gespräch durch Zeiten, Räume, Rollen hindurch.
Auf die Frage, wie sie sich selbst in der Rolle erlebt, antwortet sie differenziert: »Ich mag meine Figur. Aber ich spiele sie nicht aus persönlicher Überzeugung, sondern aus ihrer eigenen Logik heraus. Ich muss auf ihrer Seite sein – das ist meine Aufgabe.« Diese Haltung zeigt eine professionelle Distanz, ohne emotionale Leere: »Ich habe Zugriff auf meine aggressive Seite. Aber ich bin nicht die Figur. Ich bediene sie – mit meinem Körper, mit meiner Sprache.«
Gerade in den letzten Szenen, in denen Eurysakes seinem Vater offen die Meinung sagt, entstehen intensive Momente. »Ich hab da gestanden, geweint – und gleichzeitig gedacht: Was mache ich hier eigentlich, in diesem Kostüm, mit dieser Wut? Aber es hat sich frei angefühlt.« Und genau diese Widersprüche scheinen Ajax so spannend zu machen, denn es oszilliert zwischen Ernst und Ironie, zwischen Reflexion und Emotion.
Kein Held, kein Frieden
Ajax lässt nicht einfach wieder los. Der Abend bohrt sich ins Denken, nicht weil er laut ist – das ist er auch –, sondern weil er vieles offenlässt. Figuren, die nicht zu Ende sprechen. Bilder, die sich nicht auflösen. Schmerz, der sich nicht erklären will. Statt Antworten gibt es Spannungen: zwischen Mythos und Jetztzeit, zwischen Vater und Sohn, zwischen Rollen, die nicht mehr passen. Und mittendrin die Frage, was bleibt, wenn Helden sich selbst demontieren.
In dieser offenen, rohen Struktur ist Eurysakes keine Nebenfigur. Lou von Gündell spielt ihn mit einer stillen Wucht – ein Kind, das nichts versteht und doch alles spürt. Er steht zwischen den Fronten, saugt Konflikte auf, übersetzt sie in Blick, Bewegung, Atmung. »Ich bin nah dran, aber ich verstehe nicht alles«, sagt Gündell im Gespräch. Ein Satz, der den Abend vielleicht besser beschreibt als jede Analyse. Eurysakes wird zum Resonanzraum für das, was unausgesprochen bleibt, und für das, was Kinder mittragen, wenn Väter sich entziehen – innerlich oder ganz. Wenn Männlichkeit zu Wut wird, bleibt oft nur Schweigen zurück.
Dass dieser fordernde, vielschichtige Abend dennoch eine starke Wirkung entfaltet, zeigte sich auch im Saal: Das Publikum reagierte mit langem, konzentriertem Applaus – keine Erlösung, sondern Anerkennung.
Ajax wird am 11. Juni vorerst ein letztes Mal im Deutschen Theater Göttingen aufgeführt.