Der Kampf einer Mutter

Eine Mutter, ein Vater, ein Kind, ein ländliches Dorf und eine toxische Ehe. Dies ist das Setting, in dem Daniela Dröscher die Diskriminierung einer Mutter und Ehefrau aufgrund ihres Übergewichts schildert, ein Merkmal, das für den Vater der Familie ihren ganzen Charakter darzustellen scheint. Hauptsächlich aus Sicht der Tochter im Kindesalter erzählt, stellt Lügen über meine Mutter eine starke Geschichte dar, welche die Leser:innen auffordert, sich gegen Diskriminierung zu wehren und für Frauenrechte einzustehen.

Von Lisa Neumann

Bild: Via Pixabay, CC0

Ich selbst habe innerhalb der letzten Jahre aufgrund diverser Ursachen vor und während der Coronapandemie zugenommen. Und ich selbst habe erlebt, wie bereits zehn bis fünfzehn Kilo mehr auf der Waage als Frau das eigene Verhältnis zur Umwelt verändern können. Implizite oder explizite Aussagen wie die simple Feststellung »Du hast zugenommen« oder die Frage »Machst du genug Sport?« sowie der besorgte Ratschlag »Futter dich nicht so zurecht« aus dem eigenen familiären Umfeld oder gar von Fremden sind verletzend. Sie rufen mir die weiblichen Schönheitsideale zurück ins Gedächtnis, die ich in dieser Gesellschaft bereits überwunden hoffte.

Im Gegensatz zu dem Ehemann der Mutter in Daniela Dröschers Roman waren es bei mir jedoch hauptsächlich andere Frauen, die meinten, mein neues Körpergewicht ungefragt kommentieren zu müssen. In unserer Gesellschaft haben alle, auch diese Frauen, misogyne Schönheitsideale verinnerlicht, die ihnen selbst nicht guttun, die sie belasten und gegen die wir alle gemeinsam ankämpfen sollten.

Übergewicht als Anreiz für Diskriminierung

Von einem solchen jahrelangen Kampf im häuslichen Umfeld berichtet Daniela Dröschers Roman Lügen über meine Mutter aus der Sicht des kleinen Mädchens, das unter dem fortwährenden Streit der Eltern über das Gewicht der Mutter am meisten leidet. Das Leiden äußert sich darin, dass die Ich-Erzählerin die desaströse Ehe ihrer Eltern auch als erwachsene Frau noch beschäftigt und sie das Schreiben als Bewältigungsstrategie nutzt:

Vielleicht stimmt es gar nicht, dass mich dieses familiäre Kammerspiel nicht loslässt, weil ich Schriftstellerin geworden bin. Vielleicht muss ich den Satz umdrehen. Vielleicht habe ich überhaupt nur angefangen zu schreiben, weil ich als Teil dieses Kammerspiels aufgewachsen bin.

Dröscher findet aus der Sicht des Kindes heraus radikal ehrliche Worte, um die Situation zu beschreiben. So heißt es gleich zu Beginn des Romans: »Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie.« Das Gewicht der Mutter dient dem Vater zu Hause als Anlass, seine Frau über Jahre hinweg kontinuierlich zu tyrannisieren. Die Perspektive der Tochter ist dabei für den Roman besonders geeignet, um dies zu schildern. Sie erfasst das, was zwischen ihren Eltern geschieht, sehr genau, leidet mit ihrer Mutter und steht doch zwischen beiden Elternteilen, wenn sich die Scham des Vaters für den Körper der Mutter auf sie bei einem Besuch im Freibad überträgt.

Der Vater – mehr als ein bloßer Mobber

Dabei ist der Vater mehr als ein bloßer Mobber, er wird als Figur greifbar, die selbst unter der Dorfgesellschaft und ihren Ansprüchen sowie der Krise der eigenen Männlichkeit leidet. In einzelnen, kurzen Romanpassagen sieht die nun erwachsene Tochter reflektierend auf ihre Kindheit zurück, auch auf ihren Vater:

Ich habe die Tatsache, dass mein Vater einen übertriebenen Wert auf Äußerlichkeiten legt, lange schlicht als Eitelkeit abgetan. […] Inzwischen aber glaube ich, dass seine Obsession tiefere Gründe hat. Bis heute hadert mein Vater mit seiner sozialen Stellung. Meine Großmutter hat ihm, dem emporgekommenen Bauernkind, die Scham über die ländliche, allzu ländliche Herkunft vererbt. Gutes Aussehen kann ein Kompensationsmittel für den sozialen Aufsteiger darstellen.

Der Vater der Ich-Erzählerin wäre gern ein die Familie gänzlich beherrschender Patriarch, jedoch scheitert dieser Wunsch schon an der Berufstätigkeit und in Aussicht stehenden beruflichen Beförderung seiner Frau. Die eigene Unsicherheit, die verweigerte Beförderung auf der Arbeit, fehlende soziale Anerkennung: Für all dies findet der Vater eine monokausale Erklärung, nämlich das Übergewicht seiner Frau. Damit verschont er sich selbst vor einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche und den Idealen einer Gesellschaft, die ihm mehr Schlechtes als Gutes tun.

Verstecktes Leiden

Mutter und Tochter leiden versteckt, wobei die Mutter vieles tut, um den Streit der Eltern von ihrer Tochter fernzuhalten. Sie widersetzt sich ständig ihrem Ehemann, ein Kampf, der sie über die Jahre emotional zermürbt, bis sie in einer entscheidenden Situation ihre Wut an der eigenen Tochter auslässt und diese schlägt. Die erwachsene Tochter konstatiert später zu diesem Vorfall:

In dem Kammerspiel mit Namen ›Familie‹ wird das Kind nicht selten zum Blitzableiter der Kräfte, denen die Frau im Patriachat unterworfen ist.

Der Vater ist immer wieder übergriffig, besonders perfide: Als die Mutter das Haus ihrer verstorbenen Eltern renoviert und die Renovierungskosten den neuen Besitzern des Hauses wie vereinbart anrechnen will, verhindert der Vater dies kurzerhand und vernichtet somit den finanziellen Wert ihrer wochenlangen Arbeit. Ebenso verheimlicht die Mutter zu Beginn der Ehekrise eine Schwangerschaft vor ihm, da sie so unglücklich in der Beziehung ist, dass sie das Kind nicht behalten möchte. Ein Gesprächsversuch mit dem Vater darüber scheitert, da er sie, ohne das Thema zu wissen, abwimmelt. Schließlich bezieht der Vater die Tochter doch noch direkt mit ein, indem er sie darum bittet, sie möge doch ihrer Mutter klarmachen, dass diese abnehmen müsse.

Gewaltige Worte und zu viel Reflexion

Die Haupterzählung des Romans aus der Sicht des Kindes in den 1980ern funktioniert exzellent. Jedoch verliert Dröschers Roman leider in den Passagen, in denen die erwachsene Tochter auf ihre Kindheit zurückblickt, oftmals an Stärke. Einige Einschübe in jenen Passagen ähneln eher einem Soziologiebuch oder einem politischen Pamphlet und verlieren damit – auch wenn sie gesellschaftlich wichtig sind – an literarischer Relevanz. So zum Beispiel, wenn die Ich-Erzählerin über das Erbe ihrer Mutter nachdenkt, das sie finanziell endgültig unabhängig vom Vater macht:

Die wohlhabende Frau oder auch nur finanziell unabhängige Frau stellt im Patriarchat eine Provokation dar. Eine reiche Frau symbolisiert Tod und Untergang. Ihre Potenz ist eine Gefahr für den männlichen Körper.

Dennoch ist Lügen über meine Mutter ein starker und lesenswerter Roman. Allein deshalb, weil das Körpergewicht der Mutter nie beziffert wird und somit die Wahrnehmung des Vaters seiner Frau als »zu dick« trotz der Blicke manch anderer Leute als subjektiv verbleibt.

Eine abschließende Bitte

Im Roman wird deutlich aufgezeigt, was die Reduzierung eines Menschen auf sein Körpergewicht für psychische Auswirkungen haben kann: Scham und die Verminderung des eigenen Selbstwertgefühls sowie der ständige Stress im häuslichen Bereich verursachen bei der Mutter eine Autoimmunerkrankung, deren Ursache die Ärzte nicht erklären können. Es scheint, als habe ihr Körper sich selbst angegriffen. Natürlich ist sehr starkes Übergewicht ein Gesundheitsrisiko und dies möchte ich auch nicht abstreiten. Aber kein Mensch sollte auf sein Körpergewicht reduziert werden.

macbook

Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter

KiWi: Köln 2022
448 Seiten, 24,00€

Übergewicht kann viele Ursachen haben, neben physischen auch psychische. Ihr kennt die Geschichte einer Person nicht, nur weil ihr äußerlich seht, dass sie eurem Empfinden nach zu dick ist. Und vielleicht möchte die Person besorgte Nachfragen diesbezüglich oder ungebetene Kommentare zu ihrem Gewicht nicht (mehr) hören. Um abschließend kurz auf mich selbst zurückzukommen: Ich habe kein großes Problem mit meinem Körper. Dass er funktioniert, erscheint mir wesentlich wichtiger als sein Gewicht.

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