Auf der Suche nach Liebe

Während andere Kinder zur Schule gehen, lernt Samira zu betteln und zu klauen. Gewalt und Unterdrückung sind Alltag für sie geworden. Doch dann kommt ihr Traumprinz und alles scheint sich zu ändern. Ein Roman voller Hoffnung und Grausamkeit mit einer umso strahlenderen Heldin.

Von Regina Seibel

Bild: Segantini: Rückkehr in die Heimat via wikipedia.org / CCO

»Ich habe das Gefühl, in meiner Kindheit war nur Winter.« Dieser Satz findet sich auf der ersten Seite aus Lana Lux´s Debüt Kukolka. Ausgesprochen wird er von Samira, der fiktiven Protagonistin des Romans. Genau dieser Satz spiegelt auch das wider, was man während des Lesens spürt. Die Kälte ihrer Kindheit geht einem buchstäblich unter die Haut und ist kaum zu ertragen.
Doch vielleicht ist diese Grausamkeit, diese Unvorstellbarkeit des Inhalts von Kukolka genau das, was diesen Roman wichtig und lesenswert macht. Er öffnet uns die Augen für eine existierende Welt außerhalb unserer Wahrnehmung. Über Macht, Gewalt, Missbrauch und Tod schreibt Lux realitätsnah und ehrlich, dabei ist es keine Autobiografie. Lediglich Erfahrungen aus ihrem ukrainischen Kindergarten brachte sie mit ein. Trotzdem gelingt es ihr, eine authentische Heldin zu skizzieren, mit der die LeserInnen hoffen und leiden. Und sie steht stellvertretend für tausende von Frauen, die ein ähnliches Schicksal erleiden oder erleiden mussten. Lana Lux liefert uns ein erstaunlich realitätsnahes Debüt, bei dem Gänsehaut vorprogrammiert ist.

Schauplatz ist die Ukraine in den 90er Jahren. Die Auftakt-Szene bildet ein Kinderheim, denn ab hier erzählt uns die bereits jugendliche Samira rückblickend ihre Geschichte. Was davor gewesen ist, weiß sie ohnehin nicht. Unsinnige Regeln und Unterdrückung sind im Heim an der Tagesordnung. An die Beleidigungen der Erzieherinnen hat das junge Kind sich gewöhnt, denn wegen ihrer dunklen Hautfarbe und der schwarzen Haare wird sie »Zigeunerin« genannt. Und das ist noch eher harmlos im Gegensatz zu dem, was sich Samira sonst noch anhören muss.

Prägend für sie ist ihre Freundin Marina, die eines Tages von einem deutschen Ehepaar adoptiert wird. Aus Deutschland schickt diese Samira ein Paket mit Süßigkeiten und einer echten Barbie. Daraus erwächst ein Traum, der Samiras Handeln in weiten Teilen des Romans bestimmen wird: Sie will nach Deutschland reisen, Marina finden und bei ihr leben. Nach erneuter Schikane im Heim entschließt sie sich zur Flucht. Raus auf die Straße, in der Hoffnung, in das Land ihrer Träume reisen zu können.
Aufgesammelt wird sie von Rocky, der ihr und einigen anderen Straßenkindern Unterschlupf und Essen bietet. Im Gegenzug dafür gehen sie für ihn betteln und klauen. Er nennt Samira »Kukolka«, das russische Wort für »Püppchen«. Es verwundert nicht, dass dieser Spitzname sie auch weiterhin im gesamten Roman begleiten wird, denn er zeigt, dass niemand sie als das Individuum Samira sieht. Sie ist für viele eben nur ein Spielzeug.
Natürlich glaubt das junge Mädchen Rocky, als er ihr verspricht, ihr verdientes Geld für die Reise nach Deutschland zu sparen. Von ihm erfährt sie auch das erste Mal so etwas wie Zuneigung und Wertschätzung, die sie so noch nie gekannt hat. Sie klammert sich an dieses Gefühl und wird bei allem, was sie tut, stets bewegt durch ihren Wunsch, von anderen geliebt zu werden. Sie will gut genug sein und ist stolz darauf, dass niemand mehr Geld beim Betteln verdienen kann als sie.

»Mir wurde ganz warm. Aber nicht außen, wegen der Hitze, sondern innen, im Bauch. Ich war noch nie jemandem so wichtig gewesen, dass er mir was beibringen wollte.«

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Lana Lux
Kukolka

Aufbau Verlag 2017
375 Seiten, 22€

Doch bald merkt auch Samira, dass das Leben bei Rocky nicht das ist, was sie eigentlich will. Ihr wird bewusst, dass er das Geld nicht für ihre Reise nach Deutschland spart. Er neigt zu Gewaltausbrüchen, verspielt und vertrinkt das ganze Geld und drängt Samira zu Dingen, die sie nicht tun will. Schutzlos muss sie dabei zusehen, wie zwei ihrer Freundinnen sterben. Diesen Schock zu verkraften, fällt ihr schwer. Doch ihre Freude am Singen und ihr Traum von einer besseren Zukunft gibt ihr Mut: Sie beginnt eigene Texte zu schreiben und verarbeitet ihr Leid.

»Ich wusste, dass ich zu niemandem gehöre und nichts wert bin. Dass ich einfach da bin, so wie Kakerlaken. […] Ich hatte nichts sicher. Nicht einmal den Tod. Nicht einmal das.«

Zu schön, um wahr zu sein

Mit 12 Jahren steht Kukolka jeden Tag auf der Straße und singt für Geld. Genau da geschieht ein »echtes Wunder«. Sie trifft auf Dima, ihren Märchenprinzen. Er macht ihr Komplimente, Geschenke und lädt sie zum Essen ein. Alles klingt wie ein Traum: Dimochka befreit sie aus ihrem Leben bei Rocky und verspricht, mit ihr nach Deutschland zu gehen, wo sie Sängerin werden soll.
Nach kurzer Zeit ist Samira verliebt und schläft mit Dima. Tatsächlich bringt er sie einige Wochen später nach Deutschland, doch ihr eigentlicher Traum entwickelt sich zum Albtraum. Noch im Glücksrausch der gemeinsamen Tage in Deutschland erfährt sie von Dima, dass er finanzielle Probleme hat. Es kommt, wie es kommen muss: Naiv und hilflos wie Kukolka ist, willigt sie ein, mit einem anderen Mann zu schlafen, um Dima aus seiner finanziellen Not zu helfen. Schließlich liebt ihr Dimochka sie ja.
Es dauert nicht lange, da hat Kukolka mehrere Kunden am Tag. Für das junge Mädchen ist es eine einzige Tortur, doch sie ergibt sich ihrem Schicksal. Ihr bleibt jedoch auch nichts weiter übrig. Ohne Pass und Kontakt zur Außenwelt steckt sie in einem fremden Land fest. Samira hat niemanden außer Dima. An ihr 14. Lebensjahr erinnert sie sich kaum noch, denn die Drogen verwandeln alles in einen dichten Nebel. Samira kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Sie hat Wahnvorstellungen, fühlt sich hilflos und ekelt sich vor sich selbst.

»Alles beim Alten. Nur mein Körper war anders. Er lag da wie ein toter Fisch, kalt, feucht und stinkend unter der Decke. Ich wollte ihn nicht sehen und nicht riechen. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben.«

Mit 15 macht Kukolka zu viel Ärger und Dima verkauft sie an eine Agentur, in der sie sich prostituieren muss, um ihre Kaufschulden abzuarbeiten. Sie kann nun 24 Stunden am Tag gebucht werden und hat bis zu 20 Kunden am Tag. Doch ihre Schulden werden nicht weniger, ihr Körper schmerzt und ist verletzt. Kukolka gelangt mit nur 16 Jahren ans Ende ihrer Kräfte. Sie fühlt sich dem Tod näher als dem Leben. Kann es da noch ein glückliches Ende geben?

Lux gelingt es, dass das Lesen von Kukolka wegen seiner Offenheit mitnimmt und wehtut. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. In ihrem Debüt lässt Lux kein noch so grausames Detail aus, und so müssen die LeserInnen alles miterleben, was mit Samira geschieht. Die Gefühle und Szenen, die Samira schildert, sind grausam und doch nachvollziehbar. Ständig muss man sich ins Gedächtnis rufen, wie jung das Mädchen eigentlich noch ist. Es passt einfach nicht zu dem, was sie bereits alles durchmachen und verarbeiten muss. Ihre Reaktion auf die furchtbarsten Dinge stumpft immer mehr ab. Leid und Gewalt werden für sie alltäglich. Doch nur indem sie sich abhärtet, kann sie ihr Überleben sichern.

Die Sprache ist einfach, häufig umgangssprachlich. Jede andere Art und Weise wäre auch unangemessen. Eine Jugendliche ohne Bildung erzählt ihre Geschichte. Welchen anderen Stil würde man Lux hier abkaufen?
Die Spannung der Geschichte baut sich mehr und mehr auf, die Ereignisse überschlagen sich. So schnell, wie der Roman sich entwickelt, ebenso abrupt und plötzlich kommt das Ende. Ein wenig verdutzt bleibt man dadurch zurück. Aber vielleicht passt ein offenes Ende am besten zu diesem Roman: Denn Samira weiß letzten Endes selbst nicht, wohin die Reise geht.
Lana Lux´s Erstlingswerk Kukolka ist sicher keine leichte Kost. Aber man sollte sich öffnen und eintauchen in eine Welt, die einem sonst eher fremd ist und doch in vielen Motiven ebenso vertraut.

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