Inselgravitation, die zweite

In seinem neuesten Roman Weißes Meer, dem Nachfolger von Die Unsichtbaren, schreibt Roy Jacobsen abermals über das einfache, harte Leben auf einer norwegischen Insel. Auch wenn die Geschichte diesmal im Zweiten Weltkrieg spielt: Wirklich neu ist sie nicht. Gut erzählt ist sie aber allemal.

Von Merten Kröncke

Bild: Frederic Mancosu via Flickr / CC BY-ND 2.0

Fortsetzungen sind eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits erhoffen sich die meisten Leser verständlicherweise mehr von dem, was schon den Vorgängertext auszeichnete – eben das ist für viele der Grund, warum sie eine Fortsetzung lesen. Andererseits sollte eine Fortsetzung auch genügend Neues bieten, um ihr Dasein zu rechtfertigen, denn eine bloße Kopie des Vorgängertextes ist dann doch ziemlich langweilig. Der Klappentext von Roy Jacobsens neuestem Werk Weißes Meer (in der Übersetzung des 2015 auf Norwegisch erschienenen Hvitt hav von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann), der Fortsetzung seines Romans Die Unsichtbaren von 2013, verspricht jedenfalls, diesen schwierigen Balanceakt zu meistern. Erst heißt es: »Ein Wiedersehen mit den Bewohnern Barroys!« Dann liest man: »Eine Erzählung von ungeheurer Strahlkraft über ein schicksalhaftes Jahr der Weltgeschichte und eine außergewöhnliche Liebe.« Weltgeschichte und Liebe waren tatsächlich nicht gerade die dominierenden Themen in Die Unsichtbaren, vielmehr ging es um den Wert von Heimat.

Der Anfang des neuen Romans löst das Versprechen, mit etabliertem Personal eine Geschichte über neue Themen zu erzählen, ein: Auf der einen Seite begegnet der Leser erneut der winzigen norwegischen Insel Barrøy und ihrer Bewohnerin Ingrid, die auf dem Eiland ein hartes und einsames Leben führt. Das kombiniert Jacobsen auf der anderen Seite mit einem neuen historischen Setting, nämlich der Spätphase des Zweiten Weltkriegs, und mit einem neuen Handlungstypus, nämlich der Liebesgeschichte. Diese Mixtur entlädt sich auf den ersten siebzig der insgesamt 264 Seiten des Textes. Da hätten wir erst das karge, entbehrungsreiche und abgeschiedene Leben Ingrids auf Barrøy, dann das Auftauchen eines russischen Kriegsgefangenen, Alexander, die Liebe zwischen Ingrid und dem Russen, schließlich Trennung, Gedächtnisverlust, Aufwachen im Krankenhaus.

Inselgravitation

Verblüffend schnell hat sich der Roman von seinem Vorgänger gelöst. Die schlichte, liebende Inselbewohnerin Ingrid im Zweiten Weltkrieg mit der urbanen Umgebung eines modernen Krankenhauses zu konfrontieren, ist neuartig und interessant zugleich. Allerdings handelt es sich dabei auch schon um den Höhepunkt der Abweichung von Die Unsichtbaren, denn ab jetzt wird mehr und mehr die altbekannte Insel Barrøy zum Gravitationspunkt der Erzählung, der sie auch schon in Die Unsichtbaren war.

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Roy Jacobsen
Weißes Meer

Osburg Verlag: Hamburg 2016
264 Seiten, 20,00€

Während das Eiland wie ein Magnet auf Ingrid und weitere Figuren wirkt, versinken die Themen Weltgeschichte und Liebe immer mehr im Hintergrund. Ganz weg sind sie nie, was sich zum Beispiel zeigt, wenn der Roman von der Flucht von Norwegern aus ihren durch den Krieg zerstörten Städten erzählt oder wenn Ingrid noch manchmal an Alexander denkt. Aber in dem Sog, der von Barrøy ausgeht, lösen sich diese Themen, die ja eigentlich das Neue ausmachen sollen, mehr und mehr auf. Der Krieg geht zu Ende, Ingrid macht mit den Geschehnissen um Alexander ihren Frieden. In einer Art Kreisbewegung startet der Text bei Barrøy, entfernt sich dann von dem Eiland, nur um schlussendlich doch wieder zu ihm zurückzukehren.

Die Sprache Barrøys

Immerhin: Diese Kreisbewegung reflektiert Jacobsen sehr sensibel und präzise in seiner Sprache. Lakonisch, distanziert, hart, fast schon trist wird der Anfangsteil erzählt, und das ist dem Thema angemessen: das trübe und einsame Leben auf der Insel Barrøy verlangt förmlich danach. Die Beschreibung von einfachen körperlichen Arbeiten in der Natur dominiert den Text, Inneneinsichten in die Gefühlswelten werden nur selten gegeben und wenn doch, dann fast immer nur in Form von einfachen Empfindungen anstatt von tiefen Reflexionen, wörtliche Rede gibt es kaum, die Syntax ist parataktisch:

»Sie zog sich an, lief hinunter zum neuen Schuppen und holte zwei Netze, ging nach Süden zu der Vertäuung am Sund und zog das erste Netz wie lautlose Spinnweben in die schwarze Dünung hinein, verknotete es mit dem anderen und zog es hinterher, eine Kette mit zwei Netzen, es war keine besonders gute Kette, sie zog fünfzehn Faden lang hinaus, machte sie fest und lief nach Hause.« (S. 21)

Allein schon die Verben des Abschnitts, »anziehen«, »laufen«, »holen«, »gehen«, »ziehen«, »verknoten«, »ziehen«, »ziehen«, »festmachen«, »laufen« – das ist das Leben auf Barrøy!
Ähnlich verdichtet sich die raue, maritime Atmosphäre in dieser Passage:

»Sie ging hinunter zum Bootshaus und ließ das Boot zu Wasser, ruderte um die nördliche Landspitze, wo ihr der Wind entgegenblies und sie sich unter dem Felsvorsprung von Barrøy hielt, kämpfte sich durch die Gischtwellen südwärts bis zur Netzkette, wo der Wind die Geräusche herübertrug, von den Vögeln über Moltholmen.« (S. 35)

Hier zeigen die Nomen, was auf der Insel wichtig ist: »Bootshaus«, »Boot«, »Wasser«, »Landspitze«, »Wind«, »Felsvorsprung«, »Barrøy«, »Gischtwellen«, »Netzkette«, »Wind«, »Geräusche«, »Vögel«, »Moltholmen«.

Stilvariation

Die mittleren Abschnitte des Romans sind anders erzählt. In den belebteren und moderneren Gebieten ist die Sprache weniger einfach und karg. Der Satzbau ist hypotaktischer, die Wortfelder nicht ganz so gewöhnlich, zwischenmenschliche Interaktionen treten stärker hervor. Der gewandelte Sprachstil zeigt sich etwa in der Szene, in der Ingrid mit ihrem Arzt im Atelier eines Fotografen ist: Der Fotograf

»führte sie in einen blühenden Apfelgarten mit einem Sonnenuntergang aus Pappe, der ganz hinten an der Wand befestigt war. Er forderte beide auf, eine Hand auf die Lehne des Sessels mit dem Gobelinstoff und den fein geschnitzten Verstrebungen und Beinen zu legen.« (S. 103)

Es wäre undenkbar, in der Sprache Barrøys Ausdrücke wie »Gobelinstoff« oder »fein geschnitzte Verstrebungen und Beine« vorzufinden. Der andere, moderne Raum aber lässt so etwas zu.

Im letzten Teil des Romans spielt die Handlung wieder auf Barrøy, wo das Leben dynamischer und geselliger als noch am Anfang wird. Jacobsen versprachlicht das durch die Schilderung von mehr Dialogen. Im Großen und Ganzen kehrt der Erzählstil aber konsequenterweise zum Beginn der Geschichte zurück, etwa an dieser Stelle:

»Sie rudern mit zwei Booten hinüber und kaufen Tonnen und Salz, lassen es von dem neuen Vorarbeiter mit dem seltsamen Aussehen anschreiben, dem Ingrid Daunen verkauft hat, drücken den Preis so weit wie möglich, sie brauchen Halbtonnen, der Kran auf Barrøy kann mehr nicht heben. Und am selben Nachmittag riegeln sie auf Ingrids Anweisung den Sund zwischen Moltholmen und einer der Lundeschären ab, setzen auch westlich der anderen Schäre Netze, sodass eine Art Trichter entsteht, oder ein halber Heringszaun, wie sie hier immer einen hatten.« (S. 246)

Keine wirklich neue Erzählung

Der Roman endet sowohl inhaltlich als auch sprachlich da, wo er begann – auch wenn am Ende alles ein bisschen freundlicher und schöner ist als am Anfang –, nämlich beim ebenso schlichten wie anstrengenden Leben auf der Insel Barrøy. Weil das auch genau der Punkt ist, wo schon Die Unsichtbaren anfing und aufhörte, kann man der Fortsetzung Weißes Meer zwar keinesfalls vorwerfen, das zu vernachlässigen, was den Vorgängertext auszeichnete, doch stellt sich die Frage, ob Jacobsens neuestes Werk sich hinreichend von seinem vorigen abhebt. Eine Kopie ist Weißes Meer nicht, denn die Entfernungsbewegung von Barrøy ist durch die tatsächlich neuen Aspekte Krieg und Liebe anders motiviert und sie ist auch länger und ausgeprägter als in Die Unsichtbaren. Aber es handelt sich bei Jacobsens neuem Roman eben keinesfalls in erster Linie um eine Erzählung über »ein schicksalhaftes Jahr der Weltgeschichte und eine außergewöhnliche Liebe«, wie es der Klappentext verspricht, stattdessen ist das zentrale Thema letztendlich das gleiche wie schon in Die Unsichtbaren, nämlich Sinnstiftung und Orientierung durch harte Arbeit und Heimat. Aber selbst wenn die Geschichte in ihrem Kern nicht wirklich neu ist: Gut erzählt ist sie allemal.

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