Langsames Entgleiten

Wer sind wir ohne unseren Namen oder unser bisheriges Leben? In Jana Volkmanns Roman Auwald entscheidet sich Judith dazu, beides abzulegen und in den Wald zu verschwinden. An dieser Stelle, wo die Sprache nur Notlösungen anzubieten hat, öffnet sich ein Raum für die Literatur.

Von Max Rauser

Bild: Via Pixabay, CC0

Das Verhältnis Mensch-Natur ist in der westlichen Kulturgeschichte anhand von gut bekannten Beispielen schnell zusammenfassbar: Robinson muss seine Umwelt noch kultivieren, Hölderlin und Emerson können sie schon pantheistisch verehren. Mit Into the Wild und auch Baptiste Morizots Philosophie der Wildnis erreicht Aussteiger-Romantik uns noch heute. In Auwald nimmt Jana Volkmann diese Tradition auf und positioniert sich gleichzeitig dagegen. Ihr Roman zeichnet die Rückkehr zur Natur anhand von Protagonistin Judith als Flucht vor Problemen nach, und stellt die Frage, ob solch eine Flucht gelingen kann.

Stille Verzweiflung

Judith lebt mit ihrer Freundin Lin in Wien und arbeitet als Tischlerin. Dabei kommen ihr die Materialien und andere Dinge näher als die Menschen um sie herum. Zu denen baut sie häufig nur wie von Hinterhoffenster zu Hinterhoffenster eine Bindung auf. Stattdessen warten für Judith Papierkörbe mit offenem Mund auf Müll, blinken Büroklammern herausfordernd, und benötigen Löffel noch Gabeln neben sich, um nicht so allein zu sein. Die Personifikation ist das vorherrschende Stilmittel in Auwald.

Judith, die sich schon früher »gerne verabschiedete«, spürt nun auch in der Beziehung zu Lin eine tiefe Distanz. Sie führt, mit dem geflügelten Wort des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau, »a life of quiet desparation«. Als dann eine Donaufähre auf dem Weg von Bratislava nach Wien spurlos verschwindet, wittert Judith ihre Chance, denn hätte ihr nicht eine Taschendiebin die Karte gestohlen, wäre sie auf dem Schiff gewesen. Nun weiß niemand, dass Judith noch da ist. Sie beschließt, wie Thoreau, ihr Heil im Rückzug in die Natur zu suchen, und stapft in den Auwald am Fluss.

»Ab sofort bin ich nur noch ich«

Auwald ist Jana Volkmanns zweiter Roman. Bereits in Das Zeichen für Regen lässt die Protagonistin ihr altes Leben zurück: Sie zieht nach Japan, um dort in einem Hotel zu arbeiten. In Volkmanns Kurzgeschichtenband Schwimmhäute durchleben die Protagonistinnen dagegen verschiedene Verwandlungen. Auwald kombiniert beide Themen, denn eine Verwandlung – wenn auch keine körperlich sichtbare – steht auch bei Auwald im Mittelpunkt. Dieses zentrale Ereignis ist im Prolog der ansonsten chronologisch erzählten Handlung vorangestellt: Judith flüchtet sich auf ihrer Wanderung vor einem Suchtrupp, der das verschwundene Schiff aufspüren soll, in einen langen Tunnel. Als sie auf der anderen Seite wieder herauskommt, trägt sie keinen Namen mehr, und will auch sonst nicht mehr die sein, die sie vorher war.

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Jana Volkmann
Auwald

Verbrecher Verlag: Berlin 2020
184 Seiten, 20,00€

Um dieses Zurückweisen der eigenen Persönlichkeit sprachlich darzustellen, wechselt Jana Volkmann Perspektive und Tempus: Ganz konventionell beginnt die Erzählung, indem man in der dritten Person und im erzählerischen Präteritum Einblicke in Judiths Innenleben erhält. Doch sobald die Handlung den Punkt erreicht, an dem Judith im Tunnel ihren Namen abstreift, springt das Tempus ins Präsens, und die Geschichte wird von dem übrigbleibenden Ich, das nicht mehr Judith ist, weitererzählt.

»Ein Höhlentier war ich nur vorübergehend«

Im Gegensatz zu Thoreau findet die nun namenlose Protagonistin sich selbst also nicht in der Natur, sondern verliert sich darin. So muss sie nach einigen Wochen des entkräftenden Überlebens fernab von allen Menschen den Weg zurück in die Stadt antreten. Sobald sie wieder unter Menschen ist, kippen die Szenen jedoch immer wieder ins Traumhafte.

So umgeben den stillen Robert, der Ex-Judith in seinem Haus zwischen den großen Koniferen aufpäppelt, ungeklärte Geheimnisse, und als sie nach Wien kommt, ist die Stadt wie ausgestorben. In den wenigen offenen Läden kann sie einfach nehmen, was sie braucht, und wieder gehen. Niemand achtet darauf. Es ist, als habe die Protagonistin im Tunnel die Grenze zu einer fremden Welt überschritten. Sie selbst scheint indes von der surrealen Stimmung kaum verwundert zu sein.

Unzuverlässiges Erzählen

Mit Fortschreiten der Handlung wird es immer auffälliger, wie ungerührt Ex-Judith auf merkwürdige Begebenheiten reagiert. Der Leere in Wiens Innenstadt will sie kein bisschen auf den Grund gehen, und als ihr der schwere Rucksack während eines Schwächeanfalls vom Rücken weggestohlen wird, ohne dass sie sieht von wem, macht sie danach keinerlei Anstalten, Rucksack oder Dieb:in ausfindig zu machen. Schon vorher verletzt sie sich im Wald am Fuß, sagt sich aber, es sei nur ein oberflächlicher Riss in der Haut. Das scheint angesichts des vielen verlorenen Blutes untertrieben. Und falls ihre Verletzung tatsächlich gravierender ist als angenommen, könnten Schmerz und Entkräftung auch später in Wien noch ihre (Selbst-)Wahrnehmung beeinträchtigen.

So wachsen langsam die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Erzählerin. Als Leser:in ist man aber auf ihre Perspektive angewiesen, um Informationen darüber zu erhalten, was geschieht. Auf diese Weise deutet Volkmann – in den erzählerischen Fußstapfen von Leo Perutz und anderen Vorbereiter:innen der postmodernen Literatur – mehrere Handlungen gleichzeitig an, ohne dass eine davon im Roman eindeutiger wahr ist als eine andere.

Vor allem der Ausgang der Romanhandlung gleitet ins Phantastische. Ex-Judith hat die inzwischen verlassene Werkstatt aufgesucht, in der sie früher arbeitete. Begebenheiten ihres vorherigen Lebens fallen ihr wieder ein, denn sie hat mit ihrem Namen nicht einfach alle Erinnerungen zurücklassen können. Da begegnet ihr vor der Werkstatt die Taschendiebin aus Bratislava, an die sie schon auf ihrem ganzen Weg durch die Donau-Auen wie an eine Heilsbringerin oder verlorene Geliebte gedacht hat. Die Taschendiebin führt sie in ein Loch hinein, das hinter einem Regal in der Werkstatt entsteht.

»…so als wären alle Wände weg.«

Jetzt, als die Ereignisse immer unwahrscheinlicher und ungesicherter erscheinen, springt das Tempus noch einmal – diesmal ins Futur. Für die Atmosphäre des Romans hat das wie zuvor tiefgreifende Folgen. Es wirkt, als würde die Erzählerinnenstimme die Bodenhaftung verlieren, zu schweben beginnen: »Wir werden uns beide auf die Couch setzen, denn es wird eine Couch geben. Wir werden hineinsinken und ein bisschen reden, dann schweigen, dann frage ich, wie es weitergeht.«

Was im Loch in der Wand geschieht, mit welchen Veränderungen die neuerliche Unterweltsfahrt für Ex-Judith verknüpft ist, erfährt man allerdings nicht mehr: Dieser Tunnel führt nun aus dem Roman hinaus. Zweifelhaft bleibt, ob ihre Flucht aus der Welt die Protagonistin schließlich in eine glücklichere Situation bringt, oder ob sie am Ende daran scheitert. Jana Volkmann entlässt die Leser:innen aus ihrem erzählerisch ambitionierten Roman geschickt ins Ungewisse.

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