Absurde Wirklichkeit

Am Eröffnungsabend des Göttinger Literaturherbstes stellt Andrej Kurkow im Alten Rathaus seinen historischen Kriminalroman Samson und das gestohlene Herz vor. Moderiert von Slawist Matthias Freise spricht Kurkow über den Alltag im sowjetbesetzten Kiew im Jahr 1919 und macht dabei die etwas schleppende Gesprächsdynamik durch seine engagierte Erzähllust wett.

Von Svenja Brand

Bild: Svenja Brand

Ein bisschen klingt die Entstehungsgeschichte von Kurkows Romanen um den jungen Milizionär Samson selbst wie der Anfang einer Kriminalgeschichte: Nachdem er 2017 seinen Roman Graue Bienen (russ. Originaltitel: Serye pčëly) beendet hat, erhält er einen Anruf. Eine Frau meldet sich und bittet Kurkow, ihr seine Adresse mitzuteilen: Sie habe ein Geschenk für ihn. Das Geschenk, das sie daraufhin vorbeibringt, entpuppt sich als eine Kiste mit Akten der Tscheka, des von den Bolschewiki gegründeten Geheimdienstes, aus den Jahren von 1919 bis 1927 – vielleicht könne Kurkow damit etwas anfangen?

Die Freude über den unerwarteten Kistenfund ist Kurkow ins Gesicht geschrieben, als er diese Anekdote erzählt. Und tatsächlich hat er mit den Akten eine ganze Menge anfangen können, immerhin ist Samson und das gestohlene Herz nach Samson und Nadjeschda (beide in deutscher Übersetzung aus dem Russischen im Diogenes Verlag erschienen) bereits der zweite Band des ukrainischen Autors, der sich der Geschichte von Samson im nachrevolutionären Kiew von 1919 widmet. Nachdem Protagonist Samson Koletschko im ersten Band eher zufällig von der Arbeiter-und-Bauern-Miliz, der neu gegründeten sowjetischen Polizei, angestellt worden ist und ohne jegliche Ausbildung in seinem ersten Fall ermittelt, geht es im zweiten Band um die Aufklärung eines Falls von illegalem Fleischhandel und die Entführung seiner Freundin Nadjeschda. Geprägt sind beide Bände aber vor allem durch die alltäglichen verwirrenden Neuerungen und unvorhersehbaren Machtwechsel im bürgerkriegsgebeutelten Kiew, mit denen Samson sich zu arrangieren versucht.

Absurde Wirklichkeit

Genau diese Alltagswirren liest Kurkow aus den Akten heraus, die vormals dem für den Geheimdienst tätigen Vater der Anruferin gehört haben: aus handschriftlichen Erklärungen der Verhafteten, die ihre Unschuld nachweisen mussten. Und absurder könnten die realhistorischen Alltagsumstände zwischen plötzlichen Einquartierungen und ungestraften Verbrechen, Schwarzmarkthandel und Hunger, unklaren Machtverhältnissen, falschen Diplomaten und Opportunismus kaum sein.

Tatsächlich steigern die von Kurkow in der Fiktion phantasievoll auserzählten Ereignisse und Figuren (insbesondere Samson, dessen von einem Kosaken abgeschlagenes Ohr weiterhin die Fähigkeit besitzt, alles zu hören – egal, wie weit entfernt von seinem Besitzer es sich befindet) den Eindruck skurriler Abwegigkeit noch. Dennoch liegt die Absurdität schon in den historischen Quellen begründet. So sehr, dass man an diesen Realismus manchmal gar nicht so recht glauben kann, wie Freise treffend meint.

Zwischen ihm und Kurkow kommt auf dem Podium keine richtige Dynamik zustande, die Fragen nach einzelnen Motiven und dem Plotverlauf zielen eher auf die Oberfläche der Handlung, als dass sie tiefer in Kurkows Roman oder dessen entstehungsgeschichtliche Hintergründe führten. Dennoch nimmt Kurkow die Fragen zum Ausgangspunkt, ausführlich und augenscheinlich mit Lust über die historischen Kontexte seines Romans zu sprechen. 

Wäsche- und Möbelerlasse

Kurkow erzählt vom Bürgerkrieg im ehemaligen russischen Zarenreich von 1918 bis 1921, davon, dass in der Ukraine die Dinge ungleich komplizierter gewesen seien als anderswo – »wie bei einer Matroschka-Puppe!« Hier standen sich nicht ›nur‹ Rote und Weiße Armee gegenüber, sondern gleich sechs unterschiedliche Armeen kämpften gegeneinander, jede mit dem Anspruch, die Zukunft der Ukraine zu bestimmen: »Das ist revolutionäre Kakofonie! Waffen wie Sand am Meer, Ordnung gibt es keine, Banditen und Räuber hundertmal mehr als früher!«, so beklagt sich ein Kollege von Samson auf der Polizeiwache in Samson und Nadjeschda.

Viermal wurde Kiew zwischen 1918 und 1921 von den Bolschewiki besetzt, und jedes Mal wurden in dem Zusammenhang neue Gesetze erlassen. Von ihnen berichtet Kurkow durchaus mit tragikomischem Humor: Über eine Unterwäsche- und Möbelsteuer etwa, nach der jede Familie ›überflüssige‹ Wäsche- und Möbelstücke an sowjetische Behörden abtreten musste. Sein »Lieblingsgesetz der Kommunisten« erklärt er ausführlich und mit schalkhaftem Vergnügen am Absonderlichen: Es erlaubte die Beschlagnahmung aller für das Wohnen nicht notwendigen Möbelstücke; pro Person durften ein Stuhl und ein Bett behalten werden sowie ein Schrank, ein Esstisch und ein Schreibtisch pro Familie. Auch sonst waren die Verhältnisse unsicher und unbeständig, wie Kurkow erzählt: Um der Durchsetzung der Erlasse durch Rotarmisten zu entgehen, demontierte die Kiewer Bevölkerung Straßenschilder und Hausnummern. Und auf die Zahlmittel war wenig Verlass, denn mit jedem neuen Machtwechsel änderten sich auch die zugelassenen Währungen.

Die drei Passagen, die Kurkow langsam und melodisch vorliest, handeln von rotarmistischer Willkür und Gewalt, einer grotesk anmutenden Schulung in angemessener Verhörtechnik, von Samson, der auf der Suche nach der entführten Nadjeschda durch das gefahrvolle, nächtliche Kiew irrt. Dabei ist das Vorgelesene trotz seiner inhaltlichen Brutalität durchsetzt von komischen Elementen: Als sich der Nichtraucher Samson und sein Kollege zu Übungszwecken gegenseitig Rauch ins Gesicht blasen sollen, um die qualvollen Gefühle eines Verdächtigen während eines Verhörs nachzuempfinden, lacht das Publikum laut ob des ausführlich geschilderten, aberwitzigen Vorgangs.

Dostojewski und Tolstoi sind nicht lustig

An Lesung und Gespräch schließen sich gleich mehrere interessierte Publikumsfragen an. Auf die unterschiedlichen Sprachen, in denen Kurkow je nach Genre seine Texte schreibt, hatte schon Freise in seiner Vorstellung des Autors hingewiesen. Nun führt Kurkow sein mehrsprachiges Schreiben genauer aus. Erste Gedichte habe er in seiner Muttersprache Russisch geschrieben, bald darauf auf Ukrainisch, dann auf Englisch, beantwortet er die Frage aus dem Publikum. Jede Sprache diktiere eine eigene Atmosphäre, und so seien ihm in seiner Jugend im Englischen alle Gedichte depressiv geraten, auf Russisch seien sie voller Absurdität gewesen und auf Ukrainisch lustig. Im Ukrainischen und der ukrainischen Literatur gebe es, so Kurkow, einfach eine andere Humorkultur als in der russischen Literatur. Nicht umsonst sei »der lustigste Schriftsteller«, der auf Russisch geschrieben habe – nämlich Gogol –, Ukrainer gewesen. »Dostojewski ist gar nicht lustig, oder Tolstoi«, lacht Kurkow und das Publikum lacht mit ihm.

Traurige Parallelen zur Gegenwart

Als Kurkow berichtet, dass seine in russischer Sprache geschriebenen Romane in der Ukraine nur mehr in sofortiger Übersetzung ins Ukrainische publiziert werden können, wird es ernster im Raum: Jetzt geht es um den Krieg in der Ukraine. Darum, dass viele junge Menschen künftig nicht mehr Russisch sprechen wollen werden, dass russischsprachiges intellektuelles Leben gegenwärtig fast gänzlich zum Erliegen gekommen sei. Sachlich erzählt Kurkow das, aber berührend wird es, als er davon spricht, dass er seit dem 24. Februar 2022 keine Prosa habe schreiben können. Ein neues Kapitel für den dritten Samson-Teil sei deshalb auch erst im August dieses Jahrs entstanden.

Die Zeit von 1918 bis 1921 sehe er jetzt mit anderen Augen, denn auch dieser Krieg sei ein Krieg um die ukrainische Unabhängigkeit gewesen – den die Ukraine verloren habe. Dass Kiew 1918 von der gleichen nordöstlichen Seite angegriffen wurde wie im Februar 2022, ist für Kurkow nur eine von vielen Parallelen der historischen und gegenwärtigen Lage. Obwohl sehr kompliziert, sei die heutige Situation aber sehr viel besser für die Ukraine. »Alle wissen, wofür wir kämpfen.« Es gehe wieder um die Unabhängigkeit, »aber jetzt gibt es Hoffnung, mehr als Hoffnung eigentlich. […] Es gibt nur einen Feind, es gibt keine sechs Armeen.«

Absurdität und Humor zeigen sich an diesem Abend im Alten Rathaus nicht nur in Kurkows Roman, sondern auch in der Art, mit der er fast amüsiert von den historischen grotesken Erlassen erzählt oder einzelne Passagen aus seinem Werk vorliest. So wird Humor auch als Modus deutlich, mit dem sich absurde Ereignisse ertragen und bewältigen lassen – historische wie gegenwärtige. Und die Lust und Lustigkeit, mit der Kurkow erzählt, laden zum Eintauchen in seine Romane ein.

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