Algen, in Lichtwellen wabernd

Die Gedichte in Anja Utlers Es beginnt. Trauerrefrain sind kurz, aber endlos ist der Prozess, um den es geht. Die Texte zeugen von Orientierungslosigkeit, aber völlig ohne Anker ist man nicht: Es beginnt mit dem Angriff auf die Ukraine und setzt sich in allen anderen persönlichen und gesellschaftlichen Verheerungen fort.

Von Frederik Eicks

Bild: via Pixabay, CC0

»Es beginnt der Tag« sehr oft – um genau zu sein 209-mal in den 209 Gedichten, laut Klappentext »locker an die Tradition des Haiku angelehnt«, die gemeinsam zu Anja Utlers mittlerweile sechstem Gedichtband werden. Titel: Es beginnt. Untertitel: Trauerrefrain. Der Refrain, das ist die Wiederholung des Satzes, mit dem der Tag immer wieder beginnt. Das heißt aber nicht, dass zwangsläufig mit jedem neuen »Es beginnt« ein neuer Morgen kommt. Ob die Gedicht- und Tagesanbrüche Manifestationen verschiedener, aber doch einander wesentlich gleichender Tage oder Iterationen einiger weniger Tage oder gar desselben Tags sind, ist erstaunlich egal, weil beide Lesarten auf dasselbe hinauslaufen: Die Zeit rollt sich aus, schnurrt zusammen, wird amorph und unscharf. Und der Raum, die Welt liegt hinter einem Schleier von Trauer, den sie nur mit Mühe durchbricht.

Es beginnt mit Licht

Die Trauer der Sprecherin, die man getrost mit Utler selbst identifizieren kann, ohne jedoch das Geschilderte ausnahmslos für ›echt‹ zu halten, hat ihre Ursache erklärtermaßen im Angriff Russlands auf die Ukraine. Der Krieg habe die promovierte Slavistin in eine »tiefe geistige und emotionale Krise« gestürzt, aufgrund derer wiederum der Band entstanden sei. Trotzdem sind die versammelten Gedichte – dem Untertitel gemäß – in erster Linie Gedichte der Trauer, kaum solche des Kriegs. So werden schon die ersten Verse bei allen, die trauern oder sich einst in Trauer befanden, auf Resonanz stoßen (ein für Utler durchaus zentrales Konzept, wie der den Gedichten beigefügte Essay Es beginnt, immer in Begleitung. Ein Plädoyer, auch die haarigen Gefühle zu denken verrät):

Es beginnt der Tag.   
Er ließ sich nicht umgehen.  
Die Pflanzen stranden
im Licht; reagieren

Das Licht, kurz darauf das »Urknall-Licht«, ist am Anfang allgegenwärtig, verschwindet dann, scheint ab und an nochmal durch. Dazwischen liegen Gedanken an solche, die »nicht tot sein müssten / es nicht dürften und es sind« – die ersten Kriegszeichen schleichen sich ein, es gibt »Ausgang für die schweren / Tiere«, mutmaßlich Marder- und Leopardpanzer, und dann ist auch ohne Klappentext und Essay klar, woraus die Trauer entspringt: Das Wort ›Krieg‹ muss außertextuell bleiben, aber die »spec- / operacija«, die Spezialoperation, wie der Krieg von offizieller russischer Seite genannt wird, gelangt hinein und ein »russ. Phil. fürchtet Säuberung«.

Es hört so bald nicht auf

Solche eindeutig zuordbaren Regungen sind in Es beginnt allerdings in der Minderheit. Viel zahlreicher, aber unscheinbarer sind die sachten Bewegungen, die Geist und Körper einer Trauernden vollziehen. Die Gedichte haben etwas Algenhaftes – sind den Lichtwellen des Tags ausgesetzt und wiegen sich in ihnen, darin ein Abwägen und Ausloten der eigenen Verfasstheit und der Verfassung der Sprecherin. Sie zeugen von Versuchen: In der Regel sind die Gedichte zwar vierzeilig und haben, zeilenweise, die Silbenzahl 5-7-5-7. (Der äußeren Form nach sind sie also etwas wie eine Mischform aus Haiku mit 5-7-5 und Tanka mit 5-7-5 7-7 Silben.) Aber zum einen kann die Silbenzahl geringfügig abweichen, zum anderen liegen einige Gedichte – mit eineinhalb, zwei, drei Versen – nur als Bruchstücke dieser kurzen Gedichtform vor. Besonders an diesen Stellen tritt der tentative Charakter, der dem gesamten Band innewohnt, deutlich zutage. Manche der Fragmente wirken wie Aufzeichnungen gescheiterter Versuche, indem sie in einem der nachfolgenden Gedichte im Wortlaut aufgegriffen, fortgesetzt und zu einem Abschluss gebracht werden – wobei es einen emphatischen Abschluss nicht geben kann, denn wenn es immer nur beginnt, heißt das auch: Es hört so bald nicht auf.

Der tiefe Eindruck des Nie-Endenden wird allen vertraut sein, die sich nicht völlig vom Weltgeschehen entkoppelt haben, da die Ereignisse, die solche Krisen wie die in Es beginnt dokumentierte auslösen können, nie abreißen. Das Kalenderjahr 2023: Im Februar erschüttert ein verheerendes Erdbeben Syrien und die Türkei (die übrigens weiterhin unbehelligt Rojava beschießt), im Verlauf des Jahres gibt es auch in Marokko und Afghanistan schwere Beben; sozusagen zeitgleich mit dem Erscheinen des Bandes im April beginnt der Krieg zwischen den SAF und den RSF im Sudan und treibt Millionen von Menschen in die Flucht, im Sommer dann immer wieder Berichte von den bis dato größten Waldbränden in Kanada und Griechenland – und im Herbst schließlich der Angriff der Hamas auf Israel und der israelische Gegenschlag. Und dann sind da ja noch – wie auch Utler im begleitenden Essay richtig bemerkt – die ganzen Kalamitäten, die hinter uns hinunterfallen: »Was mit all dem hier ungenannten Leid; was mit all dem überhaupt ungenannten Leid, was, was, was.«

(Mit-)Leid und Leid

Womit sich Utler, die unter anderem auch aus dem Russischen übersetzt, in diesem Essay (auch) befasst, ist die Frage, inwiefern persönliche Trauer angesichts solcher Krisen, von denen man selbst gar nicht direkt betroffen ist, überhaupt zu rechtfertigen sei. Der Vorwurf, der mitschwingt: Man eigne sich fremdes Leid an, rücke die eigene privilegierte Befindlichkeit in die Nähe des Leids derjenigen, die alles verloren haben. Utler habe die Gedichte deshalb zunächst gegen alle unmittelbaren Bezüge zum Krieg in der Ukraine abschirmen wollen: um zu vermeiden, missverstanden zu werden und sich auf Grundlage des Gedichtbands genau diesem Vorwurf ausgesetzt zu sehen. Als dieses Vorhaben scheiterte, sei der Entschluss zum begleitenden Essay gefallen.

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Anja Utler
Es beginnt. Trauerrefrain

Edition Korrespondenzen: Wien 2023
270 Seiten, 24,00 €

Dabei ließe sich doch auch umgekehrt argumentieren, dass es gerade falsch wäre, den Ursprung der Gedichte völlig zu verschleiern. Denn erst mit diesem Bezug eröffnet sich dem Band die Möglichkeit einer Perspektivierung, infolge derer die Texte (für die Leser:innen) aufhören, um sich selbst zu kreisen und anerkennen, dass da noch andere Menschen sind, deren Leid kaum vorstellbar ist. Erst das wäre anmaßend: über das eigene (Mit-)Leid das Leid der Mitmenschen ganz und gar vergessen. Die Offenheit, die programmatisch für den Gedichtband als Ganzes, nicht jedoch für jedes Gedicht als Einzelnes gilt, wiegt aber nicht nur in dieser Hinsicht zugunsten des feinen Buchs mit silbrig schimmerndem Einband. Sie trifft sich mit der Schlichtheit und Zurückgezogenheit, welche die Gedichte ausstrahlen. Hierin sind die Parallelen zur Haiku-Tradition auch eher zu sehen als in der Silbenzahl, die als Kriterium westlicher Haikus ohnehin angezweifelt wird, weil traditionelle japanische Haikus sich nicht nach Silben, sondern nach Moren richten.

Verlust des dichterischen Konzepts

In dieser Kombination entstanden sind Gedichte, die sich durch eine außergewöhnliche Zugänglichkeit auszeichnen, die nicht darin begründet ist, dass sich aus den einzelnen Texten problemlos ein handelsüblicher ›Sinn‹ herausziehen ließe, dessen häufiges Fehlen leider viele Menschen vor Lyrik zurückschrecken lässt. Utlers lyrisches Werk ist großartig, tendiert insgesamt betrachtet aber auch ins beinah Hermetische. Davon zeugen vorangegangene Bände, aber auch in Es beginnt finden sich Rückstände dieses Schreibens:

Es beginnt der Tag;   
so, dass feste Körper spült    
es strömen Flut; Kraft           
zu kondensieren=o

Vor dem Hintergrund der Reflexionen, die Utler im begleitenden Essay anstellt, lässt sich vielleicht der Unterschied von Es beginnt zu Utlers früheren Gedichtbänden etwas erhellen: Ihre persönliche Krise erkennt Utler im Verlust ihres »dichterischen Konzepts«. Zuvor habe sie der Lyrik die Funktion zugedacht, »die Schnittstelle zwischen mir und mir« zu bearbeiten. Im ersten Schritt würden Gedichte also für eine:n selbst geschrieben. Die so entstehenden »poetischen Resonanzflächen« allerdings habe Utler in einem zweiten Schritt »auch für prinzipiell relevant für andere« gehalten – daran hätten sich also Hoffnungen von gesellschaftlicher Relevanz geknüpft. Ihren »poetischen Kontrollverlust« nun erkennt die Lyrikerin darin, dass dieses Konzept keinen Halt oder Orientierung mehr ermögliche, keine Ankerpunkte selbst in der »irrlichternden Omnipräsenz« der »dunklen, mit Angst und Gefahr aufgeladenen Emotionen« sich finden ließen, weil es dafür eine »distanziert-evaluierende Position« brauche, die Utler ab Kriegsausbruch nicht mehr innehatte: »Ich fiel in meinen Trauerprozess und konnte mich nur noch an ihm entlangschreiben.«

Orientierungslosigkeit und Ankerpunkt

Diese Orientierungslosigkeit spiegelt sich völlig in Es beginnt. Damit sind sinnstiftende Bilder und raffende Beschreibungen, die man als Mittel für das Sprechen über den Text hinzuzieht, schon insofern irreführend, als sie Strukturen suggerieren, die der Text so nicht hat. Seine Haken schlägt der Text auf zu engem Raum, als dass man ihn als Ganzes zu fassen bekäme – es sind nur seine verschiedenen Zustände zu verschiedenen Zeitpunkten, die man da in Händen hält. Wie schon das Licht tauchen Dinge auf, verschwinden wieder, kommen nochmal wieder oder auch nicht. So gibt es eine Gruppe von Gedichten, welche die Songzeile »This is the hand, the hand that takes« von Laurie Anderson variieren. Eine Hand voll Gedichte spielt mit der populären Redewendung »Beam me up, Scotty«, nur wird aus Scotty »Gotty«. Hier sowieso, aber schon mit dem immer wieder beschworenen, kosmogonisch anmutenden Tagesanbruch sind religiöse Bezüge nicht von der Hand zu weisen – »im Würgewunsch es geb ein / gOtt«. Die »Regalmeter / voll Glaube, Liebe, Hoffnung« zeigen sogar direkt auf das Buch, das nur Buch heißen muss, auf den ersten Korintherbrief. Allerdings hilft auch göttliche Tugend nicht viel, wie kurz darauf ein Anagramm zeigt:

Es beginnt der Tag.   
Mixt a | b | e | g | l | u 
zu glaube. Dazu        
wie ich mich gierig ablueg

Die versuchenden, wiegenden, wägenden, schleifischen, schleifenden Bewegungen sind keine Schwäche von Es beginnt, denn sie lassen die Leser:innen nicht ganz ohne Halt: Einen Ankerpunkt, den unmissverständlichen Bezug zum Krieg, gibt es ja. Von hier aus lässt sich durch den Text navigieren, ohne dass damit einherginge, man könne diesen Anker nicht auch lichten, sich treiben lassen, im Wellengang dem Wabern der Algen folgen.

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