Bedingungslose Solidarität

Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always ist ein nüchternes und poetisches Plädoyer für weibliche Solidarität in einer Welt, in der noch die intimste Angelegenheit eine Ware ist. Durch tolle Darstellerinnen und eine zärtliche Kamera überzeugt der Film auch ästhetisch.

Von Fabio Kühnemuth

Bild: © 2020 Universal Pictures International

Das größte Kompliment, das man einem Berlinale-Film machen kann, ist, dass man während des Screenings die berüchtigt unbequemen Sessel des Friedrichstadt-Palasts vollkommen vergisst. Man muss sich daher von einem Film schon im Voraus so einiges versprechen, um sich überhaupt auf einen kniescheibensprengenden Besuch im zynisch benannten »Palast« einzulassen. Nun, beides trifft im Fall von Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always zu, der seine Premiere im Wettbewerb der 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin feierte und dort den Silbernen Bären, den Großen Preis der Jury, erhielt. Die Berlinale ist längst vorbei, doch ab morgen (11. Juni) wird Never Rarely Sometimes Always auch regulär im Kino zu sehen sein.

Nüchtern und poetisch

Never Rarely Sometimes Always

USA 2020
Regie/Drehbuch: Eliza Hittman
Kamera: Hélène Louvart
Mit: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Ryan Eggold, Sharon Van Etten

Die hohe Erwartungshaltung und die entsprechende Vorfreude entstanden insbesondere durch Hittmans vorangegangenen Film Beach Rats aus dem Jahr 2017, seines Zeichens eine der zweifellos interessantesten US-Independent-Produktionen der letzten Jahre. Und diese Erwartungen, so viel sei vorweggenommen, werden keineswegs enttäuscht. Wie bereits in Beach Rats gelingt es Hittman mithilfe ihrer kongenialen Kamerafrau Hélène Louvart hier erneut, triste zeitgenössische Realitäten poetisch einzufangen, ohne sie zu verklären oder zu romantisieren. Dabei wählt der Film auf den ersten Blick eine Kombination aus zwei vermeintlich herkömmlichen Themen, indem er das Subgenre des Teen-Pregnancy-Dramas mit dem Topos der jungen Ausreißerin in der großen Stadt zusammenbringt.

Bei dieser handelt es sich um die 17-jährige Autumn (großartig in ihrer ersten Filmrolle überhaupt: Sidney Flanigan), die im Niemandsland von Pennsylvania ein ziemlich ereignisarmes Leben zwischen Schule und Nebenjob an der Supermarktkasse führt. Die Monotonie wird jedoch abrupt unterbrochen, als Autumn ahnt, dass sie ungewollt schwanger sein könnte. Der Verdacht bestätigt sich schnell in einer lokalen Provinzklink. Die behandelnde Ärztin ist zwar fürsorglich, aber nicht neutral. Als sie Autumns Absichten wittert (»Are you abortion-minded?«), beschreibt sie in blumigen Worten das Wunder des Lebens und zeigt Autumn ein reaktionäres, uraltes und fast unfreiwillig komisches »Aufklärungsvideo«.

Kampf um Selbstbestimmung

Bemerkenswert ist, dass in der Folge aber eben nicht das Pro und Kontra von Pro Life vs. Pro Choice durchverhandelt und irgendwie zum Happy End gebracht wird, wie etwa im etwas konventionelleren, aber dennoch guten Juno (2007). Hittmans Film hingegen begleitet schlicht und ergreifend Autums auf ihrem Weg. Deren Entschluss, die Schwangerschaft abzubrechen, steht fest. Ihrem Vorhaben jedoch stehen zahlreiche Hürden im Weg: finanzielle, institutionelle, gesellschaftliche. Im eher konservativen Pennsylvania ist ein Schwangerschaftsabbruch für Minderjährige nur mit Zustimmung der Eltern legal. Von ihren Erziehungsberechtigten jedoch verspricht sich Autumn in dieser Angelegenheit keine Unterstützung. Die Mutter (gespielt von Singer-Songwriter Sharon Van Etten) liebt ihre Tochter, würde einem Schwangerschaftsabbruch jedoch niemals zustimmen. Und der namen- wie eigenschaftslose Stiefvater (Ryan Eggold) liebt den Familienhund sichtbar mehr als seine Stieftochter. So muss Autumn die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Gemeinsam mit ihrer Cousine Skylar (vielleicht die stärkste darstellerische Leistung des Films: Talia Ryder), die ebenfalls im Supermarkt arbeitet und dort sexuellen Belästigungen durch ihren Chef ausgesetzt ist, steigt Autumn in den Greyhound in Richtung des liberalen New York.

Gestrandet und als sichtbare Fremdkörper im Organismus der Großstadt werden sie auch dort schon bald mit distanzlosen, aufdringlichen und übergriffigen Männern konfrontiert. Überhaupt kommen Männer im Film nur als Störfaktoren oder aber notwendige Mittel zum Zweck vor. Vor Ort verkompliziert sich Autumns Situation weiter und es entwickelt sich eine kleine Odyssee durch ein feindliches New York. Vor der Klinik werden Autumn und Skylar von religiösen Abtreibungsgegner*innen beschimpft und darin müssen sie quälend lange warten. Im anschließenden Gespräch mit der Ärztin – eine Schlüsselszene, eindringlich und beinahe beklemmend eingefangen in langen, statischen Einstellungen – wird dann auch Autumns Vorgeschichte bzw. die Begleitumstände der Schwangerschaft offenbart. Und obwohl die Ärztin als liebevolle (Ersatz-)Mutterfigur gezeichnet ist, wird diese menschliche Anwandlung alsbald kontrastiert, als im Gespräch mit einem »Financial Advisor« erarbeitet werden soll, wie bzw. ob Autumn für die Kosten der Prozedur überhaupt aufkommen kann.

Alles ist eine Ware

Hier zeigt sich der zweite grundlegende Diskurs des Films: die absolute Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche von kapitalistischen Strukturen. Im Spätkapitalismus ist schlechterdings alles eine Ware (bzw. eine Dienstleistung) und noch die intimste Angelegenheit verkommt zum Geschäft. Die beiden mehr oder minder mittellosen jungen Frauen müssen das schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Hittmans Antwort auf dieses repressive System besteht in bedingungsloser (weiblicher) Solidarität. Skylar kümmert sich aufopferungsvoll um Autumn und trotz aller äußerer Hindernisse und innerer Uneinigkeiten halten die beiden fest zusammen. Und hin und wieder gibt es auch kleine Momente unschuldigen, unbeschwerten Glücks. Eine davon ist die vielleicht schönste Karaoke-Szene seit Sofia Coppolas Lost in Translation (2003). Eingefangen werden Höhen und Tiefen gleichermaßen zärtlich wie unsentimental von Hélène Louvarts Kamera. Manche konkreten Aspekte der Erzählung mögen vielleicht spezifisch amerikanisch anmuten, doch das Thema und die (Macht-)Mechanismen dahinter sind universell und in Zeiten des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche im Paragraphen 219a auch hierzulande von trauriger Aktualität.

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