Depression erfassen

Bov Bjerg schildert in Serpentinen eindringlich die Depression eines Vaters und dessen Angst, den eigenen Sohn im Stich zu lassen. Dabei werden gesellschaftliche Tabus gebrochen und gesellschaftlich relevante Fragen aufgeworfen, ohne dass der Roman den Leser*innen Antworten liefert.

Von Lisa Neumann

Via Pixabay, CC0

Ein Vater, der sich wünscht, er könne ein Kissen auf das Gesicht seines Jungen pressen und ihn im Schlaf von all den Problemen erlösen. Ein schlechter Vater? Ein guter Vater? Bov Bjergs Roman Serpentinen liefert genau darauf keine Antwort, kein erzählerisches Werturteil. Und genau das ist es, was dem Werk seine Lebendigkeit verleiht, was es so sensibel und empathisch mit diesem psychisch kranken Mann umgehen lässt, der ein erfolgreicher Teil unserer Gesellschaft ist, dessen heile Fassade intakt bleibt, während er innerlich bricht. Der Ich-Erzähler, ein unbenannter Professor der Soziologie und Freund von Frieder aus Bjergs Debütroman Auerhaus, verheiratet mit der jüngeren Juristin M., und erst in seinen späten Vierzigern noch Vater geworden, fährt mit seinem Sohn von Berlin ins Schwäbische Land, in dem er aufgewachsen ist.

Die Reise, so wird dem:der Leser:in klar, soll Klärung in die Familiengeschichte bringen, den erzählenden Vater beruhigen, doch stattdessen wirft sie immer mehr Fragen auf, besonders nach der Nazi-Vergangenheit des eigenen Vaters, dem sogenannten »Familienbla«, wie der Erzähler die kursierenden Geschichten über seine Familie nennt. Und sie führt zurück zu den Protagonist:innen von Auerhaus, wobei jedoch lediglich Frieder im neuen Roman eine Schlüsselrolle spielt.

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Bov Bjerg
 Serpentinen

Ullstein: Berlin 2020
 272 Seiten, 23,00 €

Serpentinen ist keine Fortsetzung von Auerhaus, sondern es werden die Themen Angst und Depression aus der Perspektive des jetzt erwachsenen Vaters eingehend vertieft. Dabei gelingt es Bov Bjerg, diese schwerwiegenden Themen in eindringliche, aber auch tröstende Worte zu fassen. Serpentinen ist kein bloßes Lesevergnügen, es ist Lektüre, die nachwirkt, lange nachdem sie beendet ist.

Warum nun das Kissen? Der Vater des Vaters hat sich umgebracht. Und dessen Vater auch. Und dessen Vater. Eine Suizidtradition, weitergegeben durch die Familie. Und genau durch dieses Trauma, das Verlassenwerden vom eigenen – wenn auch gewalttätigen – Vater, hat der Ich-Erzähler Angst. Angst, der Nächste zu sein, der die Reihe fortsetzt. Angst, seinen eigenen Sohn – ein Kind von etwa acht Jahren – bald im Stich zu lassen. Doch wenn er all dies beendet, schon beim eigenen Sohn stoppt, dann wäre die Kette durchbrochen:

Das würde sich nicht wiederholen. Die Tradition war hier zu Ende. Der Junge würde nicht ohne Vater sein, und er würde keinen Sohn haben, der ohne Vater war. Und. Das war die Auslöschung.

Eine kranke Logik, zugegeben, aber auch eine Logik, die in der Beschaffenheit seiner Krankheit, der Depression, dem »schwarzen Gott«, wie er sie nennt, absolut Sinn ergibt.

Offene Fragen

Was also tun, mit dem Sohn, für den Sohn? Versuchen, ein guter Vater zu sein. Und dies versucht der erzählende Vater mit all seiner Macht, dies gelingt ihm auch oftmals, doch selbst dann überwiegen die eigenen Vorwürfe, schlechten Erinnerungen und Selbstzweifel. Man hat Mitleid mit diesem Vater. Man mag ihn sogar, leidet lacht und weint mit ihm. Bov Bjerg schreibt Literatur, die bewegt, und Serpentinen wirft Fragen auf, die bewusst offen bleiben: Warum ist psychische Krankheit noch immer eines der größten Tabus in unserer Gesellschaft, obwohl so viele Menschen versteckt darunter leiden? Wie können wir dieses Schweigen brechen und Menschen adäquat helfen? Wie kann man seine eigene familiär bedingte genetische Veranlagung zu psychischen Krankheiten überwinden? Geht das überhaupt? Oder sollte man einfach lernen, besser mit Depression und Angst umzugehen?

All diese Fragen wirft der Roman auf, ohne sie belehrend oder moralistisch zu beantworten. Die Stärke von Bjergs Werk, wie mit dem Debütroman Auerhaus schon bewiesen, besteht nicht in dem, was erzählt, sondern in dem, was lediglich angedeutet wird.

»Worum geht es?«

Die zentrale Frage, die sich durch Serpentinen wie ein roter Faden zieht, und den Roman als literarisches Werk auf eine Metaebene hebt, ist: »Worum geht es? «Dies fragt der  Sohn den Vater in Bezug auf die ganze Reise, eine Reise von Berlin nach Baden-Württemberg ins Schwäbische, von der sich der Vater Aufklärung, aber vor allem eine Beruhigung des eigenen mentalen Zustands, erhofft. Worum geht es? Um die demente Oma und einen letzten Besuch bei ihr? Um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der ganzen Familie? Um die jetzige Familienbeziehung zwischen dem Sohn, dem Vater und seiner Frau M.? Um eine Aufklärung des Sohnes über das Schicksal der Väter, die jedoch erst am Ende des Buches  stattfindet? Um Abschied von Frieder, dem eigentlichen Protagonisten in Auerhaus, mit dem der Ich-Erzähler als Jugendlicher in einer wilden WG lebte, den er aber genau wie seinen Vater nicht vor sich selbst retten konnte? Also, worum geht es? Der Roman jedenfalls endet mit den passenden Worten: »Wie geht es jetzt weiter?«

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