In Blaue Frau erzählt Antje Rávik Strubel von Macht und der damit einhergehenden Ungerechtigkeit und erinnert damit an eine Realität, die viele Menschen kennen. Dabei macht sie die Emotionen der Hauptfigur für die Leser:innen auf bemerkenswerte Weise spürbar.
Von Benita Pangritz
Macht – etwas, das nur allzu ungleich verteilt ist, wie viele Menschen tagtäglich erfahren müssen. Wie wir einander in unterschiedlichen Machtverhältnissen wahrnehmen, das ist die Frage, der der Roman Blaue Frau von Antje Rávik Strubel auf den Grund geht. Dieser erzählt von Angst, von Verwirrung, tiefer Traurigkeit und Schmerz – und lässt Leser:innen dies auch spüren.
Adina hatte Träume und Pläne für die Zukunft. Endlich konnte sie aus ihrer Heimat Tschechien nach Deutschland reisen, neue Menschen treffen, die Sprache lernen und arbeiten, um für den nächsten Schritt ihres Planes zu sparen. Bis zu diesem Tag. Ab dem nichts mehr so war wie vorher; ab dem es nie mehr so werden konnte wie zuvor. Nach einem sexuellen Übergriff während eines Praktikums in der Uckermark flieht Adina aus Deutschland, nach Hause kann sie nicht und so strandet sie in Helsinki. Ihre Pläne für die Zukunft – vergessen. Nun sucht sie sich selbst und einen Ausweg aus der tiefen Einsamkeit, in die sie gezwängt wurde. Dabei trifft sie auf Leonides, einen estnischen Professor und EU-Abgeordneten, der sich für Menschenrechte einsetzt und sich in Adina verliebt. Doch während er gegen Diktaturen und für die Aufarbeitung der europäischen Geschichte kämpft, führt sie einen ganz anderen Kampf. Mit der Ungerechtigkeit der von Männern dominierten Welt, einem unfairen System; mit ihren eigenen Dämonen, diesem Käfig, in dem sie innerlich steckt – in den sie gesteckt wurde.
Eine zersplitterte Welt
Adina tritt bereits in einem anderen Roman von Antje Rávik Strubel in Erscheinung: In Unter Schnee begegnet sie den Leser:innen im Teenageralter. Fast 20 Jahre später fragte sich Strubel, was eigentlich aus Adina geworden ist, wie sie in einem Interview mit der FAZ betont. Nun begleiten die Leser:innen Adina im jungen Erwachsenenalter auf ihrer Reise, bei ihrem Kampf, bekommen Einblicke in ihre Vergangenheit und erfahren, wie Adina letztendlich in Helsinki gelandet ist und wie es für sie weiter geht. In dem mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichneten Roman erzählt Strubel nicht nur von Abgründen, sie zeigt sie, sie macht sie spürbar. Da der Schreibstil sich am inneren Zustand Adinas orientiert, wechselt dieser von konfusen, zusammenhangslos wirkenden Gedanken zu einer klaren, strukturierten Erzählung – oder andersherum. Denn Adina muss sich nun ihre Welt neu zusammensetzen.
Was auf Leser:innen zunächst verwirrend wirken mag, und damit den Einstieg in die Geschichte erschwert, setzt sich jedoch zu einem Bild zusammen, das in seiner Gesamtheit Sinn ergibt. Und mehr noch – es berührt. Es verletzt. Es verärgert. Leser:innen werden langsam in die Gefühlswelt und das Leben einer jungen, traumatisierten Frau gezogen, und das auf eine Art, die es schwer macht, das Buch zur Seite zu legen. Es ergeben sich immer neue Fragen: Was genau ist mit Adina passiert, wie landete sie in dem Plattenbau in Helsinki, in dem die Geschichte einsetzt, und was wird sie tun? Und was hat es eigentlich mit der titelgebenden Blauen Frau auf sich? Die Art, wie Strubel gesellschaftliches Versagen und persönliche Abgründe thematisiert und darstellt, ist beeindruckend. Gekonnt verknüpft sie hoch relevante Themen mit einer Geschichte, die bewegt.
Traurige Realität
Antje Rávik Strubel
Blaue Frau
Fischer: Frankfurt 2021
432 Seiten, 24,00€
Mit Blaue Frau hat Strubel einen Roman über eine Realität geschaffen, die so viele betrifft: Zum Schweigen gebracht, unsichtbar gemacht von einer patriarchalen Gesellschaft, geringe Chancen auf Gerechtigkeit in einem Rechtssystem, das sich noch lange nicht genug für die Sicherheit, die Grundrechte von Frauen interessiert. In einem System, das einem Mann noch immer mehr Glauben schenkt als einer Frau. In Deutschland, einer westlichen Demokratie, von der behauptet wird, sie sei fortschrittlich und fair, erfasste das BKA allein für das Jahr 2019 über 9000 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen, die meisten davon an Frauen begangen, und das sind nur die Fälle, die auch zur Anzeige gebracht wurden. Zu einer Verurteilung kommt es in Deutschland nur selten.
Adina, die sich weder als Frau noch als Mann sieht; die viele verschiedene Namen trägt, die sie sich selbst oder andere ihr gegeben haben, versucht, damit umzugehen. Versucht, Gerechtigkeit zu finden. Als Teenagerin gab sie sich in einem Chatroom den Namen »Der letzte Mohikaner« – eine Identität, die ihr Kraft gibt, vielleicht nicht zuletzt, weil es sich hierbei scheinbar um einen männlichen Charakter handelt. Er hilft ihr, macht sie stärker und hat vielleicht als Mann eine größere Chance auf Gerechtigkeit. Die Hilflosigkeit, die Ungerechtigkeit und diese Hoffnungslosigkeit, die Adina fühlt und der sie zu entkommen versucht, spüren auch die Leser:innen. Diese Realität macht wütend, und das sollte sie auch.