»Eine völlig normale Geschichte«

Zwischen stiller Selbstbehauptung und zarter Verzweiflung entsteht in Die Wand am Deutschen Theater Göttingenein Spiel über Autonomie, Fürsorge und das fragile Gleichgewicht zwischen Mensch, Natur und Geist. Dabei wird Marlen Haushofers Klassiker zur Reflexion über Zivilisation, Isolation und die philosophische Frage, was bleibt, wenn die Welt zum Schweigen gebracht ist.

Von Sofia Peslis

Bild: Deutsches Theater Göttingen (Fotograf: Anton Säckl)

Im Deutschen Theater Göttingen verwandelt sich die Bühne des dt.2 für knapp zwei Stunden in ein stilles Experiment über Isolation und Wahrnehmung. Daniel Foersters Inszenierung von Die Wand nach dem Roman von Marlen Haushofer legt dabei den Fokus auf das, was unsichtbar bleibt. Gemeinsam mit dem Publikum, das in den ersten zwanzig Minuten selbst Teil des Bühnenraums ist, entfaltet sich ein beklemmendes Kammerspiel über eine Frau, die nach einer rätselhaften Katastrophe durch eine unsichtbare Barriere von der Welt getrennt wird. Die ›Wand‹ selbst erscheint kaum – und doch prägt sie jede Bewegung, jedes Wort, jede Stille.

Wir atmen dieselbe Luft

Die Erzählung beginnt nicht im Stillstand, sie entsteht im geteilten Raum der unteren Bühne, in einem Moment seltener Gemeinsamkeit. Das Publikum wird in den geschlossenen Spielraum gebeten, steht dicht gedrängt zwischen ein paar Stühlen und den drei Schauspielenden, umgeben von fast zu grellem Licht und beinahe greifbarer Stille. Für etwa zwanzig Minuten gibt es keine sichtbare Grenze, keine Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne. Schauspielerin Marie Seiser, im Stück die namenlose Frau, bewegt sich zwischen den Anwesenden, spricht mit ihnen, beobachtet sie, lässt kurze, unsichere Begegnungen entstehen. Ihre Anonymität entzieht sie der Eindeutigkeit, macht sie zur Figur des Allgemeinen, in der das Menschliche selbst betrachtet werden kann. Es ist ein Beginn, der weniger erzählt als er spürbar macht. Eine Versuchsanordnung über Nähe, Aufmerksamkeit und das Verhältnis zwischen Mensch und Raum.

Nachdem die einleitenden Worte verklungen und die Umrisse ihrer Geschichte sichtbar geworden sind, beginnt die eigentliche Bewegung des Stücks. Als die Protagonistin dann in der Wildnis eine Kuh findet, das erste Lebewesen außerhalb des Hundes Luchs, welcher ihr am Abend vorher aus dem Wald zugelaufen kam, verschiebt sich die Atmosphäre spürbar. Der Moment des Erkennens, dass Leben fortbesteht, wenn auch in anderer Gestalt, durchzieht den Raum wie ein kurzer, fast ehrfürchtiger Atemzug. Es ist der Augenblick, in dem das Stück seine Richtung ändert: Die Gemeinschaft des Raumes verwandelt sich in das Bewusstsein von Vereinzelung. Noch steht das Publikum beisammen, ist Teil derselben Welt – für einen letzten Moment, bevor es von ihr getrennt wird.

Wenn die Stille Gesellschaft bekommt

Erst als hinter den Zuschauenden die Wand herabfällt, wird Trennung sichtbar. Aus Mitspielenden werden Beobachtende, aus geteilter Nähe wird Distanz. Ein plötzlicher, fast erschreckender Bruch. Nebel zieht über den Raum, die Sicht verschwimmt, und für einen Moment weiß niemand genau, wo Bühne und Zuschauerraum enden. Stimmen und Bewegungen verlieren ihre Richtung, bis sich allmählich eine neue Ordnung einstellt: Das Publikum nimmt Platz – die Frau bleibt allein. Gerade in dieser abrupten Trennung liegt die eigentliche Ruhe des Abends. Die Grenze erscheint nicht als dramatischer Effekt, sondern als Übergang in einen anderen Zustand, unmerklich vorbereitet und doch schlagartig vollzogen. Von nun an existiert die Wand weniger als physisches Hindernis, sondern als Erinnerung, als etwas, das weiterlebt in der Sprache und im Bewusstsein. Die Protagonistin sagt, sie denke oft gar nicht mehr an die Wand, als hätte sich ihre Existenz in eine innere Haltung verwandelt. Die Barriere bleibt unsichtbar, aber spürbar, Ein Gedanke, der das Stück prägt: Wenn eine Grenze vergessen wird, wo verläuft sie dann – draußen oder in uns? Vielleicht ist sie längst Teil des Menschen selbst geworden?

In dieser neuen, stillen Welt treten verschiedene Tiere auf, gespielt von Lou von GündellundGerd Zinck, die mit minimalistischer Präzision ganze Lebensformen entstehen lassen. Eine Kuh, ein Stier, eine Katze, ein Hund: Gesten, Atem, Körperrhythmus genügen, um die Bühne zu bevölkern. Das Spiel vermeidet jede Imitation und sucht stattdessen nach dem Zwischenraum: zwischen Mensch und Tier, Realität und Projektion. Es bleibt dabei offen, ob die sprechenden Tiere tatsächlich Teil der äußeren Handlung sind oder nur in der Vorstellung der Frau existieren. Immer wieder scheinen ihre Stimmen aus einem inneren Raum zu kommen als Echo von Erinnerungen, als Projektionen eines Bewusstseins, das sich selbst Gesellschaft leistet. So wird die Stille der Welt durch ihre Stimmen gebrochen und doch bleibt alles Teil desselben Bewusstseinsraums. Die Tiere sprechen, weil sonst niemand mehr antwortet. In ihrer Anwesenheit entsteht eine Gemeinschaft, die an die Stelle der »alten Welt« tritt. Die titelgebende Wand mag aus dem Bewusstsein verschwunden sein, doch ihre Wirkung bleibt: als innere Grenze, die das Menschliche von allem anderen trennt und doch unaufhörlich danach greifen lässt.

Wo Nähe reißt

»Ein Mensch kann niemals Tier werden, er stürzt am Tier vorbei in den Abgrund.«

Dieser Satz wirkt wie ein heimlicher Kommentar zur Beziehung der Frau zu ihren Tieren. Zwischen ihr und den Lebewesen, die sie umgeben, entsteht eine stille Gemeinschaft, getragen von Gewohnheit, Zuwendung und gegenseitiger Abhängigkeit. In dieser kleinen Ordnung liegt Trost, vielleicht sogar Sinn. Doch die Nähe, die sie aufbaut, bleibt immer prekär – eine Verbindung, die nur so lange hält, wie die Welt um sie stillsteht.

Als schließlich ein Mann auftaucht und den Hund wie auch den Stier tötet, bricht die Stille endgültig auf. Mit ihm kehrt die Gewalt zurück, die das Stück lange nur umkreist hat: Die Gewalt des Menschen. Der Überlebensraum, den die Frau sich geschaffen hat, wird mit einem Schlag entweiht. Sie reagiert, indem sie sich wehrt, entschlossen, aber nicht grausam. Ihre Handlung ist keine Spiegelung seiner Brutalität, sondern eine Grenzsetzung. Sie tötet, um zu überleben, nicht um zu vernichten. In dieser Reaktion liegt die vielleicht menschlichste Bewegung des Abends: die Verbindung von Selbstschutz und Bewusstsein, von Handlung und Schmerz. Doch was folgt, ist keine Erleichterung, sondern Trauer. Eine menschliche, bewusste Trauer, die das Geschehen übersteigt. Sie trauert nicht nur um die Tiere, sondern um den Verlust des Vertrauens, dass Nähe ohne Gewalt möglich ist. In dieser Trauer liegt das letzte, vielleicht tiefste Zeichen von Menschlichkeit: das Wissen um die eigene Grenze. Was bleibt, ist kein Rückzug in eine heile Wildnis, sondern ein stilles Urteil über die Zivilisation, dass sie im Menschen fortbesteht, selbst dort, wo sie längst vergangen scheint. Spürbar wird das in ihrer stillen Art zu handeln, in der Sprache und Nachdenklichkeit einer Figur, die selbst im Verlorensein noch Maß und Haltung wahrt.

Akzeptanz als Bewegung

Foersters Inszenierung verzichtet auf jede Form des Spektakels. Die Frau findet ihre Stärke nicht im Ausbruch, sondern im Bleiben. Ihr Überleben gründet auf Routinen, Fürsorge und stiller Beharrlichkeit. Gerade darin liegt ihre Selbstermächtigung: in der Weigerung, die Einsamkeit als Scheitern zu begreifen. Die Welt ist zum Schweigen gekommen, doch sie lebt weiter. Was Haushofer als mögliche Zivilisationskritik oder feministische Selbstbehauptung anlegt, bleibt auch in dieser Inszenierung spürbar. Dennoch wirkt das Stück in seiner Reduktion persönlicher, unmittelbarer – weniger These als Erfahrung. Es ist nicht nur ein Kommentar über Gesellschaft, sondern über das Menschsein selbst: über Akzeptanz, die keine Resignation ist, sondern ein bewusster Zustand. Am Ende steht kein lauter Abschluss, sondern ein leises Offensein. Die Geschichte endet, viele Fragen bleiben unbeantwortet und wirken nach.

Man könnte sich vorstellen, wie daraus eine siebenteilige Streaming-Serie entstünde, sorgfältig ausgeleuchtet, mit langen Kamerafahrten durch die Einsamkeit. Wahrscheinlich würde sie sich irgendwo zwischen Selbstfindung und Survivaldrama einpendeln, untermalt von melancholischer Indie-Musik. Und doch läge darin die Gefahr: Als Serienkonzept wäre Die Wand vermutlich zu glatt, zu sehr auf Auflösung getrimmt. Auf der Bühne dagegen darf das Offene bleiben. Das Stück funktioniert, weil es sich nicht erklären muss, weil das Unfertige, das Leise und Unbestimmte hier nicht als Mangel, sondern als Wahrheit empfunden wird und bereitet den Moment vor, in dem eine andere Stimme das letzte Wort übernimmt: Das Schlusswort spricht die Katze. Ihre Stimme ist ruhig, fast milde, und doch durchdrungen von einer Klarheit, die jenseits des Menschlichen liegt: »Mach dir keine Sorgen – alles wird vergebens gewesen sein – wie bei allen Menschen vor dir. Eine völlig normale Geschichte.« Diese letzten Worte sind zugleich Trost und Urteil. Dass sie von einem Tier kommen, hebt sie aus der Perspektive des Menschlichen heraus, sie klingen wie das Fazit einer anderen, gelasseneren Existenzform. In ihnen steckt keine Verzweiflung, sondern Erkenntnis: das Wissen, dass Vergeblichkeit und Weiterleben untrennbar verbunden sind. Vielleicht ist das die letzte Wahrheit dieses Abends, dass Sinn nicht im Durchbrechen, sondern im Aushalten liegt.

Das Stück ist am 23. Oktober sowie am 29. November erneut im Deutschen Theater Göttingen zu sehen.

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