Erneut überrascht das DT Göttingen mit ungewöhnlichen Settings für Lesungen. Am 17. Dezember erhielt Nino Haratischwilis Roman Das achte Leben (für Brilka) im Städtischen Museum eine Bühne. Vorgetragen wurde von den Schauspielerinnen Andrea Strube und Gaia Vogel.
Von Nicole Morasch
Bild: By Surprizi via Wikipedia, gemeinfrei
Mit dem Literarischen Hausbesuch bereichert das Deutsche Theater das literarische Leben in Göttingen – und sorgt mithilfe von wechselnden und ungewöhnlichen Veranstaltungsorten für eine intime Atmosphäre. Sei es an öffentlichen Plätzen innerhalb der Stadt, die somit in ein neues Licht getaucht werden, oder in Privaträumen von Freiwilligen, die den Lesungszauber in ihr eigenes Wohnzimmer bringen: In diesem Format verwandeln Schauspieler*innen des DTs Texte in eine gemeinsame Erfahrung und ergänzen das individuelle Lesen um eine kollektive Begegnung in einem Interaktionsraum.
Am Dienstagabend traf sich die zirka 15-köpfige Zuhörer*innenschaft vor dem DT, gespannt auf den Veranstaltungsort, der bis zur Ankunft geheim gehalten wird. Die einzige Vorabinformation: Andrea Strube und Gaia Vogel, beide Schauspielerinnen am DT, lesen aus dem georgischen Familienepos Das achte Leben (für Brilka), das von Nino Haratischwili geschrieben worden ist. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr der Roman während der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2018, in dem Georgien als Gastland im Fokus stand. Geprägt durch Haratischwilis poetische Verflechtungskunst von raum- und zeitübergreifenden Handlungssträngen, erzählt der Roman, wie die georgische Familie Jaschi zwei Weltkriege, die sowjetische Vorherrschaft und die Öffnung gen Westen erlebt und überlebt. Und inmitten all der Tragödien erhalten verlorene Träume und Lieben besondere Aufmerksamkeit. Welcher Ort in Göttingen kann diesem Roman eine Bühne bieten?
Das Städtische Museum als literarischer Raum
Nino Haratischwili
Das achte Leben (Für Brilka)
Ullstein Verlag: Berlin 2017
1280 Seiten, 18,00€
Ein kurzer Spaziergang verrät: das Städtische Museum öffnet seine Pforten für uns. Andächtig sitzen wir in einem der frisch restaurierten Ausstellungsräume, über uns ein hölzernes und goldig verziertes Marienbildnis, das als Wandbild einen Ausdruck christlicher Ikonografie darstellt. Die Kulisse spielt auf die Sonderstellung der christlichen Orthodoxie innerhalb der georgischen Gesellschaft an, die mit viel Macht und Einfluss die Menschen in ihrem Weltbild prägt. In der Mitte befindet sich ein Tisch, bestückt mit einer traditionellen weiß-bunten Spitzendecke, an dem uns Strube und Vogel erwarten.
Die Schauspielerinnen beginnen, spielen im Dialog mit den Textpassagen; zunächst darf die Zuhörerschaft lauschen, wie sich der Prolog entfaltet. Die Protagonistin Niza, die als Erzählerin des Romans fungiert, wird durch die Ausdrucksstärke der Schauspielerinnen zum Leben erweckt. Gleichzeitig lernen wir Nizas 12-jährige, titelgebende Nichte Brilka kennen, die eigenständig und unerlaubt nach Wien gefahren ist. Die Erzählerin ist auf der Suche nach ihr, eigentlich um sie in die georgische Heimat zurückzubringen. Doch dabei bleibt es nicht: Brilka wird zur Adressatin des Romans auserkoren. Nur ihretwillen erzählt Niza der Leser*innenschaft die Romangeschichte und damit auch ihre eigene, damit beide sich vom Ballast des Tragischen befreien und Brilka ihren unabhängigen Lebensweg wählen kann. Durch den vorgelesenen Abschnitt erahnen wir bereits die familiären Schicksalsschläge; Brilka reist auf den Spuren ihrer Urgroßtante, einer erfolgreichen Sängerin im Westen, die als Landesverräterin von der Familie verstoßen wurde.
Und während die Zuhörer*innen in die Welt der Figuren eintauchen, schaffen es Strube und Vogel, dass an keiner Stelle der Lesung Monotonie auftritt. Im Dialog schlängeln sich ihre Stimmen durch den Text und sorgen manches Mal für Schmunzeln und Seufzen beim Publikum.
Ein voluminöses Werk, verkürzt dargestellt
Zu schnell war das Ende erreicht. Der vorgelesene Prolog des Romans war gleichzeitig auch schon der Abschluss des Abends. Schade. Denn so ganz rund wirkte das nicht. Der Roman wurde zwar sanft angeschnitten und würdig im Städtischen Museum präsentiert, jedoch wirkte der Auftritt verkürzt, leicht abgehackt. Die Fülle an spannenden Figuren und meisterhaft erzählten Passagen sowie die Art, wie Haratischwili das Innenleben der Charaktere mit gesellschaftlichen Ebenen verknüpft, hätten von den schwungvollen Stimmen der beiden Schauspielerinnen stärkeren Ausdruck verdient gehabt.