Introvertiertheit – eine Schwäche?

Mit Quiet Girl traut sich Debbie Tung, das Thema Introvertiertheit anzusprechen, das häufig als Tabuthema behandelt wird. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, dabei sowohl humorvoll als auch kritisch ist und dessen liebevoll gestaltete Schwarz-Weiß-Zeichnungen eine wichtige Message transportieren.

Von Sidney Lazerus

Bild: Via Pixabay, CC0

Debbie Tung ist Cartoonistin und Illustratorin aus Birmingham, England. Ihre Comics zeigen meist schlichte Alltagsmomente und ihre Liebe für Tee und Bücher. Ihr neustes Werk Quiet Girl – Geschichten einer Introvertierten ist ein tiefgründiges und empathisches Buch, das eine neue Perspektive eröffnet und eine wichtige Botschaft vermittelt.

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Debbie Tung
Quiet Girl

Loewe Verlag: Bindlach 2022
184 Seiten, 15,00€

Die Protagonistin, die junge Studentin Debbie, ist gerne alleine und empfindet es oft als anstrengend und kräftezehrend, wenn sie von vielen Leuten umgeben ist. Sie hat eine große Liebe zu Büchern und Tee und liebt es, es sich zu Hause gemütlich zu machen. Die Leser:innen dürfen Debbie ein paar Jahre ihres Lebens begleiten: von ihrer Studienzeit, in der sie ihre große Liebe Jason kennenlernt, bis hin zur Hochzeit und ihrem ersten Job. Es ist keine fortlaufende Geschichte, sondern es werden vor allem einzelne Alltagssituationen in Debbies Leben herausgegriffen. Sie zweifelt ständig an sich und denkt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, da sie anders ist als die anderen. Am Ende lernt sie, sich so zu akzeptieren, wie sie ist und wird glücklich.

Eine andere Perspektive

Der Comic-Roman eröffnet eine eher ungewohnte Perspektive, da selten über die Gefühle Introvertierter gesprochen wird. Debbie raubt es viel Energie, wenn sie länger unter Menschen ist, und sie braucht danach Zeit, um ihre sozialen Batterien wieder aufzuladen. Sie steht unter ständigem Druck, die Erwartungen Extrovertierter erfüllen zu wollen und wünscht sich sehnlichst, ihr würde es genauso leichtfallen, mit anderen Menschen zu reden. Mögen sie mich? Wirke ich unnahbar? All dies sind Gedanken und Sorgen, die ihr dauernd im Kopf umherschwirren. Ihr ist es unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen und sie fühlt sich immer von allen beobachtet. Wenn sie leidenschaftlich über ein Thema spricht, das sie begeistert, befürchtet sie danach, zu viel preisgegeben zu haben und fühlt sich verletzlich, da sie Angst hat, nun langweilig oder eigenartig zu wirken. Debbie kämpft fortlaufend mit Unsicherheiten und grundlegenden Zweifeln an sich, was zu innerer Zerrissenheit und Selbsthass führt. Diese Gefühle werden im Comic, neben den Einblicken in Debbies Innenleben, auch durch Mimik und Körperhaltungen dargestellt.

Bist eher eine Leise was?

Bloß lächeln. Erwürg ihn nicht.

Tung bedient sich feinfühligem Humor, um die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin darzustellen, etwa als Debbie sich riesig auf ihr Wochenende freut, da sie vorhat, absolut nichts zu tun. Ihr gelingt es hervorragend, eine gute Balance zwischen Witz und Kritik eines eigentlich eher ernsten Themas zu finden. Sie appelliert indirekt an mehr Verständnis für Introvertierte, denn Extrovertierte werden schließlich auch nicht mit Fragen wie »Warum bist du denn so laut und redest so viel?« konfrontiert. Gerade durch die häufig gehörten Aufforderungen wie »Komm doch mal aus dir heraus!« entsteht bei Introvertierten schon von klein auf der Eindruck, dass es nicht in Ordnung ist, still zu sein; dass man extrovertiert sein muss, um dazuzugehören, was sich negativ auf das Selbstbewusstsein ausübt. Introvertiertheit ist aber nicht schlechter als Extrovertiertheit und kein Grund für einen weniger respektvollen Umgang. Die zwanghaft versuchte Anpassung Debbies führt zur Entfremdung von sich selbst. Sie fühlt sich unverstanden und nicht ernst genommen.

Text und Illustration: Debbie Tung. Für die deutschsprachige Ausgabe © 2022 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Eine wunderschöne Message

Quiet Girl demonstriert, dass auch introvertierte Menschen sich so akzeptieren und lieben lernen sollten, wie sie sind. Tung entwickelt einfühlsam einen Lösungsansatz für die Schwierigkeiten, mit denen sich Introvertierte konfrontiert fühlen und macht deutlich: Ein introvertierter Charakter ist nichts Unnormales, auch wenn Introvertierte eher die Minderheit der Gesellschaft ausmachen. Auch wenn das Leben für sie häufig schwerer ist in der heutigen schnelllebigen und kommunikativen Gesellschaft, in der es oft um Oberflächigkeit und Selbstdarstellung geht, können Introvertierte glücklich werden, wenn sie aufhören, sich mit anderen zu vergleichen und sich selbst runterzuziehen. Als Debbie durch Recherche erfährt, dass sie nicht die einzige Introvertierte ist und dass sie weder krank noch komisch ist, ist dies eine große Erleichterung und eine lebensverändernde Befreiung für sie. Sie fühlt sich nicht mehr allein und leer und beginnt, sich selbst auf einer tieferen Ebene zu verstehen und anzuerkennen. Sie versteht: Es ist okay, lieber zu denken, als zu reden.

Normal sein – ein Ratgeber für Introvertierte

Stufe eins: Lass es sein. Du bist perfekt, wie du bist.

Die Grafiknovelle ist sehr lesenswert, sowohl für Introvertierte, die sich in vielen der Alltagssituationen wiederfinden und leicht mit Debbie identifizieren werden können, als auch für Extrovertierte, um ihre introvertierten Mitmenschen in Zukunft besser verstehen zu können und sensibler für dieses Thema zu werden. Quiet Girl hat auch eine aufklärerische Funktion und hilft, Vorurteile abzubauen. Viele Menschen sind nämlich nicht nur intro- oder nur extrovertiert. Beides sind eher graduelle Begriffe und müssen auf einer Skala betrachtet werden. So sieht man auch bei Debbie, dass sie bei Menschen, denen sie voll und ganz vertraut, wie es bei Jason der Fall ist, sehr viel entspannter und ungezwungen sein kann. Jason akzeptiert Debbie so, wie sie ist und nimmt Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, sodass sie sich nicht verstellen muss. Bei ihm kann sie so sein, wie sie ist, denn das ist alles, was sie sich wünscht.

In der Ruhe liegt die Kraft?

Es zeigt sich auch, welche Stärken in der Introvertiertheit liegen: Introvertierte Menschen scheinen oft ein besonderes Gespür für Gefühle anderer Menschen zu haben, besitzen Mitgefühl, sind aufmerksame Zuhörer:innen und loyal. Debbie wird außerdem ein hohes Konzentrationsvermögen und Kreativität zugeschrieben, denn dadurch, dass Introvertierte sich viel mit ihren Gedanken beschäftigen, sind sie im Denken sehr geübt. Sie verstehen andere Menschen häufig auch ohne viele Worte, nur durch Beobachten. Viele dieser Eigenschaften sind im oftmals oberflächigen 21. Jahrhundert eher rar. Es gibt folglich keinen Grund, warum introvertierte Menschen ein geringes Selbstwertgefühl haben sollten, was die Autorin eindrucksvoll beweist.

In stiller Stärke liegt große Schönheit.

Der Comic-Roman liest sich leicht und rasch, da die liebevoll-gestalteten Zeichnungen, die vorwiegend die Geschichte erzählen, eine:n dazu verleiten, immer weiter blättern zu wollen. Als Leser:in kann man sich gut in die Protagonistin einfühlen, da immer ihre Gedanken und Gefühle im Vordergrund stehen und der Zeichenstil trotz seiner Schlichtheit sehr lebendig und authentisch die Emotionen transportiert. Die Protagonistin wirkt von Anfang an sehr sympathisch, echt und liebenswert. Der Leser fiebert und leidet mit Debbie mit, muss aber durch die Situationskomik an manchen Stellen auch schmunzeln.

Tung vermittelt gekonnt: Jede:r sollte sich so akzeptieren, wie er:sie ist, egal ob intro- oder extrovertiert. Mit ihrem Comic bringt sie auf berührende und ergreifende Weise zum Ausdruck, dass Introvertiertsein keine Schwäche ist. Denn wollen wir nicht alle eine Welt, in der jede:r so sein kann, wie er:sie ist?

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