Leben als Palimpsest

»Ein Verhältnis mit einem dreißig Jahre jüngeren Mann …«, ein Bruch ihres letzten Tabus, die Erzählung einer skandalösen Liebesbeziehung: das ist Annie Ernaux’ jüngstes Buch. Zumindest laut Werbetext auf dem Backcover, der skandalträchtiger ist als der Inhalt des Buches selbst: Ernaux’ Der junge Mann schildert und reflektiert die Beziehung der Autorin zu einem Studenten aus einfachen Verhältnissen, ist dabei aber auch und vor allem ein kondensierter Text über Ernaux’ Schreiben, ihre Lebensgeschichte und die symbiotische Beziehung zwischen dem einen und dem anderen.

Von Svenja Brand

Bild: via Pixabay, CC0

Von 1998 bis 2000 schrieb die französische Autorin Annie Ernaux an der Erzählung über ihre fünf Jahre zurückliegende Beziehung zu dem deutlich jüngeren Studenten A. Veröffentlicht (und überarbeitet) wurde dieser Text unter dem Titel Le jeune homme erst 2022 – ein paar Monate, bevor Ernaux der Literaturnobelpreis verliehen wurde­. In Deutschland erschien er als Der junge Mann in der sehr nah am Originaltext bleibenden Übersetzung von Sonja Finck Anfang 2023 im Suhrkamp Verlag.

Verknappung, Verdichtung und eine Beziehung auf Distanz

Der junge Mann ist mit dreiunddreißig Textseiten das schmalste von Ernaux’ fast immer sehr kompakt gearbeiteten Werken. Großzügig gesetzt umfasst die Standardseite gerade einmal achtzehn Zeilen. Wie in ihren vorherigen Veröffentlichungen wird der Text optisch nur durch Absätze und eine variable Anzahl von Leerzeilen strukturiert, die viel weißen Raum und dadurch beim Lesen ein abruptes, manchmal irritiertes Innehalten erzeugen; Überschriften gibt es nicht. Unter dem Schutzumschlag leuchtend rot eingebunden erinnert Der junge Mann auch von Format und Umfang her eher an einen Lyrikband denn an eine Erzählung in Prosa. Die Form- und Formatbeobachtung finden inhaltlich ihre Entsprechung: Statt mit narrativer Entfaltung arbeitet Ernaux mit präzisen Beschreibungen und (selbst-)analytisch verdichtender Verknappung. Fast unvermittelt aneinandergereiht werden dabei Szenen und Erlebnisse der Beziehung zwischen Ernaux und A., dem titelgebenden jungen Mann.

Der ist zur Zeit der Beziehung fünfundzwanzig, Ernaux selbst vierundfünfzig Jahre alt. A. stammt aus demselben einfachen Milieu, aus dem Ernaux kommt, und dem sie, mittlerweile bildungsbürgerlich arriviert, nicht mehr angehört. Aus einer »unbeholfene[n] Nacht« entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die von eifersüchtiger Leidenschaft, Neugier, geschmeichelter Eitelkeit und sexuellem Begehren geprägt ist, aber auch Züge ökonomischer Abhängigkeit und eines sozial und altersbedingten Machtgefälles trägt:

»Man konnte unsere Beziehung als Zweckbeziehung sehen. Er bereitete mir Lust, und dank ihm erlebte ich Dinge, die noch einmal zu erleben ich nie geglaubt hätte. Dass ich ihn auf Reisen einlud und er sich meinetwegen keine Arbeit suchen musste, denn dann hätte er weniger Zeit für mich gehabt, erschien mir ein fairer Handel, ein gutes Geschäft, zumal ich diejenige war, die die Regeln bestimmte. Ich befand mich in einer Machtposition, und ich setzte meine Macht als Waffe ein, obwohl ich wusste, wie fragil sie in einer Liebesbeziehung ist.«

Ihre dominante Rolle in dieser Zweckbeziehung beschreibt Ernaux souverän und auch gegen sich selbst schonungslos als »eine Form der Grausamkeit« gegenüber dem jungen Mann, der mit ihr vieles zum ersten Mal erlebt und Pläne für eine gemeinsame Zukunft macht, während sie in der gemeinsam erlebten Gegenwart vor allem Spuren ihrer Vergangenheit wiederfindet und die Beziehung auch aus diesem Grund verfolgt. Ins Auge fallen die fast befremdlich anmutende, nüchtern-analytische Schilderung der Beziehung aus Ernaux’ Perspektive und die damit einhergehende Abwesenheit einer Schilderung ihrer Empfindungen A. gegenüber: »Für meine Gefühle in diesem Verhältnis […] gab es keine Worte«. Nicht Gefühle fehlen, aber Worte für die Gefühle; zumindest werden sie nicht öffentlich beschrieben. Die Beziehung bleibt für die Leser*innen damit auf Distanz, behält ein intimes Geheimnis. Mehr als auf dem Wesen liegt der Fokus so auf dem Zweck der Beziehung, wodurch diese in weiteren Dimensionen zur »Zweckbeziehung« wird.

Vom Ändern der Konventionen und Öffnen der Zeiten

So etwa mit gesellschaftskritisch-feministischem Impetus: Gegen den missbilligend-empörten Blick der Gesellschaft auf das Paar mit den fast dreißig Jahren Altersunterschied begehrt Ernaux trotzig auf. Statt Scham empfindet sie Triumph. Nicht auf dem beobachteten Altersunterschied nämlich fußt die öffentliche Empörung etwa der Restaurantgäste am Nebentisch, sondern auf patriarchalen Genderstereotypen – besser: auf deren Durchbrechung, darauf, dass eine ältere Frau ein Verhältnis mit einem jüngeren Mann hat, sich durch ihn jung fühlen und das eigene Älterwerden vergessen will und dass sich hier nicht der Mann, sondern die Frau in der »Machtposition« befindet. Die Skandalisierung von außen wird zur provozierenden »Herausforderung« und als Reaktion darauf das Führen der Beziehung zum politischen Statement mit dem erklärten Ziel, »die Konventionen zu ändern«. Der etwas bittere Beigeschmack dieser politischen Agenda kommt vielleicht daher, dass nicht die Ausbeutung in einer asymmetrischen Zweckbeziehung in Frage gestellt wird, sondern das männliche Vorrecht darauf. Dessen ist sich Ernaux in ihrer Reflexion der Beziehung als »grausam« aber sehr bewusst.

Auch einen auf die eigene Lebensgeschichte und Identität gerichteten Zweck erfüllt die Beziehung mit A. für Ernaux. Der junge Mann wird für sie als »Zeitöffner« zum »Träger der Erinnerung« an ihre »erste Welt«, zur »verkörperte[n] Vergangenheit«. Seine Anwesenheit in ihrem Leben lässt sie die eigene Vergangenheit wieder erleben. Das betrifft alle Abschnitte ihres Lebens: Kindheit, Jugend, Muttersein – vor allem aber ihre Zeit als Studentin. Wie Ernaux selbst es getan hat, studiert A. an der Philosophischen Fakultät in Rouen. Wie sie damals lebt er in prekären Verhältnissen; die vorhanglosen, undichten Fenster, die Matratze am Boden, die defekte Herdplatte in seiner Unterkunft, Zeichen für den soziökonomischen Status des jungen Mannes, erinnern Ernaux an ihre eigene Herkunft. Die Beschreibung A.s ist als feinsinnige Sozialstudie im Bourdieu’schen Sinn, als Analyse des Lebensstils in Abhängigkeit von der sozialen Position lesbar:

»Er hatte die Reflexe und spontanen Gesten, die von einem dauerhaften, ererbten Geldmangel herrühren. Er kannte alle Tricks, um im Alltag über die Runden zu kommen. Im Supermarkt sämtliche Käseproben mitnehmen, die einem die Verkäuferin auf einem Teller hinhält. In Paris gratis pinkeln, indem man entschlossen ein Café betritt, die Klos ausmacht und wieder geht, als ob nichts wäre.«

Die reflektierte Beobachtung dieser ›feinen Unterschiede‹ führt Ernaux vor Augen, dass sie dem Milieu, das sie bei A. als ihr ehemals eigenes wiedererkennt, nicht mehr angehört. Das Führen der Beziehung und die literarische Beschreibung des jungen Mannes sind Ausdruck einer bewusst erlebten Klassenidentität, -emanzipation und -distinktion.

Durch und mit A. begegnet Ernaux Orten aus ihrer Vergangenheit, die bezeichnenderweise tote Orte sind: das leerstehende Hôtel-Dieu in Rouen, in dem Ernaux infolge von Komplikationen nach einer heimlichen Abtreibung Anfang der 60er-Jahre behandelt wurde, oder die verlassene Philosophische Fakultät, an deren Fassade die Uhr und damit die Zeit stehen geblieben ist. Die Wiederholung ist auch als Versuch lesbar, das eigene Leben noch einmal zu leben, zu verstehen, vielleicht zu ändern – und führt durch die toten Orte die Unmöglichkeit einer Wiederbelebung der Vergangenheit vor Augen. »Was ich mir ersehne, ist unmöglich: die Dinge noch einmal zu erleben«1So Ernaux in einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Mai 2000. In: Ernaux: Écrire la vie. Paris 2011, S. 54. Eigene Übersetzung., heißt es in einem Tagebucheintrag Ernaux’. Die Traurigkeit, die diese Feststellung nach sich zieht und die im Text spürbar wird, macht auch beim Lesen traurig.

Leben als Palimpsest und wie die Dinge zu einem Ende kommen

Auch mit Blick auf andere Lebensabschnitte dient A. als »Zeitöffner«. Der Sex mit ihm erinnert Ernaux an früheren Sex, ein Spaziergang auf einer Promenade am Meer ruft Ernaux ihr jugendliches Ich und eine Scham ins Gedächtnis, die sie mittlerweile überwunden hat. Die vergangenen Erinnerungen werden durch Erlebnisse in der Gegenwart mit A. überblendet, bleiben dabei aber lesbar und sogar bedeutsamer als die Gegenwart selbst, lassen letztere zu einer Wiederholung der Vergangenheit werden. Die Gegenwart als »Täuschung« und als »Duplikat der Vergangenheit« macht für Ernaux ihr Leben »zu einem eigenartigen Palimpsest«.

Annie Ernaux
Der junge Mann

Übersetzung: Sonja Finck
Suhrkamp: Berlin 2023
48 Seiten, 15,00 €

Die Metapher vom Leben als bereits geschriebenem, zu schreibendem oder wie hier überschriebenem Text findet sich immer wieder in Ernaux’ Werken. In Der junge Mann wird sie sogar zur Begründung, die Beziehung zu führen: »Der Hauptgrund, warum ich unsere Geschichte fortführen wollte, war, dass sie in einem gewissen Sinne bereits stattgefunden hatte und ich darin eine fiktive Figur war.« Durch die Fiktionalisierung – gleich auf doppelter Ebene: derjenigen des erzählten Geschehens und derjenigen des Erzählens bzw. Schreibens über dieses Geschehen – und das Begreifen des eigenen Lebens als Text wird diese Beziehung erforsch- und verstehbar. Mehr noch, für Ernaux ist das Schreiben ein schaffender Akt der Bewältigung und des Vollendens, und diesen Gedanken stellt sie ihrer Erzählung als Motto und eigentlich poetologische Selbstaussage voran: »Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.« Gegenüber dem bloßen Erleben wird das Aufgeschriebene aufgewertet, das Schreiben ist der Abschluss von Erlebtem, Ausdruck eines Bedürfnisses nach closure und wird von diesem motiviert. Bereits in einem Tagbucheintrag vom Januar 1963 notiert Ernaux: »Schreiben ist für mich kein Ersatz für die Liebe, sondern mehr als die Liebe oder das Leben.«2»Écrire n’est pas pour moi un substitut de l’amour, mais quelque chose de plus que l’amour ou que la vie.« Tagebucheintrag vom 15. Januar 1963. In: Ernaux: Écrire la vie, S. 50. Eigene Übersetzung.

Schließlich ist die Beziehung mit A. Zweckbeziehung in dem Sinn, dass sie Ernaux’ Schreiben überhaupt ermöglicht:

»Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen. In dem anschließenden Zustand der Erschöpfung, der Verlorenheit wollte ich Gründe dafür finden, nichts mehr vom Leben zu erwarten. Ich hoffte, nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus, würde sich die Gewissheit einstellen, dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben. Vielleicht lag es an diesem Bedürfnis, das Schreiben in Gang zu setzen – wegen seines Ausmaßes zögerte ich, das Buch anzugehen –, dass ich A. nach einem Abendessen im Restaurant […] mit zu mir nahm.« ­

Das Buch, das hier nicht genannt, auf das aber über die gesamte Erzählung hin angespielt wird und das Eingangs- und Abschlusspassage in Der junge Mann thematisch bestimmt, ist Annie Ernaux’ im Jahr 2000 veröffentlichtes Buch L’Événement (deutsch: Das Ereignis). Darin erzählt die Autorin von ihrer ungewollten Schwangerschaft und heimlichen Abtreibung 1963/64. Während die Beziehung mit A. das Schreiben dieses Buchs initial beeinflusst, ist es der nahende Abschluss desselben, der das Ende der Beziehung mit A. bestimmt: »Je weiter ich mit dem Schreiben über dieses Ereignis […] vorankam, desto unwiderstehlicher fühlte ich mich dazu getrieben, ihn zu verlassen. […] Ich arbeitete ohne Unterbrechung an meiner Erzählung und parallel dazu, mittels einer entschlossenen Distanzierung, an der Trennung. Zwischen ihr und dem Ende des Buchs lagen nur wenige Wochen.« Gleichsam als Geburtshelfer geht die Beziehung mit A. dem Erzählen der Geschichte von einer Abtreibung voraus.

Wenn eine Rezension fast länger ist als der rezensierte Text, ist das Ausdruck einer noch nicht abschließend durchdrungenen Komplexität. Was Annie Ernaux’ Der junge Mann in hochverdichteter Form beschreibt, regt zur gedanklichen Entfaltung an, beschäftigt lange und ist trotz der fast fehlenden expliziten Emotionsbeschreibungen stellenweise beinahe ergreifend. Dafür sorgt insbesondere auch die feinfühlig-akkurate Übersetzungsleistung und Spracharbeit von Sonja Finck. Der junge Mann ist kein Buch für Zwischendurch, aber ganz sicher eines zum Mehrfachlesen.


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