Die Dekonstruktion des Denkens

Toni Morrisons Romane sind immer wie ein kleines Juwel: Einbände in leuchtend-magischen Farben, sich tief ins Bewusstsein brennende Geschichten und häufig eine Message, die man lange zu entschlüsseln versucht. Eigentlich schrieb die Autorin nur tiefgreifende und erschütternde Romane. Rezitativ ist keiner. Die Short Story wurde schon 1983 im englischsprachigen Raum veröffentlicht und ist nach 30 Jahren erstmals auf Deutsch erschienen. Auf nur wenigen Seiten beschäftigt sich Morrison mit Rassismus und Klassendenken – und fühlt den Leser:innen auf den Zahn.

Von Luis Pintak

Bild: via Pixabay, CC0

Klassismus ist ein seltsames Ding. Zum Start unserer Reihe haben Anna-Lena Heckel und Lisa Marie Müller festgestellt, dass Klassismus für die Diskriminierung aufgrund einer Klassenzuschreibung steht. Klasse selbst bedingt sich nicht durch Identität, sondern wird erst durch abgrenzende Zuschreibungen – von außen, häufig in diskriminierender Form – identitätsstiftend. Klasse und Klassismus sind komplex. So auch in Toni Morrisons Rezitativ, übersetzt von Tanja Handels. Es geht darin um die Geschichte der Ich-Erzählerin Twyla und ihrer Kindheitsfreundin Roberta, die über einen mehrjährigen Zeitraum von der Kindheit bis ins mittlere Erwachsenenalter begleitet werden. Alles beginnt in einem Kinderheim. »Uns hat man abserviert«, sagt Twyla: Beide werden im Sinne der staatlichen Fürsorge in das Kinderheim St. Bonny’s abgeschoben, in dem sie aber nicht als »echte« Waisen durchgehen, weil sie beide noch eine Mutter haben und deshalb auch für die anderen Kinder Außenseiterinnen sind.

Prekäre Kindheiten und feine Unterschiede

Schon zu Kinderzeiten könnten die Unterschiede zwischen Twyla und Roberta nicht vielfältiger und unbeständiger sein. Twylas Mutter ist Stripperin und immer unterwegs, sie »tanzt die ganze Nacht«. Robertas Mutter, die beide aufgrund ihrer Körpergröße »Riesenross« nennen, ist ständig krank. Dazu ergeben sich Unterschiede auf der Bildungsebene und hinsichtlich der eigenen Präferenzen: Twyla kann lesen, vergisst aber gleich danach alles wieder, Roberta kann nicht lesen. Twyla isst gerne und bereitwillig, während Roberta gegenüber der üppigen Heimkost abgeneigt ist. Die familiären Hintergründe stellen die beiden Mädchen auf eine sozial niedrige Stufe. Und: Eine der beiden ist weiß, die andere Schwarz. Doch wer von beiden welche Hautfarbe hat, erfahren die Leser:innen in der Short Story nie.

»Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny’s gebracht.«

Wiedersehen im Erwachsenenalter

Ein Zeitsprung in der Geschichte zeigt die beiden als Frauen in neuen Lebenssituationen: Twyla ist Kellnerin in einer Raststätte bei Newburgh im Süden von New York, als Roberta eines Abends dort mit ein paar Freunden auf dem Weg zu einem Termin mit Jimi Hendrix einkehrt. Roberta wirkt desinteressiert, ist zumindest nicht groß auf Kontakt zu Twyla aus. Es entwickelt sich ein Gespräch, in dem Twyla herabgewürdigt wird. Roberta lacht über Twylas Wohnort Newburgh und reagiert schnippisch, als Twyla nicht weiß, wer Jimi Hendrix ist. Bei einem späteren Treffen im Supermarkt verhält sich Roberta hingegen freundlich und interessiert. Sie wohnt jetzt im reichen Annandale und ist wohlhabend verheiratet. Twylas Ehemann ist Feuerwehrmann, das Paar hat einen Sohn und führt ein eher bescheidenes Leben in einer Stadt, die einmal industriell boomte und viele Schwarze Menschen aus den Südstaaten wegen der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse anzog, bis nach dem Zweiten Weltkrieg viele Fabriken schlossen. Mittlerweile lebe rund die Hälfte der Einwohner von Sozialhilfe, beschreibt Twyla.

Im Laufe der Zeit sehen sich Twyla und Roberta immer wieder und es ergeben sich neue Gegensätze, wie etwa beim school busing: Ab den 1970er Jahren sollte die de-facto-Segregation in öffentlichen Schulen dadurch aufgehoben werden, dass Schulbusse Schwarze Schüler:innen zu Schulen mit vermehrt weißen Schüler:innen gefahren wurden, während weiße Schüler:innen zu Schulen mit vermehrt Schwarzen Schüler:innen gefahren wurden, um gemeinsam unterrichtet zu werden. Während Twyla kein großes Problem darin sieht, dass ihr Sohn auf eine andere Schule geht, protestiert Roberta gegen diese Maßnahme.

»Im letzten Herbst kam Unruhe über uns. So nannte das zumindest die Zeitung. Unruhe. Unruhe zwischen Schwarz und Weiß«, beschreibt es Twyla an einer Stelle.

Der Unterschied durch das Weglassen: Sucherei ohne Sinn

Ein zentraler Punkt in Rezitativ ist die Nicht-Zuordnung der Hautfarbe – es kann nicht sicher festgestellt werden, wer Schwarz ist, wer weiß. Ständig sucht die Vorstellungskraft der Leser:innen nach klischeevoller Ordnung und Kategorisierung – und entlarvt sich so selbst. Wir sortieren Menschen ein, machen sie zu dem, wer sie in unseren Augen sind. Durch das Nicht-Zuordnen der Hautfarbe sticht der Effekt der Kategorisierung heraus: Sie funktioniert in Rezitativ plötzlich nicht mehr. Twylas und Robertas Unterschiede werden mit Kriterien wie Armut und Reichtum, Lebensgestaltung und politische Vorstellungen dargestellt. Während des Lesens und danach erwischt man sich häufig dabei, auch die Frage beantworten zu wollen: Wie hängen diese Faktoren mit der Hautfarbe (und damit einhergehenden, diskriminierenden Zuschreibungen) zusammen, wenn überhaupt? Wer ist denn nun Schwarz, wer weiß? Die Gräben zwischen Twyla und Roberta sind in ihrer gemeinsamen Kindheit noch schmal, werden aber mit dem Erwachsenwerden immer größer.

Erschreckende kindliche Unschuld

Morrison gelingt es durchgehend, mit einer erschreckenden, kindlichen Unschuld zu erzählen. Das Bild von zwei Kindern, die Spiele spielen oder ihre Betten jeden Abend aus Spaß tauschen, prallt auf die Härte des eigenen Schicksals – z. B. im Kinderheim untergebracht zu sein und von anderen Heimmädchen schikaniert zu werden – und des eigenen, daraus erwachsenden diskriminierenden Handelns. So rufen sie der alten, stummen Küchenhilfe Maggie »Trampel! Trampel« oder »O-Bein! O-Bein!« hinterher, was bis zum Erwachsenenalter Scham bei Twyla auslöst. Morrison leuchtet Themen wie Klasse und Rassismus doppeldeutig aus, ohne sie direkt zu nennen. Stattdessen zeigt sie sie. Sie führt an der Nase herum, gibt Hinweise, die sich zweideutig lesen lassen. Sie führt vor, dass wir als Gesellschaft es sind, die einordnen, in Schubladen drängen wollen.

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Toni Morrison
Rezitativ

Übersetzung: Tanja Handels
Rowohlt: Hamburg 2023
96 Seiten, 20,00 €

Dass dieses Schubladendenken intersektional, also Klasse, Ethnizität, gender, ability und Alter zusammendenkend, zu verstehen ist und zu extremer Gewalt führen kann, zeigt sich besonders am Beispiel der alten, gehörlosen Küchenhilfe Maggie im Heim. Sie wird von den Heimmädchen ausgelacht und misshandelt. »Ich erinnere mich nur an ihre Beine wie Klammer auf, Klammer zu und dass sie beim Gehen wackelte«, erzählt Twyla. Roberta und Twyla sind sich uneinig, wer für Maggies Misshandlungen verantwortlich ist, ob sie als doch eigentlich selbst Ausgestoßene beteiligt waren – und ob Maggies Hautfarbe dabei eine Rolle spielte. Denn: Sie sind sich unsicher, ob Maggie Schwarz oder weiß war. Mit Maggies Misshandlung aufgrund ihrer zugeschriebenen Andersartigkeit – sei es durch Hautfarbe, ihre Gehörlosigkeit oder ihren sozial noch tieferen Status – werden die extremen Auswirkungen verschiedener zusammentreffender Diskriminierungsformen deutlich.

Erklärungsversuche von Zadie Smith

Es ist erstaunlich, wie wenige Seiten nötig sind, um ein gesellschaftliches System zu erschüttern. Auch die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Zadie Smith versucht sich an einer Interpretation in ihrem Nachwort. Dadurch erhalten die Leser:innen eine sowohl zeitliche als auch geografische Einordnung der Short Story. Smith gibt etwa Hintergrundinformationen zum wirtschaftlichen und kulturellen Wandel von Newburgh, und sucht nach Indizien für eine Zuordnung der Figuren zu einer Hautfarbe anhand von Kriterien wie Verhaltensweisen oder der Familiengeschichte. Im Vergleich zur Länge der Story mit etwa vierzig Seiten ist das Nachwort mit rund fünfzig Seiten vielleicht etwas lang, aber stets auch mit persönlicher Note mit Blick auf die Leser:innen geschrieben, die viel über Kolonialgeschichte und race theories erfahren.

Nur wenige Seiten braucht Morrison, um ein von Diskriminierungen geprägtes System zu entlarven. Wenige Seiten, die sich einprägen und die eigene Denkstrukturen entlarven. Die ständige Suche nach dem Kriterium der Hautfarbe zeigt, wie weit wir mit unserem Ideal von Gleichbehandlung sind: Weit am Anfang.

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