Niedergeschmetterte Noten

Triggerwarnung: Erwähnung von physischer und psychischer Gewalt

Schmutz und Musik, Demütigung und Erschöpfung, Lamettaperücken und Erbsenkonfetti: Robert Wilsons Interpretation von Georg Büchners Woyzeck mit Liedern von Tom Waits wird im DT Göttingen von Antje Thoms und Jascha Fendel als Kritik an prekären Arbeitsbedingungen inszeniert.

Von Simon Gottwald

Bild: ©Thomas M. Jauk

Vom Himmel, an dem Woyzeck (Volker Muthmann) sich später erhängen will, regnet es grünes Konfetti – ist es ein Geldregen oder doch eher einer aus Erbsen? Unter dem Gejohle des Hauptmannes (Marco Matthes) und seiner Bodyguards (Daniel Hampe, Felix von Nostitz-Wallwitz und Ralf Sepan) und auf Befehl von Margreth (wunderbar affektiert gespielt von Andrea Strube) führt Woyzeck Purzelbäume und Seilsprünge auf, dreht sich um die eigene Achse und putzt nebenher gehetzt die Bühne. Alle sind begeistert, nur Woyzeck nicht. Dafür hat er gar keine Zeit bei seinen vielen Gelegenheitsarbeiten.

Dass die Eröffnungsszene mit ihrer marktschreierischen Präsentation eines sich zur Belustigung anderer erniedrigenden Woyzeck an die zahllosen Fernsehformate erinnert, die vor einiger Zeit einen perversen Boom erlebten und mit kaum verhohlener Faszination für das Elend die bedrückenden Existenzbedingungen von Hartz IV-Empfänger*innen und prekär Beschäftigten mehr vorführten als beleuchteten, ist wohl kein Zufall. Die ganze Inszenierung von Antje Thoms (Regie) und Jascha Fendel (Dramaturgie) ist geprägt vom Armseligen, vom Schmutz: Der Hauptmann ist ein abgehalfterter Kerl mit Cowboyhut, der besser keine Pistole besitzen sollte, der Doktor (Andreas Jeßing) ein tätowierter Altpunk in abgerissenen Klamotten, und selbst die Tänzer, zu denen der fast sprachlose Andres (Daniel Mühe) gehört, werden herumgeschubst und arbeiten sich bis zur Erschöpfung ab. Das Armselige prägt die Inszenierung, das und die Begeisterung der anderen Figuren für Woyzecks niederschmetternde Situation. Da gibt es was zu sehen, da gibt es einen, auf den eingeprügelt werden kann, wie man lustig ist. Und er wehrt sich nicht einmal!

Bis aufs Blut erniedrigt

Soldat, Barbier, Versuchskaninchen, Reinigungskraft: Woyzeck ist sich für keine Arbeit zu schade, so lange er nur für seine Familie sorgen kann. Er rasiert seinem Hauptmann genauso die Beine, wie er Konfetti von der Bühne sammelt und dem Doktor für dessen Experimente zur Verfügung steht. Er wehrt sich nicht einmal dagegen, dass er von den Bodyguards, die immer präsent sind und direkt einem Gangsterrap-Video entstiegen sein könnten, in eine Dixi-Toilette gesperrt wird und dass diese umgeworfen wird, nachdem man ihn zu einer Urinprobe genötigt hat. Er ist es gewohnt, nicht einmal zum Fußvolk zu gehören, sondern zum Boden, auf dem das Fußvolk geht. Die vielen Nebentätigkeiten und die Ernährungsexperimente des Doktors, der seine Diät auf Erbsen reduziert hat, lassen ihn so erschöpft zurück, dass er es nicht einmal mehr schafft, sich von den Exkrementen zu reinigen, bevor er aufs Sofa fällt. Das erledigt er erst am nächsten Morgen, inmitten der Spuren einer wilden Feier, die um ihn herum rauschte, in einer Wohnung, die auf deprimierende Weise an eine Waschküche erinnert, in die irgendjemand ein paar Gartenstühle und ein abgewetztes Sofa gestellt hat.

Und da sind die Stimmen: Erst rufen sie nur Woyzecks Namen, aus einer Luke im Boden, aber dann beginnen sie, ihn zum Mord aufzufordern. Er soll zustechen, denn Marie (Marina Lara Poltmann) betrügt ihn mit dem Tambourmajor (herrlich von sich selbst eingenommen: Christoph Türkay), einem Mann mit blondiertem Pferdeschwanz, Schnauzbart und Schultern wie einem Berg. Die Demütigung wird immer weiter vorangetrieben; Hauptmann und Doktor reiben Woyzeck Maries Betrug genüsslich unter die Nase, eine Konfrontation mit dem Tambourmajor beendet er auf dem Boden liegend und getränkt in Urin.

Ein nur scheinbar besseres Leben

Gleichzeitig flüchtet Marie sich in die Illusion eines besseren Lebens mit dem Tambourmajor, der ihr die Nähe geben kann, für die Woyzeck einfach zu erschöpft ist und der das Geld hat, das Woyzeck selbst mit seinen ganzen demütigenden Nebenjobs niemals zusammenbekäme. Für den Tambourmajor ist Marie nicht mehr als ein Zeitvertreib, der zur Belustigung auch der anderen dient, aber für Woyzeck ist Marie alles, ist sie neben dem gemeinsamen Kind der einzige Grund, weshalb er die ganzen Demütigungen überhaupt noch erträgt. Als es schließlich zu viel wird, sieht Woyzeck nur noch einen Ausweg, der in dieser Inszenierung aber vom bekannten abweicht: Nicht nur Marie stirbt, auch sein eigenes Leben beendet Woyzeck und greift damit der Verurteilung durch eine Gesellschaft vor, für die er immer nur ein handelnder Apparat ohne Innenleben war.

Marie (Marina Lara Poltmann) und Woyzeck (Volker Muthman) ©Thomas M. Jauk

Unterbrochen beziehungsweise begleitet wird das Elend von der Band Bloody Knives, der die Figuren ihre Stimmen leihen, um Songs von Tom Waits zu interpretieren. Inszenierten Jette Steckel und Susanne Meister Robert Wilsons Woyzeck-Fassung am Thalia Theater in Hamburg noch mit der Musik als Ausarbeitung und Höhepunkt der Szenen, sind die musikalischen Einlagen hier Irritationsmomente: Da leidet so ein armer Hund bis aufs Blut und ganz beiläufig spielt die Band, singt Margreth, und alles ist eine große Party, egal, wie sehr die Bandmitglieder herumgescheucht werden, egal, wie sehr Andres sich als Tänzer abzappelt und egal, wie beschissen es Woyzeck geht.

Besonders rührend wird es in dem Moment, in dem Woyzeck All the World is Green singt, denn der Hauptmann flüstert ihm seine Textzeilen mit vorgehaltener Waffe ein. Nicht einmal mehr Woyzeck glaubt an eine heile Welt und ein gutes Ende, aber er muss wenigstens so tun, als wäre alles in Ordnung. Sein Versuch, sich die Pistole des Hauptmanns in den Mund zu stecken, um wenigstens die völlige Katastrophe zu verhindern, wird abgewehrt, und ihm bleibt nichts anderes übrig, als seinem und Maries Ende entgegenzuwanken, erschöpft und verwirrt bis in die Knochen.

»Misery is the river of the world«, wird es nach dem Beifall des Publikums noch einmal gesungen. Das ist eine ebenso deprimierende wie wenig überraschende Feststellung. Doch dieser Göttinger Inszenierung gelingt es, vorzuführen, wie wenig Gedanken viele sich um die Niedriglöhner*innen machen, die hinter ihnen herputzen, ihre Pakete einpacken und ausliefern und sich generell aufreiben, um gerade einmal am Existenzminimum zu kratzen, ohne noch ein Leben neben der Arbeit zu haben.

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