Zwei Generationen, zwei Kulturen, zwei Geschlechter und ein Wochenende, um die Unterschiede zu überbrücken – darum geht es in Güngörs Vater und ich. Ein Buch voller Feingefühl, Humor und hochaktuellen Themen.
Von Marie Mader
Früher haben Ipek und ihr Vater herumgealbert, sich gegen die Mutter verbündet und Liebkosungen ausgetauscht. Doch die Natürlichkeit ihres Umgangs ist verloren gegangen und dem Vater steht eine erwachsene Frau gegenüber. Als ihre Mutter einige Tage mit Freundinnen Urlaub macht, beschließt die in Berlin wohnhafte Journalistin, ihren Vater für ein verlängertes Wochenende auf dem Dorf zu besuchen. Das Haus mit dem Laden, ihr Kinderzimmer und der Kinderarzt – alles fühlt sich vertraut an, nur nicht zwischen Ipek und ihrem Vater. Sie trennt eine Mauer aus Hemmungen und Unsicherheit, und dieses Mal ist nicht einmal die gesprächige Mutter da, um das Schweigen zu kompensieren.
Eine Suche nach Identität und Sprache
Sehr einfühlsam schreibt Dilek Güngör in Vater und ich, das 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, von einem Vater-Tochter-Konflikt, der sich nicht in heftigen Streitereien entlädt und bei dem es nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern um die Suche nach Identität und einer gemeinsamen Sprache. Ihre Figuren kämpfen damit, die Unterschiede der Generationen, des Geschlechts, der Kultur und Sprache zu überbrücken. Ein Vater weiß nicht, wie er Vater einer erwachsenen Frau sein soll, und eine junge Frau nimmt nicht nur bei ihren gegensätzlichen Elternteilen verschiedene Tochterrollen ein, sondern muss auch noch mit zwei kulturellen Identitäten jonglieren. Denn Ipeks Eltern stammen aus der Türkei. Ihr Vater kam in den 70ern als Gastarbeiter nach Deutschland und spricht immer noch den Dialekt seines Heimatdorfes. Ipek hat irgendwann aufgehört, Türkisch zu sprechen und erst im Erwachsenenalter wieder damit angefangen – mit Hochtürkisch, das ihr vor ihrem Vater peinlich ist.
Ein Buch zwischen zwei Kulturen
Das Hin und Her zwischen deutscher Schule und türkischem Zuhause sorgte schon in Ipeks Kindheit für Identitätskonflikte. In Deutschland aufgewachsen und mit seiner Kultur und Sprache wohl bekannt, sah sie trotzdem immer anders aus als die übrigen Kinder, aß in der Pause anderes Essen und wurde stets mit einem fremden Land verbunden, in dem sie nie gelebt hatte. Und nun, Jahre nach dem Auszug aus dem Elternhaus, scheint sich Ipek in Berlin vor allem mit Deutschen zu umgeben. Nicht so ihr Vater: Er wird im Herzen niemals Deutscher sein, während sie ein ›deutsches Leben‹ führt, eine Tatsache, die sie von ihm trennt und das Jonglieren der zwei Kulturen während ihres Besuchs wie früher zu einer Herausforderung macht. Nicht so jedoch für das Leseerlebnis, denn dafür ist die kulturelle Vielfalt eine absolute Bereicherung: Es ist auf sprachlicher Ebene spannend, wenn türkische Worte in den deutschen Text verflochten sind, macht hungrig, wenn köstliche türkische Gerichte zubereitet werden, und lässt in den eigenen vier Wänden plötzlich einen Hauch von Türkei wehen.
Das Thema Leben zwischen zwei Kulturen zieht sich durch Güngörs Schreibkarriere: In ihren Romanen, wie ihrem Debüt Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter (2007), und ihren Kolumnen in der Berliner Zeitung verarbeitet sie regelmäßig ihr Erleben als Deutschtürkin. In Vater und ich wird der autobiographische Charakter besonders deutlich, schließlich ist Güngör wie Ipek Journalistin in Berlin.
Stolpernd bis fließend
Stockend beginnen Besuch und Buch. Ein übermächtiges Schweigen lastet auf Ipek und ihrem Vater und macht jede Handlung allzu bewusst, jedes der halbtäglich gewechselten Worte allzu laut. Schwerfällig füllen sich die Seiten mit dem, was es über die Gegenwart nicht zu erzählen gibt und Anekdoten aus der Vergangenheit von Ipek und ihrem Vater. Zwei Figuren, die weder miteinander, noch mit den Leser:innen in Beziehung treten. Wie sollte man auch ein Gefühl für sie entwickeln, wenn sie sich nicht einmal selbst spüren? So wie Ipeks Gedankenwelt das Schweigen der Realität kompensiert, so kompensieren im Buch Sprünge durch die Vergangenheit, dass es vom Besuch nichts zu berichten gibt.
Doch ganz behutsam verändert sich die Stimmung, als immer deutlicher wird, dass Ipek eine Seite in sich trägt, die ihrem stillen Vater ähnlich ist. Die Beiden finden sich im Schweigen, das so anders ist als das Geplapper der Mutter, fühlen sich dort zeitweise sogar wohl, und der unangenehme Umgang zwischen Vater und Tochter wird von, wenn auch seltenen, befreiten Momenten unterbrochen. Nun treten auch die Identitäten klarer hervor und die Erzählung wird fließender. Güngör gelingt damit hervorragend, den Leser:innen die Entwicklung vom anfänglich ohrenbetäubenden bis hin zum einvernehmlichen Schweigen nahe zu bringen.
Dilek Güngor
Vater und ich
Verbrecher Verlag: Berlin 2021
104 Seiten, 19,00€
Vater und ich – du und ich
Und nicht nur auf diese Weise macht sie die Stimmungen des Besuchs beinahe körperlich spürbar. Das in der Realität sich steif gegenüberstehende »Vater und ich« wird in Ipeks Gedankenwelt zum intimeren »Du und ich«. Dort spricht sie mit ihrem unbeholfenen, schweigsamen Vater, und all die Worte und Gefühle, die Sehnsucht nach Verstehen, die in der Realität nicht gegen die Hemmungen ankommen, fließen im geschützten Paralleluniversum ihres Kopfes zu ihm hinüber, als seien das »Du« und »Ich« nah beieinander, womit Güngör einen krassen Kontrast kreiert und das Schweigen noch erstickender wird.
Güngörs Roman setzt sich humorvoll und ganz sanft mit gleich mehreren wichtigen Themen auseinander: Es geht darum, welche Rolle in unserer Gesellschaft die Herkunft bei der Identität spielt, aber auch um die ewig relevante Frage nach einer guten Eltern-Kind-Beziehung. So sanft, wie Güngör schreibt, schlägt das Buch keine tiefen Krater ins Gedächtnis, erobert die Leser:innen nicht mit Pauken und Trompeten, sondern hinterlässt ein zartes Gefühl. Ebenso zart, wie das Band, das ganz allmählich zwischen Ipek und ihrem Vater zu entstehen scheint.