#IchBinHanna

Mit ihrem Buch #IchBinHanna legen die Autor:innen Bahr, Eichhorn und Kubon einen wichtigen Text vor, der die Missstände des deutschen Wissenschaftssystems präzise bündelt und Perspektiven eröffnet, dieses System neu zu denken. Lesenswert ist das allemal, auch wenn es ein paar Schwachstellen gibt.

Von Frederik Eicks

Bild: Via Pixabay, CC0

Der erste Tweet mit dem Hashtag ›IchBinHanna‹ wurde am 10. Juni 2021 ins Netz geschickt. Vorangegangen waren bereits andere, nicht unerfolgreiche Kampagnen wie #95vsWissZeitVG und #ACertainDegreeOfFlexibility, die aber nicht dieselbe Kraft und Präsenz entfalten konnten wie #IchBinHanna. Nicht zuletzt die Tatsache, dass nun diese Rezension erscheint über das Buch #IchBinHanna zur gleichnamigen Bewegung, zeigt, dass deren Kritik am deutschen Wissenschaftssystem nicht (mehr) wirkungslos verhallt. So eine Buchveröffentlichung ermöglicht schließlich auch, das Thema im Rahmen von Lesungen und Gesprächen weiterhin im öffentlichen Diskurs zu platzieren, beispielsweise im Podcast des digitalen Journals Textpraxis oder bei der Podiumsdiskussion von Uni Göttingen Unbefristet am 13. Mai im Uni-Hörsaal ZHG 002, an der Amrei Bahr, Mitautorin von #IchBinHanna, teilnahm. Zusammen mit Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon hat Bahr ein Buch geschrieben, das seinem Untertitel Prekäre Wissenschaft in Deutschland mehr als gerecht wird: Auf nicht einmal 140 Seiten steht präzise und für alle verständlich, was an deutschen Hochschulen alles schiefläuft, wo die historischen Ursprünge dafür zu finden sind und welche Lösungsansätze sich anbieten.

Lehrreiche Lektüre

#IchBinHanna geht weit darüber hinaus darzulegen, mit welchen fadenscheinigen Begründungen wissenschaftliche Mitarbeiter:innen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse gezwungen werden und aus welchen Gründen das ein Problem ist. Zur Sprache kommen auch: hierarchische Strukturen, Diskriminierung beispielsweise von Menschen mit Behinderungen und nicht-weißen Personen, schlechte Lehre, Drittmittel-Irrsinn, gefährdete Studiengänge. Trotzdem liegt der Fokus auf den Arbeitsbedingungen des akademischen Mittelbaus, das heißt der wissenschaftlichen Mitarbeit:innen, die keine Professur innehaben – wobei durch befristete Juniorprofessuren zunehmend auch auf professoraler Ebene Angestellte in Mitleidenschaft gezogen werden. Erstaunlich ist an diesem kleinen Büchlein, dass auch Personen mit einigem Hintergrundwissen hier noch etwas lernen können, nicht zuletzt einige simple, aber unbedingt wissenswerte Fakten.

Solche Fakten machen beim Lesen mitunter etwas fassungslos: Während die Befristungsquote auf dem restlichen Arbeitsmarkt bei 7,2 Prozent liegt, hat die Wissenschaft ein Sonderbefristungsrecht, das sich in 92 Prozent befristet beschäftigtem Personal niederschlägt. Die Autor:innen zeigen, dass die Ursprünge hierfür im sogenannten ›Gesetz über befristete Arbeitsverträge mit wissenschaftlichem Personal an Hochschulen und Forschungseinrichtungen‹ von 1985 liegen. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) von 2007 wird also völlig zurecht kritisiert – unter anderem für die Ermöglichung von Kettenbefristungen und die Festsetzung der Beschäftigungsdauer auf maximal 12 Jahre ohne Professur –, ist aber nicht der Ursprung aller Probleme, sondern ein erster, gescheiterter Versuch, die katastrophalen Beschäftigungsverhältnisse zu verbessern.

Zwei Leitlinien des Wissenschaftssystems

Kräftig den Kopf schütteln muss man auch angesichts der bis heute wirksamen, dogmatischen Argumente, mit deren Hilfe bedeutende Vertreter:innen der Wissenschaft für eine solche Befristungspraxis lobbyiert und sie schließlich durchgesetzt haben. Bahr u.a. identifizieren vor allem ›Innovation‹ und ›Konkurrenz‹ als konstruierte Leitlinien des Wissenschaftssystems und zerlegen sie in Windeseile. Solche fundierte Kritik vermitteln sie mitunter gewitzt: Aus der Widmung der Universität Hamburg »Der Forschung – Der Lehre – Der Bildung« wird dann »Der Innovation – Den Drittmitteln – Dem Wettbewerb«. Die sich in der Hochschule manifestierende Verbindung von »Plattform-Kapitalismus« und der »Schwerfälligkeit und Bürokratisierung« staatlicher Behörden wird in einer Klammer lakonisch kommentiert: »übrigens keine sehr gute Kombination«.

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Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon
#IchBinHanna

Suhrkamp: Frankfurt 2022
144 Seiten, 13,00€

Schnell zeigt sich bei der Lektüre, dass die Argumente der Gegenseite nichts taugen. Diese behaupte, Innovation werde nur durch ständig fluktuierendes Personal geschaffen. Der Einwand, dass nach dieser Logik Professuren ebenfalls konsequent befristet werden sollten, ist so offensichtlich, dass klar wird: Natürlich haben Personen, die so argumentieren, etwas anderes im Sinn, denn »[l]etztlich ging und geht es eben immer auch um die Stärkung und den Erhalt der eigenen Machtposition gegenüber den abhängig Beschäftigten«. Den Wettbewerb um finanzielle Mittel entlarven die Autor:innen als Farce, bei der wenige Hochschulen mit ihrem bereits erzielten Kapital leicht ihre Stellung verteidigen könnten, womit der Wettbewerb drohe, »sich […] selbst aufzuheben und zur bloßen Legitimation der Förderung einiger […] Spitzenstandorte zu werden«. Durch die vielen für den Wettbewerb zu schreibenden Anträge werde aus der Bereitstellung der »Rahmenbedingungen für Forschung« als eigentlicher Aufgabe von Universitäten eine Bereitstellung der »Rahmenbedingungen für die Konzeption potenzieller Forschung«.

Wo das Hanna-Buch schwächelt

#IchBinHanna ist ein ausgesprochen informatives, lesenswertes Buch, kommt aber nicht ohne einige Mankos aus. Die Autor:innen argumentieren, ›Innovation‹ sei als Leitprinzip auch insofern abzulehnen, als sie sich nur einstelle, »wenn sich aus Forschung neue Produkte, Dienstleistungen oder Verfahren gewinnen lassen«. Hier erkennen Bahr u.a. eine Verwertbarkeitslogik, die gerade in den Geisteswissenschaften kaum zielführend sei. Damit verstricken sie sich allerdings in Widersprüche: Ihr eigener Text kommt nicht ohne den mehrmaligen Verweis aus, dass eine solide ausgestattete Wissenschaft »notwendig ist, um die drängenden Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft bewältigen zu können«. Der Widerspruch ist hier sogar ein doppelter: einerseits im Hinblick auf die Kritik an einer unhinterfragten Verwertbarkeitslogik, die sich aber auch in den eigenen Text eingeschlichen hat, und andererseits in Bezug auf ihre Bemerkung zu einer um sich greifenden Wissenschaftsfeindlichkeit, deren Ursprünge sie unter anderem darin sehen, wie schlecht Wissenschaftler:innen schon von Politik und auch dem Wissenschaftssystem selbst behandelt werden.

Denn gerade diese mit der Corona-Pandemie, aber auch schon im Klimadiskurs sichtbar gewordene Wissenschaftsfeindlichkeit zeigt völlig unmissverständlich, wie wirkungslos Wissenschaft ist. Die wissenschaftlichen Ergebnisse, die wir zur Bewältigung solcher Krisen benötigen, sind doch längst da: Sie werden zur Kenntnis genommen, vielleicht noch durch eine false balance der Berichterstattung relativiert – und dann verpuffen sie. Wie die Schwachen und Verängstigten in der Pandemie nun mit dem Fallen der Maßnahmen sich selbst überlassen werden und es nach zwei Jahren noch immer keinen Plan für den Winter gibt, wird auch Lützerath noch für Kohle weggebaggert, werden deutsche Rüstungsausgaben – also Ausgaben für einen Industriezweig mit immensem CO2-Ausstoß – um 100 Milliarden Euro aufgestockt, während die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag behauptet, der »Schutz von Umwelt und Natur ist […] essenzieller Bestandteil unseres politischen Handelns«. Die Wissenschaft ist ohnmächtig, wenn der politische Wille fehlt, konsequent dem wissenschaftlichen Konsens gemäß zu handeln und diesen Konsens auch gegen Personen durchzusetzen, die ihn nicht anerkennen.

Das gute Argument

Zu hoffen bleibt, dass es der Hanna-Bewegung nicht genauso ergeht. Schließlich fordern Bahr u.a. zur Beseitigung aller Missstände folgerichtig nichts weniger als »visionäre Umbauten im Wissenschaftssystem« und müssen zugleich konstatieren, dass das deutsche Hochschulsystem »äußerst komplex und daher resilient gegenüber größeren Umstrukturierungen« sei. Hoffnungsfroh berichten die Autor:innen dann im letzten Kapitel, das einige überzeugende Vorschläge für solche umfangreichen Reformen bespricht und klare Forderungen aufstellt, dass die eigene Initiative bereits erste Resultate zeitige: Sie verweisen auf die mediale Präsenz des Themas, ein Positionspapier der SPD, das neue, allerdings umstrittene Berliner Hochschulgesetz, das sich im Entwurf befindende Hochschulinnovationsgesetz aus Bayern und den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung.

Zwar warnen die Autor:innen gleichzeitig, dass Papier geduldig sei und nur teilweise Zugeständnisse nicht ausreichten, aber wenn der daraus folgende Appell bloß lautet, »[b]efristeten Wissenschaftler:innen ist zu empfehlen, sich über die Rechtslage zu informieren und sich zu organisieren«, dann sind diese kritischen Töne zu zaghaft, um die angestrebte große Vision zu verwirklichen. Das liegt sicherlich auch an einem bei so einem Unterfangen hinderlichen Selbstverständnis. Es werden zwar prekäre Arbeitsverhältnisse beanstandet, »ganz egal, wen sie betreffen«. Aber ein breites, solidarisches Bündnis wird nicht anvisiert, heißt es doch mit einigem Dünkel auch, »dass Promovierende auf ähnliche Stundenlöhne kommen wie öffentlich Beschäftigte ohne jegliche spezielle Ausbildung und mit ›einfachen‹ oder ›einfachsten‹ Tätigkeiten«. Gleichzeitig wird dann Linke-Politikerin Nicole Gohlke zitiert, die von einem »akademischen Proletariat« spricht, dessen Bildung »nicht mehr vor Prekarisierung, das heißt unsicheren Arbeitsverhältnissen und sozialem Abstieg« schütze. Aber nirgends ist von einem zu führenden Arbeitskampf die Rede.

Schlussendlich bleiben die Autor:innen Bahr, Eichhorn und Kubon, was sie eben sind: Geisteswissenschaftler:innen, keine politischen Aktivist:innen. Sie liefern einen guten Abriss der historischen Ursprünge und der heutigen Probleme sowie überzeugende Argumente und Vorschläge für umfassende Reformen. Sie stellen alle notwendigen Informationen zur Verfügung und leisten damit einen wichtigen Beitrag hin zu substantieller Veränderung. Aber sie wirken auch überzeugt von der Kraft der Vernunft: davon, dass ein gut vorgetragener, rationaler Standpunkt reichen werde, diese Veränderung zu bewirken. Ihre Argumente zielen immer darauf ab, die politisch Verantwortlichen zu überzeugen. Das ist auch daran erkennbar, dass für alle politischen Lager etwas dabei ist: Im linken Spektrum werden besonders die eher kapitalismuskritischen Passagen auf Gehör stoßen, während zwecks einer Überzeugung des liberal-konservativen Lagers mehrmals die Verschwendung von Steuergeldern beschworen wird, der Einhalt geboten werden müsse.

Mit dem Hanna-Buch arbeiten, es transformieren

#IchBinHanna ist ein gutes Buch, aber noch besser ist das, was sich daraus machen lässt. Das zeigen zum Beispiel Uni Göttingen Unbefristet, die bei ihrer Veranstaltung genau die Punkte stark machen, in denen Bahr u.a. inhaltlich oder argumentativ schwach aufgestellt sind. Zum Beispiel betont Peter Birke von Uni Göttingen Unbefristet, dass es sich bei wissenschaftlicher Arbeit nicht um besondere, sondern um völlig normale Arbeit handele und damit auch die Prekarität eine normale sei, wie sie auch Amazon-Beschäftigte betrifft. An anderer Stelle spricht Bahr über eine mögliche künftige Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien, woraufhin Moderator Simon Sendler mit einer Frage an ver.di-Gewerkschaftssekretär Frank Ahrens die Aufmerksamkeit wieder auf die mangelnde, aber notwendige Organisierung von wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen lenkt. Ahrens berichtet, dass diese Organisation in Göttingen und anderswo noch viel zu schwach sei, um die eigenen Forderungen durchsetzen zu können, denn: »Wir bekommen nichts geschenkt. Wir müssen uns das Stück vom Kuchen holen. Wir müssen das System vom Kopf auf die Füße stellen.«

Mit solchen Veranstaltungen kann also das bewerkstelligt werden, was Bahr, Eichhorn und Kubon nicht konsequent genug verfolgen: vor unverbindlichen Zugeständnissen ausdrücklich zu warnen und potentielle Mitstreiter:innen, ihre Mitwissenschaftler:innen davon zu überzeugen, dass das, was sie erleben, nicht an ihnen persönlich liegt, dass es nicht normal ist, dass es nicht so sein muss, dass es veränderbar ist, dass sie dafür kämpfen können. Denn auch das zeigt ja die Geschichte: Für gesellschaftlichen Fortschritt muss mit harten Bandagen gefochten werden. Das geht darüber hinaus, anderen zu erklären, warum irgendwas eine gute Idee ist. Denn wenn die Idee so gut ist, warum wurde sie nicht längst umgesetzt?

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