Sensationeller Journalismus

Am 13. Januar 1999 verschwand die 18-jährige High School Schülerin Hae Min Lee. Ihre Leiche wurde einige Wochen später mit Strangulationsmalen in einem Stadtpark in Baltimore gefunden. Die Journalistin Sarah Koenig erzählt in ihrem True Crime Podcast Serial von diesem Fall und klagt damit exemplarisch das amerikanische Strafprozessrecht an.

Von Adrian Bruhns

Bild: Public Domain CC0

Verurteilungen hinter den verschlossenen Türen geheim tagender Gerichte sind unvereinbar mit einem Rechtsstaat, in dem die Staatsmacht nicht nur an Regeln gebunden sein soll, sondern auch deren Anwendung und Einhaltung nachvollziehbar sein müssen. Eine wesentliche rechtstaatliche Errungenschaft ist daher der Öffentlichkeitsgrundsatz für Gerichtsverfahren: Jede Person hat das Recht, insbesondere im Strafverfahren, die Prozessverhandlungen zu besuchen. Dieses Recht wird nicht zuletzt von Journalisten wahrgenommen, die als Gerichtsreporter die Ausübung staatlicher Macht wachsam beobachten und durch ihre Berichterstattung die ganze Leserschaft in den Gerichtssaal mitnehmen. Die Beliebtheit von Gerichtsreportagen rührt aber nicht nur aus dem legitimen Interesse an der Kontrolle des Verfahrens. Die Fälle selbst sind meist das, was Interesse weckt: Mord geht immer. Aus der journalistischen Begleitung spektakulärer Gerichtsprozesse ist das Genre »True Crime« erwachsen.

True Crime, True Detective

True Crime erlebt soeben eine Wiedergeburt in Serienform, wobei der undenkbare Erfolg eines Formats heraussticht: 2014 verbreitete sich der Podcast Serial wie ein Feuer, und verhalf damit einem ganzen Medium zum Durchbruch, das zuvor eher ein Nischendasein fristete. 80 Millionen Mal sei die erste Folge dieses zwölfteiligen Podcasts heruntergeladen worden, eine Reichweite, die selbst die erfolgreichsten Film- und Fernsehproduktionen in den dunkelsten Schatten stellt. Serial befasst sich mit einem Mordfall aus dem Jahr 1999 – einem Mord, der eigentlich aufgeklärt ist. Ein Schuldiger wurde identifiziert und verurteilt, sitzt seitdem in lebenslanger Haft. Adnan Syed, so das Urteil, ein Teenager, ein High School Schüler, habe nach einem Streit aus Eifersucht seine Ex-Freundin und Mitschülerin Hae auf einem Parkplatz erwürgt und anschließend mit Hilfe des ihm bekannten Drogendealers Jay im Stadtpark vergraben. Die Journalistin Sarah Koenig, Redakteurin des auch unter Deutschen Bildungsbürgern beliebten Radioprogramms This American Life des öffentlich finanzierten Radiosenders NPR, nimmt sich dieses eigentlich abgeschlossenen Falls an.

Sie spricht mit Bekannten von Adnan und Hae, studiert die Gerichtsakten, hört sich die Mitschnitte von Polizeiinterviews an, und die Zuhörer hören und studieren mit. Eine herausgehobene Stellung nimmt hierbei ein Brief an Adnan ein, den dieser einige Tage nach seiner Festnahme in Untersuchungshaft bekommt. Eine Mitschülerin erinnert sich in diesem Brief, sie habe Adnan zum von der Polizei eruierten Zeitpunkt des Mordes in der Schulbibliothek getroffen. Ein Alibi. Adnans Verteidigerin Christina Gutierrez jedoch ignorierte diese Entlastungszeugin, befragt sie nicht, lädt sie nicht als Zeugin. Für Sarah Koenig ist dies gerechtfertigter Weise ein Baustein in ihrem sich durch die Staffel ziehenden Argument, dass Adnans Verhandlung von Unzulänglichkeiten geprägt war, angefangen bei der schlechten Verteidigung durch seine Anwältin über Fehler in der polizeilichen Arbeit, der völligen Unhaltbarkeit des von der Polizei etablierten zeitlichen Ablaufs des Verbrechens und nicht zuletzt dem Kronzeugen – Drogendealer Jay – dessen Geschichte sich mehrfach substantiell ändert und ihn mindestens ebenso verdächtig macht wie Adnan.

Die Ordnung und Reihenfolge, in der Koenig die Beweise und insbesondere auch die Probleme mit diesen Beweisen präsentiert, folgt keinem anderen feststellbaren Prinzip als dem, möglichst großen Cliffhanger-Wert zu haben. Dieses typische Merkmal seriellen Erzählens ist es, was den Podcast in zwölf Teile strukturiert und von einer wahllos unterteilten langen Dokumentation unterscheidet und schließlich auch den Titel des ganzen erklärt: Der Name Serial gibt das Format an und ist nicht inhaltlich motiviert; Adnan ist nicht etwa ein Serienmörder, Sarah Koenig ist eine Serienerzählerin und ihr Podcast nicht nur Journalismus, sondern auch Unterhaltungsformat.

Der Schluss, den sie als Ermittlerin und Erzählerin zieht, ist nicht etwa, dass Adnan unschuldig sei. Vielmehr kommt sie zu dem Ergebnis, Adnan habe nicht verurteilt werden dürfen, völlig unabhängig davon, ob er Hae getötet hat oder nicht, weil die Beweislage das Urteil nicht über einen gerechtfertigten Zweifel hinaus stützt. Der Grundsatz in dubio pro reo sei hier genauso verletzt worden wie das Recht auf Verteidigung. Koenig hat das Genre True Crime damit bemerkenswert dicht an seinen Ursprung, die Gerichtsreportage, zurückgeführt, mindestens was seine Funktion der Kontrolle öffentlicher Gewalt angeht. Mit diesem Anspruch und ihrer Einschätzung, dass Adnans Verfahren rechtsstaatlichen Prinzipien nicht gerecht wird, hat Koenig nun Recht bekommen. Zwei Jahre nach Veröffentlichung des Podcasts und 17 Jahre nach seiner Verurteilung hat ein Gericht am Tatort Baltimore entschieden, Adnan müsse einen neuen Prozess bekommen.

Bei der Anhörung zu dieser Entscheidung trat erstmals die damals ignorierte Alibizeugin auf und versicherte unter Eid, sie habe zu dem von der Polizei vermuteten Mordzeitpunkt mit Adnan in der Bibliothek gesprochen, sei von Christina Gutierrez aber nie befragt worden. Für den Richter ausschlaggebend war jedoch eine andere Ungereimtheit, die erst im Nachlauf des Podcasts vollständig zutage gefördert wurde: Aus Koenigs Recherchen war bereits bekannt, dass die Polizei Adnan und Jay am Tag, an dem Hae verschwand, anhand der Verbindungsdaten eines Mobilfunkturmes in dem Park geortet hat, in dem schließlich Haes Leiche gefunden wurde. Auch die Verlässlichkeit solcher Daten zur Ortsbestimmung wurde von Koenig in Zweifel gezogen. Erst nach Ausstrahlung des Podcasts stellte sich jedoch heraus, dass der Telefonanbieter selbst diese Verbindungsdaten mit einem Hinweis an die Ermittler geschickt hat: »Any incoming calls will NOT be considered reliable information for location«. Die gleiche Mitteilung wurde auch der Verteidigung zugestellt: Christina Gutierrez ignorierte auch dies, fragte bei Vernehmung des Expertenzeugen nicht nach, wies die Jury nicht darauf hin, dass die vermeintlich empirische Evidenz der Anklage, die Adnan an den Tatort bindet, nicht haltbar ist. Das Verfahren wird nun wiederholt.

True Crime, Real Life

All das klingt nach einem Erfolg des investigativen Journalismus, und ist es wohl auch. Ein unabhängiges Medium kontrolliert die öffentliche Gewalt und die wachsam zuhörende Öffentlichkeit geht dem Fall weiter nach, baut schließlich genug Druck auf, um die fragwürdige Entscheidung überprüfen zu lassen, das punktuelle Scheitern des Rechtsstaates zu beheben. Daneben war Serial aber auch ein medialer Erfolg, der nicht nur Sarah Koenig zum Superstar machte, sondern zu einem ganz neuen Niveau des Interesses am True Crime Genre führte. Im Fahrwasser von Serial schwimmen etwa die verstörende Netflix Dokuserie Making a Murderer1Auch diese Dokuserie hat nach einem höchstgerichtlichen Urteil aus dem August dazu geführt, dass ein zum Mord verurteilter (damals) 16-jähriger nun einen neuen Prozess erhalten oder sogar ohne weiteren Prozess freigelassen werden muss. Die Staatsanwaltschaft hat noch etwa zwei Monate Zeit, um aus diesen beiden Möglichkeiten zu wählen. oder die nur als absurd zu bezeichnende HBO Doku The Jinx, in der der mittlerweile inhaftierte Multimillionär Robert Durst vermeintlich den Mord an gleich drei Personen gesteht, mit den im Englischen nun geflügelten Worten: »What did I do? Killed them all, of course!« Dieses Jahr kommen gleich zwei Auseinandersetzungen mit dem OJ-Simpson-Prozess hinzu, einmal in Form einer fiktionalisierten Serie, das andere Mal in Form einer fast 8-stündigen Dokumentation. Auch in diesen Formaten wird ein starker Fokus auf Gericht und Staatsanwaltschaft gelegt, der den Anspruch des Genres, rechtsstaatliche Kontrolle auszuüben, rechtfertigen könnte.

Und doch hat all das ein Geschmäckle: True Crime, auch mit einem dokumentarischen Fokus auf öffentliche Prozesse, ist eben nicht bloß investigativer Journalismus, sondern auch ein Unterhaltungsformat, das seinen Unterhaltungswert ganz wesentlich aus einem Sensationalismus schöpft, der sich nicht zuletzt in der Cliffhanger-Struktur ausdrückt und wenig Rücksicht auf die Opfer der Verbrechen nehmen kann. Der in Serial dokumentierte Prozess wegen des Mordes an Hae ist fast zwei Jahrzehnte her. Jahrzehnte, in denen Adnan Syed im Gefängnis saß, obwohl er nach rechtsstaatlichen Maßstäben womöglich nicht hätte verurteilt werden dürfen. Aber auch zwei Jahrzehnte, in denen Haes Familie versucht hat, ihr Leben weiterzuführen, nachdem der Mord vermeintlich aufgeklärt wurde. Nun wurde diese Familie ohne Einwilligung oder wenigstens eine vorherige Information vor ein Millionenpublikum geschleift und emotional zwanzig Jahre zurückgeworfen. Auf Reddit schreibt Haes Bruder:

»To you listeners, its [sic] another murder mystery, crime drama, another episode of CSI. You weren’t there to see your mom crying every night, having a heartattck [sic] when she got the new [sic] that the body was found, and going to court almost everyday for a year seeing your mom weeping, crying and fainting. You don’t know what we went through. Especially to those who are demanding our family response [sic] and having a meetup… you guys are disgusting. SHame [sic] on you. I pray that you don’t have to go through what we went through and have your story blasted to 5mil listeners.«

Das Genre True Crime lässt hier unversöhnlich gegenläufige Interessen aufeinander prallen. Das Recht auf Privatsphäre, das staatliche Interesse an Rechtsfrieden und das öffentliche Interesse an Justizkontrolle. Diese gegenläufigen Interessen können nicht versöhnt werden, aber sie können in ihrem Spannungsverhältnis jeweils berücksichtigt werden, etwa, indem keine persönlichen Informationen von Opfern, Tätern, Zeugen und Ermittlern in die Öffentlichkeit gezerrt werden, soweit sie mit dem Fall nichts zu tun haben; indem nicht einseitig Informationen weggelassen werden und indem nicht sensationalisiert wird. Im September wird CBS eine True Crime Dokuserie ausstrahlen, deren Trailer die schlimmste Form solchen Sensationalismusses grotesk zur Schau stellt.

Sarah Koenig hingegen tut merklich ihr Bestes, im Rahmen des ökonomisch nicht vermeidbaren Drucks, die Zuhörer zu fesseln, den Fall Adnan Syed nicht zum Spektakel zu machen. So ist Serial zwar Cliffhanger-lastig und macht damit tatsächlich was die Aufmerksamkeitslenkung der Zuhörer angeht, wie Haes Bruder schreibt, sein echtes Leben zu einem »murder mystery«. Aber Koenig legt viel Wert auf Ausgewogenheit, indem sie alle Informationen aus Sicht von Verteidigung und Anklage gleichermaßen bewertet. Bei einigen der im Fahrwasser Serials erschienenen True Crime Formaten lässt sich das nicht behaupten. Insbesondere Making a Murderer wurde stark für seine Einseitig kritisiert.2Vgl. etwa Kathryn Schultzʼ Kritik im New Yorker: http://www.newyorker.com/magazine/2016/01/25/dead-certainty

Der moralisch fragwürdige Sensationalismus wird letztlich relativiert durch den gesellschaftlichen Wert des Genres True Crime. Adnans neues Verfahren ist rechtstaatlich geboten. Ohne den Druck durch eine millionenstarke Öffentlichkeit wäre es dazu vermutlich nicht gekommen; die Wiederholung von Verfahren wegen Verfahrensfehlern ist extrem selten. Liegt eine Verurteilung erst einmal vor, dreht sich die Beweislast um. In dubio pro reo heißt es nur, solange kein Urteil gefällt wurde, danach ist der Verurteilte rechtlich gesehen schuldig und aus dieser Position ist ein neues Verfahren nicht leicht zu bekommen, da braucht es nicht nur gute Anwälte, sondern vor allem viel Recherche, um eine neue Faktenlage aufzubauen, und eine Richterin, die bereit ist, das neu gezeichnete Bild genau zu betrachten. Da schadet es sicherlich nicht, wenn der Angeklagte Star eines Medienphänomens ist. Hätte Koenig ihre Ergebnisse in einem New Yorker Beitrag verarbeitet, wäre die Reichweite und Wirkung ihrer Berichterstattung im Vergleich zu ihrem Podcast verschwindend gering gewesen. Erst der Sensationalismus bedingt die öffentliche Aufmerksamkeit, die das moralisch Fragwürdige des True Crime Formats rechtfertigt. Und doch bleibt Adnans neuer Prozess auch ein neuer Prozess für Haes Familie. Wieder werden ihre Angehörigen im Gerichtssaal sitzen und den tiefsten Punkt ihres Lebens vor genau der Öffentlichkeit ausgebreitet sehen, die für ein faires Verfahren doch so unverzichtbar ist. Ähnliches gilt für Christina Gutierez, die kurz nach dem Prozess verstorben ist, und deren berufliches wie privates Leben nicht von Koenig aber doch von Teilen des angestachelten Publikums durchwühlt wurde. Und nicht zuletzt gilt das auch für Adnans damaligen Gehilfen und späteren Kronzeugen Jay, dessen von Koenig verschwiegener Nachname sogleich von Reddit Usern ermittelt und verbreitet wurde, bevor die Kamerawagen vor seinem Haus parkten.

Man könnte hier schließlich noch eine Konsequenz ziehen, die über Koenigs Anklage der Defizite des amerikanischen Strafprozesses hinausgeht: Es ist nicht zuletzt das Strafen selbst, das hier außer Kontrolle geraten ist. Wo wie in Adnans Fall Lebenslang plus 30 Jahre eine normale Strafe ist, gibt es kein Ende des Prozesses: Solange das Strafen noch im Gange ist, lässt sich die Akte nie gänzlich schließen.

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