»So war Deutschland. Es gab Regeln.«

Unser Deutschlandmärchen ist eine autobiographische Erzählung über Einwanderungs- und Gastarbeiter-Erfahrungen, das Gefühl des Fremdseins in der neuen und der alten Heimat und die Ergründung einer vielschichtigen Beziehung zwischen Mutter und Sohn.

Von Caroline Densch

Bild: Via Pixabay, CC0

Dinçer Güçyeters Debütroman Unser Deutschlandmärchen, dessen Titel eine Anspielung auf Heinrich Heines satirisches Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen ist, wurde 2022 im Berliner Mikrotext Verlag veröffentlicht und erhielt im April 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Die Handlung beginnt noch vor der Geburt des Autors. Der Fokus liegt dann aber auf dessen Lebensgeschichte und seinen Erfahrungen als in Deutschland geborenes Kind türkischer Gastarbeiter-Eltern.

Man kennt Güçyeter für seine Gedichte und auch das Romandebüt des Autors ist von einer metaphorisch-aufgeladenen, lyrischen Sprache geprägt. Zudem bedient sich der Autor einer Vielzahl an Erzähl- und Darstellungsformen: Dialoge, Gedichte, Chöre, Gebete und Träume sind hierfür nur einige Beispiele. Die Erzählperspektive wechselt häufig, was der Verständlichkeit des Romans jedoch keinen Abbruch tut. Die beiden vorherrschenden Stimmen sind die des Autors, Dinçer, und die seiner Mutter, Fatma. Aber auch Hanife, Güçyeters Großmutter mütterlicherseits, Zeynep, eine befreundete Arbeiterin, und Chöre, bestehend aus Gastarbeiter:innen und »Prostituierten«, kommen zu Wort. Diese ungewöhnliche Zusammenstellung verschiedener Stimmen und Erzählformen sorgt für eine interessante und abwechslungsreiche Leseerfahrung.

Emigration nach Deutschland

»Fremde flüstere ich, die Fremde, die uns seit drei Generationen hin und herweht, von der Erde in den Himmel, vom Himmel auf die Erde.«

Der Roman ist lose chronologisch sortiert, aber auch mit Andeutungen auf zukünftige Ereignisse und Rückblenden versehen. Dabei sind die Erzählungen episodenhaft und nicht selten werden mehrere Jahre am Stück übersprungen. Die ersten Kapitel spielen vor Dinçers Geburt und begleiten Fatmas Leben in der Türkei, gefolgt von ihrer Emigration nach Deutschland mit ihrem Ehemann Yilmaz, welcher zuvor bereits als Gastarbeiter in Deutschland arbeitete. Nach anfänglichen Schwierigkeiten baut sie sich dort langsam ein Netzwerk aus Bekannten auf, in dem Versuch, sich eine neue Heimat zu schaffen. Fatma erzählt, wie sie nach einigem Suchen eine ihren Vorstellungen entsprechende Teekanne finden. Die Zubereitung des Tees erinnert sie an ihr Leben in der Türkei und befähigt sie, ihrer Rolle als Gastgeberin gegenüber ihren zahlreichen Gästen gerecht zu werden.

»Yilmaz findet eine Porzellankanne. Ich setze Tee darin auf, der Tee hier schmeckt ein wenig bitter, egal, so langsam finde ich meine neue Heimat. Die Kanne schenkt mir eine Erde, auf der ich mich ausbreiten kann.«

Es kostet Fatma viel Mühe, Deutschland ein Gefühl von Heimat abzuringen, was ihr dabei jedoch weiterhin fehlt, ist ein Kind. Ihr stark ausgeprägter Kinderwunsch veranlasst sie zu Aussagen wie: »Ich warte auf ein Kind. Alles, was in meine Scheide fließt, soll keimen, das ist mein größter Wunsch, doch es bewegt sich nichts« und »auch in den kommenden Monaten bleibt meine Gebärmutter ein unbearbeitetes Feld«. Ähnlich drastische Äußerungen folgen, bis sie endlich Dinçer zur Welt bringt.

Die Effekte plastischer Sprache

An anderen Stellen greift Güçyeter ebenfalls auf nahezu vulgäre Formulierungen zurück. Die bevorstehende Heirat seiner Großmutter wird von folgender Aussage begleitet: »Die ersten Männer dieser Frauen waren im Krieg gefallen. Jetzt warteten hier die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen«. Später sagt ein Kneipengast über eine junge Angestellte: »Sie auf den Boden legen und den Hammer so richtig auf den Amboss schlagen, das brauche ich jetzt«. Das kann als schonungslos ehrlich bezeichnet werden, als akkurate Wiedergabe einer misogynen Haltung, oder aber als geschmacklos und übertrieben. Die vom Autor absichtsvoll eingesetzte plastisch-bildreiche Sprache wirkt in Verbindung mit den unnötig grobschlächtigen Formulierungen vor allem störend und unangenehm.

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Dinçer Güçyeters
Unser
Deutschland-
märchen

Mikrotext Verlag: Berlin 2022
216 Seiten, 25,00 €

Die bildhafte Sprache hat an anderer Stelle durchaus einen positiven Effekt, denn es gelingt Güçyeter, ein eindrucksvolles Bild des Lebens seiner Familie in Deutschland zu erschaffen. Dabei nutzt er zum Beispiel vielstimmige Chöre und fortwährenden Perspektivenwechsel, um von seiner Familie auf die Schicksale einer Vielzahl anderer zu schließen. In Zwiesprache mit einem Gastarbeiterchor wird Fatma beispielsweise darin bestärkt, dass sie nicht die erste ist, die sich schwer damit tut zu verstehen, was genau ihre Rolle als Gastarbeiterin und als türkische Frau ist, welche in erster Generation in Deutschland lebt. An anderer Stelle sorgt das eingeschobene »Lied der Mütter vor dem Parlament« dafür, dass die Erlebnisse von Dinçers Familie nicht als isolierter Einzelfall präsentiert werden. Auch die persönlichen Erfahrungen des Autors tragen zur Illustration der Einstellung eines Landes gegenüber Immigrant:innen und vormaligen Gastarbeitern bei.

»[Ich] lehnte das Rad ans Schaufenster und ging mit erhobener Brust hinein. Die Verkäuferin schickte mich wieder raus, ich sollte das Rad nicht ans Schaufenster lehnen. So war Deutschland. Es gab Regeln. Es war schwer, eine Freude ganz auszuleben, das Gefühl, du machst was falsch, gehörte einfach zum Alltag.«

Zwischen zwei Welten

Dinçer fühlt sich in Deutschland, insbesondere in seiner Kindheit und Jugend, nie wirklich zugehörig, aber auch Reisen in die Türkei, dem Herkunftsland seiner Eltern, können ihm dieses Gefühl nicht vermitteln. Das mag daran liegen, dass es sich lediglich um Besuche handelt, Dinçer erinnert sich aber vor allem auch an eine Veränderung im Verhalten seiner Mutter. Während sie sich in Deutschland für andere stark macht, beispielsweise für die jungen Frauen, die in der Bar ihres Bruders arbeiten, hält sie sich in ihrem Heimatdorf bedeckt. Dinçer wirft ihr in einer für seinen Schreibstil charakteristischen direkten Ansprache vor:

»Du schwiegst über die Verbrechen und sprachst genauso wie diese ungeschliffenen Menschen, die keine Scheu hatten, die Ehre von unschuldigen Frauen mit Füßen zu treten und dabei die animalistischen Instinkte der Männer zu verteidigen. An solchen Abenden sah ich dich als Mittäter, ich schämte mich für dich.«

Erwartungen und eigene Wege

Das ist nur ein Beispiel für das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, welches im Zentrum des Romans steht und vor dem Hintergrund des Gastarbeiterdaseins eindrucksvoll geschildert wird.  Güçyeter beschreibt Fatma als Frau, die sich selbst in erster Linie als Arbeiterin und Mutter versteht. Dementsprechend sehen auch ihre Vorstellungen für die Zukunft ihres erstgeborenen Sohnes aus. Dinçer ist lange Zeit hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis ihr zu gefallen und demjenigen, seinen eigenen Neigungen, wie Theater, Musik und Literatur, nachzugehen.

»Egal, ob das zum Erfolg oder Misserfolg geführt hat, sehe ich mich immer als Arbeiter. Die Auftritte als Künstler, Dichter finde ich immer ein bisschen peinlich.«

Lange steht Dinçer mit einem Fuß in der Literaturszene, mit einem anderen in der Fabrik. Tatsächlich stellt er aber viele Ähnlichkeiten fest: »die neuen Kreise (…), die Welt der Poeten und Künstler, sind auch nicht viel anders gestrickt als der Werkzeugbau. Ausgrenzen, Ignorieren, Kleindrücken sind in diesen schöngeistigen, kreativen Szenen genauso beliebt«. Aussagen wie diese zeigen deutlich, dass Güçyeter nicht nur eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe besitzt, sondern auch, dass Werke wie das seine einen wichtigen Beitrag zur Kritik der gegenwärtigen Literaturlandschaft leisten. Vor allem aber schafft Güçyeter durch das Erzählen seiner Geschichte, welche in gleichen Teilen einzigartig wie repräsentativ ist, in Unser Deutschlandmärchen Raum für die Erfahrungen oft marginalisierter Menschengruppen.

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