Unsichtbarkeit in Sprache und Sein

In Blutbuch erzählt Kim de l’Horizon vom Leben einer non-binären Person. Der:die Autor:in bedient sich insbesondere poststrukturalistischer Stilmittel und stellenweise verwirrender Erzählstrukturen, um zu beschreiben, wie sich das erzählende Ich aus der Körperlichkeit zu befreien versucht.

Von Alexander Kempf

Bild: Via Pixabay, CC0

Triggerwarnung: Der folgende Text beinhaltet explizite Beschreibungen von Sex. Die Abschnitte mit entsprechenden Zitaten werden im Fließtext abgesetzt.

Im Buchumschlag von Blutbuch steht über den:die nichtbinäre:n Autor:in Kim de l’Horizon, er:sie sei im Jahr 2666 in Gethen geboren worden und studiere unter anderem Hexerei bei Starhawk. Auch das Internet gibt keinen Aufschluss über das eigentliche Geburtsjahr, den eigentlichen Geburtsort oder die eigentliche (wohl irgendwie universitäre) Ausbildung des:der Autor:in. Er:sie bleibt im Fantastischen – wer in Blutbuch letztlich erzählt, verschwimmt nicht nur innerhalb des Romans, sondern auch außerhalb davon.

Bei Blutbuch handelt es sich um den Debütroman des:der Autor:in, konkreter: um eine Erzählung, die zunächst autofiktional, vielleicht sogar autobiografisch anmutet. Beschrieben wird die Geschichte eines non-binären Menschen, dessen Großmutter an Demenz erkrankt ist. Es handelt sich mehr um einen Bewusstseinsstrom als um eine lineare Familienhistorie; dass der:die Autor:in irgendwie mit dem erzählenden Ich zusammenhängt, liegt nahe.

Umständliche Sprache, angemessene Verschwommenheit

Die ersten hundert Seiten veranschaulichen in lyrischer, stellenweise übertrieben affektierter und deshalb hin und wieder umständlicher, Sprache das Leben eines Kindes. Es hat ein ambivalentes, offensichtlich von Angst, Unverständnis und Scham geprägtes Verhältnis zu seinen Eltern und Großeltern, erzählt fragmentarisch allerlei Erinnerungen und macht durch ebendiese deutlich, dass seine Identität, Geschlechtszugehörigkeit, Sexualität und gesellschaftlichen Stellung nicht in die gängigen Kategorien passen. Die Umständlichkeit der Sprache, die sich durch Ausrufezeichen und Punkte mitten im Satz oder das Weglassen von Prädikaten ergibt, stört zwar streckenweise den Lesefluss, fügt sich neben anderen Stilmitteln – wie  zum Beispiel diverse Körper-Metaphern oder die reflektierte Verwendung schweizerdeutscher Begriffe – jedoch in ein angenehmes Gesamtwerk der Verschwommenheit ein, das hin und wieder zu Irritation und Unverständnis führt und führen soll.

Neben der inhaltlichen Erzählung einer an Demenz erkrankten Großmutter, die den Anlass darstellt, die eigene Kindheit und Identitätsfindung zu reflektieren, fällt das Buch insbesondere durch Struktur- und Ordnungslosigkeit auf. Diese äußert sich vor allem in Fragmentarität und Durcheinander, Uneindeutigkeit und allerlei Einschüben. Gedichte, Lyrics, Zitate, Briefe, auf Englisch verfasste oder auf dem Kopf abgedruckte Texte durchbrechen ständig und erfrischend die Eindimensionalität, die man von einer Kindheitserzählung erwarten könnte. Das Augenmerk des Buches liegt weniger auf der Handlung als vielmehr auf dem Schreiben selbst.

Wenngleich das Auflösen konventioneller Sprachmuster die inhaltliche Erzählung von Non-Binarität stilistisch durchaus untermauert, vermittelt die Flut an verschiedenen Dekonstruktionselementen den Eindruck eines Innovationsanspruchs, dessen einzelnen Bestandteile jedoch zu intendiert, zu gewollt und zu zweckmäßig, künstlich und nicht mehr künstlerisch daherkommen.

Scham als Leitmotiv

Nachdem de l’Horizon beschreibt, dass ihn:sie das Schreiben am vorliegenden Buch herausfordere, er:sie nicht wisse, wie der Schreibprozess weitergehe, macht er:sie sich selbst über die »zynische, aufgekratzte Erzählstimme, die da ganz plötzlich und angestrengt popliterarisch […] schwubuliert« lustig, ironisiert zwar nicht seinen:ihren gesamten Text, aber zumindest das Schreiben übers Schreiben und gesteht sich ein, Zeit »erschreiben« zu wollen, sich dafür sogar zu schämen. Es ist die Verschwommenheit des Textes, sein Strömen und Fließen, das der Non-Binarität im Auflösen von Grenzen ihren literarischen Ausdruck verleiht.

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Kim de l’Horizon
Blutbuch

Dumont: Köln 2022
336 Seiten, 24,00€

Triggerwarnung: Explizite Beschreibungen von Sex

Scham in Form von Peinlichkeit, Unbehaglichkeit oder Demütigung zieht sich neben dem Motiv der Auflösung von Grenzen durch den gesamten Roman. Während das Kind, von dem das erste Drittel des Buchs erzählt, dazu gedrängt wird, sich entweder als Mann oder als Frau zu identifizieren, entwickelt es Zweifel und Misstrauen gegenüber den Verhaltensweisen von Männern und Frauen und wird von seinem gesamten Umfeld unverstanden und verstoßen. Nur die Blutbuche, ein Baum mit roten Blättern, im Garten seiner Großeltern spendet dem Kind Trost. Im Erwachsenenleben sucht der:die Erzähler:in sein:ihr Körpergefühl, gar seine:ihre Identität, vor allem im sexuellem Kontakt mit Männern. Es sind Beschreibungen masochistischer Hingabe, Erzählungen darüber, »wie unglaublich sanft und lebendig sich ein penetrierter Arsch anfühlt« und Ausführungen über »Balkan-Machos«, von denen wir uns insgeheim immer noch wünschten, »dass sie mit ihren behaarten Händen unsere schneeweissen, hasengleich zitternden Ärsche packten und mit ihren Stierhoden so lange an das Portal unserer Gedärme pochen, bis wir blind vor Schmerz und Lust ihren fremden Samen Einlass gebieten«, die beim Lesen Röte ins Gesicht treiben.

Hier endet die konkrete Beschreibung.

Kein wokes Buch

Beachtlich ist, wie de l’Horizon Themen wie Non-Binarität und Scham derart gelungen in einen nahezu handlungslosen Roman überführt und durch fragmentarische Verschwommenheit mit ebenjener schambehafteten, gesellschaftlich motivierten und verlangten Pflicht zur Zuordnung, Kategorisierung und zum In-Eine-Schublade-Stecken zusammenbringt. Es sind die bemerkenswerte  Erzählstimme, die Geschwindigkeit des Textes und die anglizistische Umgangssprache, die dem Roman nach den ersten hundert Seiten schließlich die nötige Schärfe geben, und ohne die sich die Kindheitserinnerungen, deren nüchterne Schilderungen durchaus zunächst ermüden, rückwirkend nicht in ein gelungenes Mosaik der kindlichen Orientierungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Identitätssuche einordnen ließen. So wiederum ergibt sich ein Moment der Erkenntnis, um nicht zu sagen: der Erleuchtung, der es ermöglicht, weitaus tiefer in die Erzählungen und Gedanken des:der non-binären Protagonist:in einzutauchen, als es wohl bei einer stringenten Familienerzählung möglich gewesen wäre. So schreibt de l’Horizon:

Und wer glaubt denn echt dran, dass die Zeit linear verläuft, das ist doch eine grausam absurde Kindermär. […] Alles immer so grässlich gleichzeitig und verschlungen, so eine glatte, lineare, unfragmentarische Geschichte, die ist doch erstunken und erlogen!

Zugleich und zuletzt überzeugt der Roman mit einer bemerkenswerten Reflexionsfähigkeit. So gibt es in konservativ-bürgerlichen Kreisen gewiss noch eine Klientel, die meinen möchte: Non-Binarität, Gendergerechtigkeit und Transsexualität – das sind doch alles Themen einer moralistischen, links-grünen Ideologie! Doch bei Blutbuch handelt sich gerade nicht um ein wokes, urbanes und ideologisierendes Buch.

Triggerwarnung: Explizite Beschreibungen von Sex

De l’Horizon erkennt, dass political correctness gegenseitigem Kennenlernen manchmal im Weg stehen kann (»Ich wollte wissen, woher Farid kommt. Aber gleich fragte ich mich, ob das rassistisch sein könnte.«), benennt eine (sexuelle) Doppelmoral (»Wir wollen eure Kopftücher nicht auf unseren Töchtern, wir wollen eure Männlichkeit nicht in unseren Söhnen, wohl aber heimlich in unserem Mund, aber bloss für eine Nacht, in der wir gegen unsere political correctness anstöhnen können.«) und demaskiert auch und insbesondere, dass die eigene elitäre Urbanität, das gierige Auflecken kulturellen Kapitals und die Nutzung der Möglichkeit, weltbürger:innenliche Queerness zur Schau zu stellen, ebenjene degradiert, die auf dem Dorf leben, nicht kulturelles, sondern ökonomisches Kapital auflecken und sich in die heteronormative Ordnung einfügen (müssen). Dabei wird gerade nicht ver-, sondern erkannt, dass Queerness keine Entscheidung, sondern eine Lebensrealität ist, die sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum mit Diskriminierung einhergeht. De l’Horizon erinnert daran, dass der Kampf gegen Diskriminierung queerer Menschen sich nicht anhand sozioökonomischer Umstände, kulturellem Wissen oder auffälligem Schmuck spalten darf. Das Buch schafft Zusammenhalt. Für die Liebe und gegen den Hass.

Hier endet die konkrete Beschreibung.

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