Kann man die eigene Herkunft vergessen?

Triggerwarnung

Der folgende Text greift im Roman vorkommende Schilderungen von psychischer Krankheit, sexueller Gewalt und Kriminalität auf. Wenn Du Unterstützung suchst, findest Du sie zum Beispiel bei der Psychosozialen Beratung des Studentenwerks Göttingen, beim Frauen-Notruf Göttingen oder bei Weisser Ring e. V.

In Lisa Roys Debütroman Keine gute Geschichte begibt sich die Protagonistin Arielle Freytag zurück an den Ort ihrer unglücklichen Kindheit und Jugend: den armutsgeprägten Essener Norden. Der Roman stellt gekonnt die Frage, ob man seine eigene Herkunft wirklich vergessen kann.

Von Lisa Neumann

Bild: via Pixabay, CCO

Frisch entlassen aus der Psychiatrie erhält Arielle einen überraschenden Anruf. Am Apparat ist Meryem, eine Sozialarbeiterin. Ihrer Großmutter gehe es nicht gut, Arielle solle doch bitte nach Hause kommen und ihr helfen. Widerwillig packt Arielle, noch immer von ihrer Depression gebeutelt, ihre Sachen. Zurück in den verhassten Essener Norden mit lauter Plattenbauten also. Dabei hatte sie sich so schön eingerichtet in ihrem Düsseldorfer Mittelklasse-Leben als Social-Media-Managerin in einer Instagram-Agentur samt Kurztrips, Prosecco und Partynächten. Zurück in Essen schlägt ihr die eigene Herkunft mitten ins Gesicht.

Eine verschollene Mutter und zwei verschwundene Mädchen

Denn Arielle wird nicht nur mit dem Elend der anderen, sondern auch mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert: Als sie sechs Jahre alt war, verschwand ihre Mutter spurlos. Seitdem plagen Arielle Verlust- und Bindungsängste. Die Reaktion ihrer wortkargen, gefühlskalten Großmutter, damals wie heute: Schweigen. Varuna, wie sie sich selbst nennt, lebt einsam zwischen Nacktkatzen und jeder Menge Kakteen, die einzigen Lebewesen, für die sie so etwas wie Liebe empfindet. Kein Wunder also, dass die Psyche ihrer Enkelin angeschlagen ist. Doch Arielle gibt nicht auf: Sie hat genug vom Schweigen und stellt immer mehr Nachforschungen zum Verschwinden ihrer Mutter an. Parallel geht eine weitere Suche im Viertel voran: Die beiden Mädchen Ashanti und Lara werden vermisst. Man vermutet eine Entführung, die Eltern sind verzweifelt.

Harte Themen, sarkastischer Tonfall

All dies bringt Lisa Roy in ihrem ersten Roman beinahe spielerisch unter. Durch Arielles sarkastischen Tonfall entsteht eine besonders tragikomische Sicht auf die Dinge um sie herum. Da sind zu Beginn zum Beispiel die Mütter im Zug, aufgetakelt und hysterisch:

Diese Mütter sind bereit, die AfD zu wählen, damit die Flüchtlinge und die der Todesstrafe würdigen Pädophilen von ihren Schützlingen ferngehalten werden. Aber wovor sie wirklich Angst haben, was sie nachts wachhält, das sind Mädchen wie Ashanti, Lara und ich.

Und als sie sich mit der Affäre ihrer Mutter vor deren Verschwinden, Arielles ehemaligem Mathelehrer, zum Kaffee trifft, bemerkt sie nüchtern:

»Weil ja alle wussten, dass die Reparation für Mit-der-Mutter-Schlafen ein Latte macchiato für 3,40 Euro war.«

Solche Äußerungen beschreiben Arielles neue Realität akkurat und schmerzhaft. Punchline, Treffer, versenkt. Dennoch liest man den Roman trotz der harten Themen – wie sexuelle Gewalt, Armut und psychische Krankheiten – gern. Arielles Beschwerden über die Gegenwart entfalten einen eigentümlichen Sog, der einen bis zum etwas abrupten Ende nicht loslässt.

Herkunft lässt sich nicht wie ein alter Mantel ablegen

Am Ende ist Keine gute Geschichte sozial verträglicher als der Titel vermuten ließe: Arielle scheint durch die alten wiederbelebten sowie die neuen Kontakte emotionale Kraft und Hoffnung zu gewinnen. Es zeigt sich auch durch die stets implizite Kritik an ihrem oberflächlichen Düsseldorfer Leben, das so gar nicht zu ihrer alten Lebensrealität in Essen passen mag: Man kann seine Herkunft nicht einfach wie einen zu groß gewordenen Mantel ablegen. Im Kern bleiben wir, wer wir sind. Es beeinflusst uns, wie wir in Kindheit und Jugend sozial geprägt wurden. Doch, so wird auf den letzten Seiten suggeriert, kann man am Ende durch eine furchtlose Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft durchaus mit sich und der Vergangenheit Frieden schließen.

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Lisa Roy
Keine gute Geschichte

Rowohlt Verlag: Hamburg 2023
240 Seiten, 22,00 €

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