Tatort Reloaded

Der Tatort Weimar hat im Januar 2021 eine große Veränderung der Erzählstruktur vorgenommen. Inwiefern kann das funktionieren, und hat das vielleicht auch Präzedenz? Ein Anlass, in die Erzählmechanismen der Tatort–Serie einzutauchen.

Von Hanna-Maria Vester

Bild: MDR/Wiedemann & Berg/Anke Neugebauer

Erfolgsrezept Tatort Weimar: Man nehme zwei äußerst etablierte, mal mehr, mal minder seriöse Schauspieler:innen und schicke sie in die Kulturstadt Weimar. Der Ort ist ehrwürdig und bietet genügend Kontrast zur Witzelei. Nora Tschirner ist Kommissarin Kira Dorn, Christian Ulmen spielt ihren Ehemann-Kollegen Lessing. Am 1. Januar 2021 wurde die neueste Folge namens »Der feine Geist« gesendet. Viele sahen dies als einen willkommenen, ersehnten Lacher zum Ende eines widerwärtigen Jahres, Weimar anschalten zum Abschalten. Aber hier stimmt doch was nicht…

Wir beginnen mit einer Verfolgungsjagd in der Weimarer Parkhöhle, bei dem Lessing von einem Streifschuss außer Gefecht gesetzt wird. Dorn ermittelt größtenteils allein weiter und spricht nur ab und zu mit ihm am Telefon, während sie in der Security Firma eines gewissen John Geist ermittelt. Lessing fährt merkwürdigerweise in einer weißen Taxi-Kutsche ins Krankenhaus, taucht unvermittelt an der Seite seiner Frau auf, verschweigt ihr wichtige Information über den Fall; Kira Dorn trägt kein Headset beim Telefonieren und fängt sich verwirrte Blicke aus ihrer Umgebung ein, während sie mit ihrem Mann spricht. Am Ende stellt sich heraus: Lessing ist gleich zu Anfang bei der Verfolgungsjagd erschossen worden, und Kira Dorn träumt sich ihre heile Welt. Das Weimarer Tatort-Team ist einen Kopf kürzer und ihr Ehemann ist »Der feine Geist«.

Regelbruch nach Tradition

Wie genau ist diese Tatort-Folge eingebettet in das serielle Erzählen der übergeordneten Tatort-Serie als Ganzes? Verstößt sie gegen alle Regeln, oder folgt sie gewissen Mustern, die schon längst etabliert sind? Der Tatort hat sich über Jahrzehnte hinweg über seinen Realismusanspruch definiert, da »die Reihe seit ihrer Begründung durch den ARD zum Spiegel der Gesellschaft erklärt wird«, schreiben Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger in Zwischen Serie und Werk: Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort«.

Wichtig sind dabei auch erzählerische Strukturen, die eine wiederzuerkennende Formel ergeben: »Das Ende einer Folge stellt mit der (Rechts)Ordnung auch den Ausgangszustand in der psychischen Disposition der Ermittlerfiguren wieder her« und etwaige Abweichungen, die die einzelnen Folgen eventuell zum Thema machen, werden »damit in die Normalität zurück geführt« (Hißnauer et al.). Somit ist mit dem Schauen eine gewisse Verlässlichkeit verbunden, und Zuschauer:innen wissen, was sie zu erwarten haben. Die ist »eine Statik, die der Tatort-Reihe […] eigen ist, wo jede Folge wieder bei null beginnt und sich eben nicht mit seriell weiterführenden Motiven fortentwickelt. Und das, bei allen Nachteilen für größere Erzählzusammenhänge, aus gutem Grund – anders würde der Tatort im nächsten Jahr nicht 50 Jahre alt werden können«, schreibt Matthias Dell in Zeit Online.

Es gibt also gewisse ungeschriebene Regeln beim Tatort. Die Frage ist nur, wie genau man sie effektiv brechen kann. Das passiert oft durch den Fokus auf das Privatleben der Ermittler:innen, bestimmte Figurenkonstellationen und genreblending, aus denen sich Distinktionsmerkmale für die einzelnen Reihen ergeben, die im Tatort-Universum vereint werden. Beim genreblending wird das Krimi-Narrativ mit anderen Erzählarten gemischt. Dabei ist Vorsicht geboten, denn: »nicht jede Form von Modifikation funktioniert« sondern läuft Gefahr, von Zuschauer:innen als »Formatverletzung« eingestuft zu werden, erklärt Thomas Klein in seinem Artikel »Zwischen Wortwitz und Klamauk – Der Tatort Münster als Dramedy«.

Krimi mit Humor

Ein großer Bruch, der durch den Tod Lessings stattfindet, ist zunächst der Verlust eines Distinktionsmerkmals der Serie: die Entfernung von den komödiantischen Dialogen und Wortwitzen, die sich aus der Lessing/Dorn-Dynamik ergeben, und vielleicht (ähnlich wie beim Tatort Münster) auf eine domesticcomedy referieren. Die Einstufung als Sitcom-ähnliche Comedy funktioniert gepaart mit der Serialität des Tatorts, meint Thomas Klein, da die Sitcom wie der Tatort »eine Grundsituation, ein Status Quo, auf den von Folge zu Folge immer wieder zurückgekehrt werden kann«, beinhaltet.

Im Bezug auf den Tatort Münster spricht Klein davon, dass besonders die »conspirational relationship« mit den Zuschauer:innen wichtig sei, wenn es um Comedy geht. Das Publikum ist so vertraut mit den Figuren, weil es an ihren Witzen beteiligt ist, und oft mit Charakteren wie Nadeshda über den komischen Kommissar Thiel und den absurden Gerichtsmediziner Börne lacht. Genauso sind Dorn und Lessing witzig, aber der Witz entsteht häufig dadurch, dass sie in einer gewissen Dynamik miteinander sarkastische Kommentare austauschen.

Das passiert häufig durch Inside-Jokes, die auch als Running Gags funktionieren, und Folgen-übergreifend auftauchen. Lessing, zum Beispiel, tadelt mindestens einmal pro Folge seine Ehepartnerin mit den Worten: »Frau Dorn!«. Diese Witze stehen stellvertretend für die sarkastische, aber liebevolle Beziehung der beiden, sodass Zuschauer:innen sich identifizieren und über die Folgen hinweg mit den Charakteren verbunden fühlen können. Das funktioniert aber nur, weil das Privatleben von Leichtigkeit und Humor geprägt ist, nicht etwa von Schicksalsschlägen. Diese werden durch weiteres genreblending (Krimi + Actionfilm) tatsächlich aber teilweise angedeutet.

Kiss Kiss, Bang Bang

Ein gewisses Schweiger‘sches Drama entsteht dann gerne mal, wenn Ulmens Kommissar Lessing beinahe in einem Heizofen verbrennt, als Geisel genommen oder aber fälschlicherweise des Mordes bezichtigt wird. Dann wird Tschirners kaltschnäuzige Kommissarin Dorn todernst, schwingt die Pistole und geht an alle Grenzen. Oder aber: Frau Dorn rührt sich nicht nach einer Explosion, sodass Lessing beinahe einen Verdächtigen erschießt. Bis Kira Dorn »Alles okay!« ruft und Lessing den Tränen nahe die Waffe senken kann. Dass die risikobehaftete Beziehung in einem wirklichen Tod endet, wirkte im Kontext des komödiantischen Erzählens dabei aber immer unmöglich: So starke Veränderungen sind in den Erzählstrukturen des Tatorts eigentlich nicht vorgesehen. Mit der Sterblichkeit der Kommissar:innen ist eine Rückkehr zu einer ganz untypischen Ernsthaftigkeit gegeben.

Genre blending kann sehr unterschiedlich aussehen. Der Tatort Münster versucht sich häufig daran: »Der Anfang der ersten Folge Der dunkle Fleck (2002), in der es um eine Moorleiche geht, ist wie Gothic-Horror gefilmt. In Das Wunder von Wollbeck (2012) taucht Boerne im Westernhut auf einer Farm auf, wo er sich um ein krankes Rind kümmern will und in Der Frauenflüsterer (2005) wird eine Schlägerei in einer Kneipe wie eine Saloon-Prügelei inszeniert« (Klein).

Genre Blending, wie genau?

Besonders auffällig verhält es sich bei Kommissar Murot in Wiesbaden. Er hat anfangs einen Tumor, sodass er in der Folge »Das Dorf« (2011) unter Halluzinationen leidet. Laut Hißnau, Scherer und Stockinger stützen sich Tatorte wie diese (auch: »Wir sind die Guten« [2009], »Tango für Borowski« [2010], »Unvergessen« [2013], »Er wird töten« [2013]) bewusst auf die subjektive, durch die Disposition der Kommissar:innen geprägte Darstellungsweise, um Zuschauer:innenschaften zu generieren, die die Anlehnungen an andere Genres und Kinofilme erkennen. Da, wo der Tatort Münster genreblendingpunktuell einsetzt1Jedenfalls ursprünglich: Hier ist auch eine Art Wiesbaden-Trend zu vermerken, wie etwa in der Folge »Limbus«., transformiert in Wiesbaden eine metafiktionale, intermediale Ebene zum eigenen Distinktionsmerkmal: Zuschauer:innen erwarten skurriles genreblending geradezu.

Die Folge »Im Schmerz geboren«, die einem Theaterstück ähnelt und auf Quentin Tarantinos Kinematographie anspielt, fällt so zwar aus der Tatort-Reihe als Ganzes heraus, erfüllt aber die Anforderungen der untergeordneten Wiesbaden-Reihe. Die geisterhafte Erscheinung Lessings, eine Halluzination Kira Dorns, kann ebenfalls als genreübergreifende Referenz verstanden werden. Man denke zum Beispiel an »The Sixth Sense«: Das bodenständige Polizei-Prozedere des Tatort morpht mit den Merkmalen eines übernatürlichen Psychothrillers. Aber was wäre, wenn Lessings Geist künftig regelmäßig in Weimar rumspukt? Wechselt der Tatort Weimar von einem punktuellen genreblending (siehe Münster) zu einer tiefgreifenderen Veränderung (siehe Wiesbaden)? Die Widerkehr von Lessings Geist wäre ein klarer Wechsel hin zu der stark subjektiv geprägten Darstellungsweise, die in Wiesbaden so beliebt ist – und würde einer Art Magischen Realismus gleichen.

Vielleicht wäre dann mit dem humoristisch-dynamischen Duo noch nicht aller Tage Abend. Auch ohne Geist wäre ein neues Konzept möglich, mit Kira Dorn im Zentrum. Darin läge eine Chance für die Hauptdarstellerin Nora Tschirner, endlich tiefergehende psychologische Facetten darstellen zu dürfen. »Wir warten jetzt die Wirkung des Films ab und entscheiden dann, wie wir das Format weiterentwickeln«, heißt es in einer Stellungnahme des MDR. Alles ist möglich.

Schlagwörter
, ,
Geschrieben von
Mehr von Hanna-Maria Vester
»Becoming a White Man«
What does it mean to become a white man in contemporary America?...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert