Wie Mord eine Familie prägt

Triggerwarnung: Mord, Gewalt

35 Jahre ist der Mord an ihrer Tante her. Jetzt wurde ein Verdächtiger verhaftet. In Die Roten Stellen verarbeitet Maggie Nelson nicht nur die Verhandlung, sondern auch, wie ihr eigenes Leben beeinflusst wurde – von dem Tod einer Frau, die sie nie kennenlernen durfte.

Von Tom Rösner

Bild: Via Pixabay, CC0

Es ist eine morbide Faszination mit den Abgründen der Menschlichkeit, die dem Genre True Crime zugrunde liegt. Zahlreiche Bücher, Dokumentationen und Podcasts befassen sich intensiv mit den Leben und Gräueltaten der verschiedensten Kriminellen, analysieren ihre Beweggründe und philosophieren über die Natur des Menschen. Selten stehen die Opfer im Vordergrund – wer waren sie, was wollten sie, und wie hat ihr Tod ihre Familien betroffen? Hier kommt Maggie Nelson ins Spiel.

Noch bevor Die roten Stellen veröffentlicht wurde, noch vor dem Prozess gegen Janes mutmaßlichen Mörder, schrieb sie Jane: A Murder, einen Gedichtband über das Leben ihrer Tante und den Schatten, den ihr gewaltsamer Tod auf das Leben ihrer Angehörigen warf. Zu diesem Zeitpunkt wusste Nelson noch nicht, dass sie nicht die einzige war, die noch intensiv an diesem Fall arbeitete. Auch die Polizei hatte den bisher ungelösten Mord nicht vergessen und einen Durchbruch erzielt: Die Festnahme des Tatverdächtigen stand unmittelbar bevor.

Hier setzt Die roten Stellen: Autobiographie eines Prozesses die Geschichte fort, die Jane: A Murder begonnen hat – mit dem Gerichtsverfahren. Doch das, was viele wohl als das erlösende Ende einer tragischen Geschichte sehen würden, wühlt bei Nelson und ihrer Familie Erinnerungen und Traumata auf, die lange verdrängt worden waren. Nelson beschreibt nicht nur die Verhandlung vor Gericht, sondern auch ihren eigenen Schreibprozess und die psychische Belastung, die dieser mit sich bringt. Sie schildert, wie sich der Mord und auch dessen juristische Verfolgung auf ihr Leben und das ihrer Familie auswirken: auf ihre Mutter, ihre Schwester und ihren Großvater. Und sie schildert auch das, was sie über die letzten Tage und Momente ihrer Tante in Erfahrung bringen konnte.

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

All das, so schreibt Nelson, tue sie aus dem Drang heraus, alle Details aufzuzeichnen, bevor sie verschluckt werden können, »sei es durch Angst, Trauer, Vergessen oder Schrecken«. Es geht darum, Trauer zu verarbeiten – ihre eigene, die ihrer Familie. Die roten Stellen ist dabei ganz anders als Jane: A Murder in einem schlichten, sehr direkten Prosa-Stil verfasst, mithilfe dessen sie auch unangenehme Wahrheiten preisgibt. Der erste Eindruck vom Mörder ihrer Tante etwa, der statt des von ihr erwarteten »Gesicht[s] des Bösen« das »Gesicht von Elmer Fudd aus den Cartoons« hat, wirkt komisch – dabei erscheint Komik in diesem Kontext ganz und gar nicht angemessen. Auch die darauffolgende Beschreibung der Autopsiefotos löst aufgrund ihrer überraschend kühlen Detailliertheit Unbehagen aus.

Und doch sind diese Gedanken und Schilderungen, so unangebracht sie auch scheinen mögen, Nelsons Wahrheit. Sie hat eben in diesem ersten Aufeinandertreffen mit dem mutmaßlichen Mörder ihrer Tante an Elmer Fudd gedacht; sie hat eben bei der Konfrontation mit den Autopsiefotos versucht, so distanziert wie möglich zu bleiben. Es mögen Wahrheiten sein, die man selbst wohl nie laut ausgesprochen hätte – von denen man glaubt, man dürfe sie nicht aussprechen, und für die man sich selbst vielleicht schuldig oder beschämt fühlen würde. Sie nun so direkt und ehrlich zu lesen ist zunächst schockierend. Doch darauf legt Nelson es mit ihrer Offenheit nicht an. Stattdessen bringt sie die Mauer zwischen sich und den Lesenden zu Fall und lässt sie so an der Wahrheit, ihrer Wahrheit, teilhaben.

Blicke in die Vergangenheit

Ihre Darstellung des Prozesses durchbricht Nelson mit Erzählungen aus ihrer Vergangenheit: Wie ihre Mutter und auch sie selbst Angst davor hatten, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden; wie ihre Mutter im Kino keine Filme sehen konnte, in denen es um entführte Frauen ging; wie ihr Vater gestorben ist; wie ihre Schwester gegen ihre Mutter rebellierte. In ihrem nüchternen Stil erzählt Nelson selbst von ihren eigenen gescheiterten Beziehungen, gewaltsamen Sexfantasien und Albträumen. »Es mag der »Gerechtigkeit« genüge getan worden sein, doch in diesem Moment ist der Gerichtssaal nichts als ein Raum voller gebrochener Menschen«, schreibt Nelson, und man kommt nicht umhin sich zu fragen, ob der Prozess der Familie wirklich geholfen oder nicht doch eher geschadet hat – und ob nicht vielleicht sogar beides möglich ist.

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Maggie Nelson
Die roten Stellen. Autobiographie eines Prozesses

Hanser Berlin: Berlin 2020
 224 Seiten, 23€

Manche der Rückblicke in die Vergangenheit mögen dabei wahllos oder als ablenkende Unterbrechung des Prozesses erscheinen, haben sie augenscheinlich wenig mit Janes Mord und dem Gerichtsverfahren zu tun. Doch das Gegenteil ist der Fall – der Mord an ihrer Tante spinnt einen roten Faden und vereint all diese Einschübe zu einem vollständigen Bild von Nelson und ihrer Familie. Jede dieser Szenen zeigt, welche extremen Auswirkungen die Tragödie auf ihre Familie hat und auch darauf, wer Nelson selbst als Person ist. Sie verdeutlichen, wie viele kaum verheilte Wunden von diesem Gerichtsverfahren wieder aufgerissen und wie viele verdrängte Erinnerungen wieder ans Licht gezerrt wurden. Mehr noch als mit der Beschreibung des eigentlichen Prozesses beleuchtet Nelson mit diesen Einschüben, wie ein Mord eine Familie prägen kann. Dabei legt sie es gar nicht darauf an, Fragen zu beantworten, sondern stellt sie; sich selbst, den Lesenden, der Gesellschaft. Wie misst man Verlust? Was gehört zu Trauer?

Die Grenze zwischen Verarbeitung und Voyeurismus

Man könnte behaupten, Nelson würde den Tod ihrer Tante voyeuristisch ausschlachten. Schließlich gibt sie Tagebucheinträge ihrer Tante wieder, schildert detailliert, wie ihre Leiche gefunden wurde, und beschreibt, wie sie obduziert wurde. Es wäre leicht zu unterstellen, dass jede private, jede grausame Einzelheit ans Licht gebracht wird, um die morbide Neugier der Lesenden zu befriedigen. Doch dieser Eindruck entsteht beim Lesen nicht. Statt es auf einen Schockeffekt anzulegen, nutzt Nelson diese Details, um zu zeigen, wie ihre Familie und sie selbst, aber auch Fremde – wie etwa die Frau, die Janes Leiche gefunden hat – von eben diesen Details betroffen sind.

Tatsächlich scheint es eher so, als wären die Lesenden nur zweitrangig. Das Buch erscheint vielmehr ein Instrument für Nelson zu sein, mit dem sie ihre Familiengeschichte aufarbeiten kann. Den Lesenden wird zwar ein Einblick in ihre Gefühlswelt gewährt, doch sie sind dort nur Gast. Sowohl Nelsons besondere Perspektive als Verwandte eines Mordopfers als auch der Stil, in dem sie ihre Geschichte verarbeitet, lassen Die roten Stellen: Autobiographie eines Prozesses zwischen anderen True Crime-Projekten oder autobiographischen Büchern hervorstechen. Es war daher höchste Zeit, dass auch deutschsprachige Lesenden endlich Nelsons Werk lesen können – 13 Jahre, nachdem die Originalausgabe veröffentlicht wurde.

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