Oh, Oreo

Fran Ross᾿ Roman Oreo verdient viel mehr Aufmerksamkeit wegen seiner Machart, der Superheldin Oreo und sprachlichen Spielen auf allen Ebenen. Man darf sich wundern und eine postmoderne Version der Theseus-Sage lesen. Lässt man sich darauf ein, kann man nur gewinnen.

Von Lisa Marie Müller

Bild: Privat

Der Titel ist nicht nur als Keks in aller Munde, Oreo kann auch abwertend schwarze Personen bezeichnen, die sich »weiße Verhaltensweisen« angeeignet haben. Diese Identität zwischen Zuschreibungen von außen wird durch die Heldin des Buches auf mehreren Ebenen abgebildet und letztlich genial gebrochen.

Ihr Name ist Oreo, und wie bei der Autorin selbst ist ihr Vater jüdisch und ihre Mutter schwarz. Es ist leicht, die Heldin mit ihrer Schlagfertigkeit und ihren Eigenarten zu mögen: »Oreo stand im Gang und betrieb, was sie in der U-Bahn immer betrieb: entweder Spekulation oder Komparatistik.« Während sie über die Anzahl der Menschen nachdenkt, die in einem Bundesstaat wie Denver wohl gerade Sex haben, hat sie ihren Spazierstock dabei und ist körperlich wie intellektuell gewappnet für alles, was da kommt. Es kommt: eine irrwitzige Vatersuche in New York, verpackt als absurder Schelmenroman mit comichaften Zügen.

Konstruiertheit

Als Oreos Eltern beschließen zu heiraten, sind beide Seiten der Familie nicht gerade begeistert: Mütterlicherseits kriegt Oreos Großmutter einen Herzinfarkt, und ihr Großvater, der schon immer etwas gegen Jüd*innn hatte, erstarrt zu einem halben Hakenkreuz. So tief sitzend und (literally) in den Körper eingeschrieben wird der Antisemitismus auf einer der ersten Seiten dargestellt.

Wie an dem Großvater erkennbar, geht es nicht um realistische Darstellungen, vielmehr um satirische Spitzen. Mit der Realität wird gespielt, viel, und mit schlauem Witz werden Vorkommnisse ins Groteske gezogen. Das macht das Buch aus und sehr viel Spaß. Gleichzeitig ist man sich der Konstruiertheit das ganze Buch über sehr bewusst: durch die Kapitelnamen, die die Geschichte immer wieder aufbrechen und einen Perspektivwechsel auf die Machart ermöglichen. Die Kapitel sind wörtlich zu nehmen und bilden sehr genau ab, was darauf folgt: Auf Am selben Abend folgt sechs Seiten später Am selben Abend ff. Dadurch wird die Leserin aus dem Erzählfluss immer wieder rausgeworfen und gezielt bei dem folgenden inhaltlichen Schwerpunkt wieder reingesetzt. Die Technik schafft paradoxerweise eine Art Draufblick auf die Erzählweise bei gleichzeitigem Versinken in genau das, was der Kapitelname beschreibt.

Ähnlich paradox und deshalb spannend ist eine am Anfang stehende Erläuterung zum Wetter. Sie passt auch zu einer auf Litlog in einer Kolumne geäußerten Feststellung, wie egal Wettertalk eigentlich ist und dass trotzdem nicht darauf verzichtet wird:

Wetter an sich kommt in diesem Buch nicht vor. An einigen Stellen tauchen flüchtige wettermäßige Hinweise auf. Ansonsten denken Sie einfach an eine Ihnen sympathische Jahreszeit. Sommer ist die sinnvollste für ein Buch dieser Länge. Auf die Weise muss auch niemand die Seiten auf die Beschreibung von Leuten verplempern, die sich den Mantel aus- und anziehen.

Dieser Bezug auf das gerade stattfindende Leseerlebnis, dieses Selbstreferenzielle, ist ein ganz eigener Stil, bei dem die Machart mitreflektiert und offengelegt wird. Das ist mutig und funktioniert hier durch das Herausnehmen und Umdrehen aller Konventionen. Teilweise muss man sich erstmal darauf einstellen. Aber ist man einmal drin, will man nicht mehr raus.

Gekonntes Sprachenwirrwarr

Oreos Großmutter Louise ist eine Figur, die sprachlich kaum zu fassen ist, in doppelter Hinsicht. Es ist eine Herausforderung, sie zu verstehen, aber wahrscheinlich geht es bei ihr gar nicht darum. Vielmehr bildet Louise eine Ausdrucksweise ab, die jede Rechtschreibung relativiert. Ihr Satzbau ist auf das Nötigste reduziert, Worte orientieren sich nur grob an Ausdrücken, wie sie im Duden stehen. Hat man das mal akzeptiert, kommt man hervorragend durch das Buch. Das Spiel mit lyrischen Einflüssen und Fantasiewörtern ist vielleicht Geschmacksache. Aber alle mit einem Grundinteresse an dadaistischen Collagen, linguistischen Fallstricken, nicht übersetzbaren Slangausdrücken, jiddischem Grundvokabular, gehobenem Akademikersprech sowie zahllosen grandiosen Neologismen kommen auf ihre Kosten. Klingt unübersetzbar? Es ist keine Frage, dass die Übersetzung anspruchsvoll war. Die Übersetzerin Pieke Biermann hat hier Großes geleistet. Neben der angemessenen Sensibilität gegenüber der sprachlichen Varietät schlüsselt sie im Glossar die jiddischen Wörter noch einmal auf.

macbook

Fran Ross
Oreo

Übers. von Pieke Biermann
dtv: München 2019
288 Seiten, 22,00€

Genial ist auch die (mal mehr, mal weniger) subtile Anpassung der Sprache, in der erzählt wird, an die jeweils erzählenden Figuren. Oreos Sprachlehrer Professor Mr. Benton gibt Sätze wie »Ich bin phonofundiert« von sich, die von der Erzählinstanz mit »räumt er logodialyrrhötisch ein« eingerahmt werden. Das lässt ein weiteres Mal die Grenzen von metatextuellen Bezügen zum gerade Gelesenen verschwimmen. Doch nicht nur sprachlich ist die Kreativität unübersehbar, auch manche Buchseiten zeugen von Einfallsreichtum: Sei es eine Skala vom Schwarzsein (1=weiß bis 10=schwarz) oder eine mehrseitig gestaltete Menükarte für das Abendessen von Oreos Großmutter mit je Gang sechs Gerichten zur Auswahl, z.B. Saumon poché à la Louise.

Keine Authentizität nötig

Oreos Vatersuche ist eine Anlehnung an die griechische Theseus-Sage. Der von Ross entworfene Theseus ist jedoch weiblich, jüdisch und schwarz. Wer nicht viel Ahnung von griechischer Mythologie hat, dem*der mag das bis zum Schlusskapitel Schlüssel für Schnellleser, Antikenferne etc. nicht mal auffallen. Trotzdem ist es interessant, im Nachhinein die Parallelen zu entdecken und sich die entsprechenden Szenen aus dem Buch (wieder) ins Gedächtnis zu rufen.

Fran Ross᾿ Debütroman Oreo wurde zuerst 1974 in den USA verlegt und anschließend von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Erst mit einer Neuauflage Anfang der 2000er erlangte das Buch 15 Jahre nach Ross᾿ Tod eine gewisse Bekanntheit. Oreo ist nicht gut, weil es authentisch ist, sondern weil es mit Authentizität spielt und das ganze Konzept hopsnimmt durch eine traumähnliche Superheldinnengeschichte, die für sich steht. Das Buch ist clever wie die Heldin Oreo und sprachlich herausragend komisch (im besten Sinne) wie ihre Großmutter Louise. Nach der Lektüre will man mehr und wird enttäuscht, weil es Ross᾿ einziger Roman ist.

Schlagwörter
, ,
Geschrieben von
Mehr von Lisa Marie Müller
Platz für Bi
Statt einer Lesung bringt der lockerleichte Abend zu Julia Shaws Bi neue...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert